Unterlassene Hilfeleistung

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Ein paar gemeingefährliche Gedanken…

Von Ramona Ambs

Kürzlich in der Straßenbahn. Vor mir in einem Vierersitz saßen zwei Leute, die  ganz allgemein über die Juden sprachen: Strippenzieher, Geld, Macht, das übliche antisemitische Repertoire flog akustisch durch die Bahn. Normalerweise mische ich bei sowas ein, zumindest, wenn es mich nicht persönlich betrifft, wenn also die Tiraden gegen Homosexuelle, gegen Ausländer oder Behinderte gehen, dann greif ich ein und sage deutlich, dass ich sowas nicht hören will… Aber wenn es mich persönlich betrifft, dann versagt mir manchmal die Stimme und der Mut. Deshalb habe ich nur zugehört. Und gewartet. Gewartet, ob sonst irgendjemand reagiert. Aber alles blieb still…

Unterlassene Hilfeleistung: Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten, möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe belegt. So steht es im Strafgesetzbuch. Paragraph 323c um genau zu sein.

Das ist ein hübscher Paragraph. Er sagt nämlich, dass wir alle miteinander füreinander verantwortlich sind. Das Problem dabei ist: gemeine Gefahr oder Not wird sehr juristisch interpretiert. Und damit sehr eng. Man kann nämlich niemanden der unterlassenen Hilfeleistung bezichtigen, der beispielsweise  bei eisiger Kälte an einer Gruppe Obdachloser vorbeigeht. Es ist auch, juristisch gesehen, keine unterlassene Hilfeleistung, wenn man bei allgemein rassistischen Sprüchen nicht widerspricht. Und man macht sich auch nicht strafbar, wenn man sich nachmittags im Trash-TV anschaut, wie Menschen vorgeführt werden, deren soziale Schwächen sich zu Unterhaltungszwecken eignen. Bei all diesen Dingen ist man fein raus. Man muss nicht helfen oder einschreiten.

Dabei wird dadurch auch das gesellschaftlich friedliche Miteinander erheblich gefährdet. Überhaupt halte ich einige gesellschaftliche Rohheiten für gemeingefährlich, weil sie zwar nicht akut Menschenleben bedrohen, aber doch den Nährboden bereiten, um  bestimmte Menschen abzuwerten. Weil sie die Gesellschaft vergiften. Und das ist dann eben doch gemeingefährlich. Nun geht es mir nicht darum, die Gesellschaft insgesamt auf die Anklagebank zu setzen, aber es geht mir darum zu zeigen, wo überall eigentlich Hilfe nötig wäre – und unterbleibt. Ich wäre deshalb dafür, den Begriff der unterlassenen Hilfeleistung den Juristen zu klauen und in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen. Ohne Strafandrohung natürlich, aber durchaus mit dem Hintergedanken, den Leuten aufzuzeigen, dass sie sich durch ihre Gleichgültigkeit, durch ihr Schweigen und ihre Passivität  gemeingefährlich verhalten. Denn das ist im weitesten Sinne: unterlassene Hilfeleistung.

Hauptproblem in dieser Gesellschaft sind nämlich nur zur einen Hälfte, diejenigen, die rassistische Sprüche machen, menschenfeindliche Politik propagieren oder elitäre Haltungen produzieren. Die andere Hälfte des Problems sind die Abnicker und Nichtssager. Die schweigende Mehrheit ist eine höchst unheimliche Masse. Eine Menge, die jedoch viel bewirken könnte, wenn sie aufhören würde, passiv zu sein. Wenn sie empathisch wäre, wenn sie helfen würde. Wenn sie widerspräche, wo Unrecht geschieht. Konkret würde das bedeuten, sich auch mal einzumischen, wenn zwei Leute in der Straßenbahn über die Juden, die Ausländer, die Dicken, die Arbeitslosen, die Schwulen usw. herziehen. Zu sagen, dass man sowas nicht hören will, weil es die Gesellschaft vergiftet. Das wäre dann tätige Hilfe gegen gemeingefährliche Gedanken. Und das würde diese Welt ein bißchen besser machen. Auch in einer kleinen einfachen Straßenbahn.

1 Kommentar

  1. „Ich wäre deshalb dafür, den Begriff der unterlassenen Hilfeleistung den Juristen zu klauen und in den allgemeinen Sprachgebrauch einzuführen. Ohne Strafandrohung natürlich, aber durchaus mit dem Hintergedanken, den Leuten aufzuzeigen, dass sie sich durch ihre Gleichgültigkeit, durch ihr Schweigen und ihre Passivität gemeingefährlich verhalten. Denn das ist im weitesten Sinne: unterlassene Hilfeleistung.“

    Genau, man sollte eigentlich die Leute erfassen und speichern. Vielleicht könnte man dann auch überlegen, ob es sinnvoll wäre, diese nach fünfmaligem nicht einmischen oder melden von Gesprächen -ohne Strafandrohung- zu einem Lichtermarsch aufzufordern.

    Eigentlich würde ein Verantwortlicher für gesellschaftliches Engagement in jedem Wohnblock und in jeder Straßenbahn die unterschwellige Gemeingefährlichkeit privater Gespräche unterbinden.

    Ach, gabs in diesem Land schon mehrmals. Dann ists ja gut. Immer bereit!

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