Religiöser Neubeginn in der Hermann-Göring-Siedlung

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Im fränkischen Windsheim gründeten sich 1946 zwei bedeutende Jeschiwot…

Von Jim G. Tobias

In nahezu allen jüdischen Displaced-Persons (DP)-Lagern bildete die Gruppe der Gläubigen eine Minderheit. „Die Annahme, dass das erfahrene Leid bei den Menschen eine religiöse Wiederbesinnung auslöst, ist nicht zu erkennen“, stellte Koppel S. Pinson, Mitarbeiter der amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation „Joint“, nach dem Besuch zahlreicher DP-Camps in Deutschland enttäuscht fest. Doch nicht nur die Jahre der Verfolgung hatten deutliche Spuren hinterlassen und viele Juden in ihrem Glauben erschüttert, wie der Auschwitz-Überlebende, Rabbiner Emil Davidovic, in seinen Erinnerungen schrieb: „Wir haben dort nicht philosophiert und auch keine Theologie betrieben. Wir haben nur nachgedacht: Wie kann ich den heutigen Tag überleben?“ Wo das Überleben die Ausnahme und der Tod die Regel war, zweifelten daher viele Juden an der Existenz eines Gottes.

Obwohl schon vor dem Krieg eine zunehmende Säkularisierung in den osteuropäischen Gemeinden zu verzeichnen war, die sich in den jüdischen „Wartesälen“ fortsetzte, entwickelte sich in den Auffanglagern ein an den Buchstaben der Thora orientiertes Leben. „Mindestens eine Synagoge befand sich in allen Camps“, berichtet der Advisor on Jewish Affairs, Rabbiner Philip S. Bernstein, in einem zeitgenössischen Artikel, „in den meisten der großen Camps auch noch eine Mikwe.“

Als hervorragendes Beispiel für das Wiedererwachen der Religiosität steht das DP-Lager im fränkischen Windsheim. Anfang Juni 1946 hatte die UNRRA, eine von den Vereinten Nationen gegründete Hilfsorganisation, die ehemalige Hermann-Göring-Siedlung Überlebenden der Shoa zugewiesen. Wenig später zogen die ersten 400 jüdischen Displaced Persons dort ein. Weitere 1.000 Juden aus dem überfüllten Lager in Pocking (Niederbayern) folgten. Ende November 1946 verzeichnen die Statistiken eine Belegstärke von knapp 3.000 Bewohnern – darunter eine nicht unbedeutende Anzahl von Strenggläubigen.

Einem Report vom August 1946 ist zu entnehmen, dass sich etwa ein Drittel der Lagerbewohner der orthodoxen Glaubensrichtung zugehörig fühlte. Diese machten sich sogleich an den Bau einer Synagoge sowie eines Ritualbades. Pünktlich zu den hohen Feiertagen, die mit Rosch Haschana Ende September ihren Anfang nahmen, waren die Arbeiten abgeschlossen. Doch nicht alle Gläubigen fanden Platz in dem Gotteshaus. „Wir stellten weitere Räumlichkeiten, in denen gebetet werden konnte“, zur Verfügung, berichtete ein Joint-Mitarbeiter, „doch unglücklicherweise besitzen wir nur zwei Thora-Rollen. Sie reichen nicht aus!“ Es fehlte auch an weiteren wichtigen Ritualien, wie Gebetsmänteln, -Riemen und Sidurim (Gebetbüchern). Dennoch vermerkte der Report mit Genugtuung einen „Monat voller religiöser Aktivitäten“.

Fragebogen zu den religiösen Aktivitäten im Camp Windsheim
Fragebogen zu den religiösen Aktivitäten im Camp Windsheim. „Is do baj aich a Row (Rabbiner)?“, wird beispielsweise auf Jiddisch gefragt. Weitere Auskünfte hinsichtlich der Anzahl der Synagogen, Gläubigen und Thora-Rollen wurden erbeten. Repro: nurinst-archiv

Im Oktober 1946 nahm auch die Jeschiwa „Merkas Thora“ ihren Lehrbetrieb auf. Die Mitglieder dieser religiösen Hochschule stammten aus Litauen und hatten sich schon vor dem Krieg dem Studium von Talmud und Thora verschrieben. Aus dem sowjetischen Exil waren sie über Polen in die amerikanische Zone gekommen. Bis zu ihrer Auswanderung in die USA widmeten sie sich in Windsheim intensiv den heiligen Texten des Judentums. Kurz darauf kam es zur Gründung einer weiteren Jeschiwa. Die Talmudhochschule „Scheerit Haplejta“ unterstand dem charismatischen Rabbiner Jehezkiel Jehuda Halberstam, der als einer der wenigen großen chassidischen Gelehrten die Shoa überlebt hatte. Da Halberstam vor dem Krieg im rumänischen Klausenburg tätig war, nannte man die Schar seiner Schüler und Anhänger auch die Klausenburger Bewegung.

Zum Jahresbeginn 1947 konnten die Gläubigen im Windsheimer Lager neben den zwei Jeschiwot sechs Synagogen, ein Cheder, eine religiöse Grundschule für Jungen, eine Koschere Küche sowie eine Mikwe nutzen. Die kleine fränkische Stadt entwickelte sich zu einem der spirituellen jüdischen Zentren im Nachkriegsdeutschland. „Damit ist Windsheim möglicherweise der einzige Ort in Deutschland mit zwei Jeschiwot“, vermutete der Joint-Berichterstatter im Oktober 1945. „Eine der ungarischen und eine der litauischen Juden; außergewöhnliche Schulen für lernbegierige junge Männer.“

Talmud Thora Schule (Cheder) im DP-Camp Windsheim
Talmud Thora Schule (Cheder) im DP-Camp Windsheim, Repro: nurinst-archiv

Anfang 1948 emigrierten die Mitglieder der Jeschiwa „Merkas Thora“ über Frankreich in die Vereinigten Staaten. Die Talmudhochschule „Scheerit Haplejta“ bestand weiterhin, zählte Ende 1948 jedoch nur noch 22 Schüler. Ihr Ende war absehbar. Im Juli 1949 wurde das Windsheimer Lager aufgelöst. Nach Gründung des Staates Israel hatte die große Ausreisewelle eingesetzt. Viele Juden fanden eine neue Heimat im eigenen Land, andere emigrierten in die USA, nach Kanada oder Australien.

Der Autor arbeitet an einer Publikation über die Rolle der Orthodoxie in den jüdischen DP-Camps, wobei die religiösen Einrichtungen in Windsheim im Mittelpunkt stehen sollen.