Günther Jikeli über die gegenwärtigen antisemitischen Ausschreitungen in Europa

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»Wenn Eltern um die Sicherheit und Zukunft jüdischer Kinder in Europa bangen, ist das kein gutes Zeichen – weder für Juden noch für Europa«…

Interview: Anna Blume
Vorabveröffentlichung aus der August-Ausgabe der HUch! – Zeitung der studentischen Selbstverwaltung

Juli 2014: Im österreichischen Bischofshofen muss ein Freundschaftsspiel zwischen dem französischen Erstligisten OSC Lille und dem israelischen Fußballverein Maccabi Haifa abgebrochen werden, nachdem ca. 20 junge Männer mit palästinensischen und türkischen Flaggen gewaltsam das Spielfeld stürmen. In Essen nimmt die Polizei zunächst 14 und eine Woche später nochmals vier Personen vorläufig fest, weil diese verdächtigt werden einen Anschlag auf die Alte Synagoge geplant zu haben. In Toulouse, Wuppertal und anderen Städten werden Brandanschläge auf jüdische Einrichtungen verübt, in Frankfurt am Main wird Mitgliedern der jüdischen Gemeinde mit Mord gedroht und in Gateshead im Nordosten Englands greifen vier Studenten einen Rabbi an. In Manchester wirft eine Gruppe junger Männer im jüdischen Viertel Eier und Dosen aus einem fahrenden Auto und schreit »Heil Hitler«. Auf pro-palästinensischen Demonstrationen in Paris und Berlin wird »Tod den Juden« und »Jude, Jude, feiges Schwein« offen skandiert und immer häufiger kommt es aus solchen Demonstrationen heraus zu gewaltsamen Übergriffen gegen Juden oder Menschen, die für solche gehalten werden.

Fast immer haben die Täter einen muslimischen Background, fast immer sind es junge Männer zwischen 15 und 35 Jahren. Welche Gemeinsamkeiten kannst Du bei diesen antisemitischen Ausschreitungen trotz der unterschiedlichen Migrationsgeschichten, ethnischen Hintergründe und landesspezifischen Einwanderungspolitiken in Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien ausmachen?

G.J.: Die Welle von offen antisemitischen Plakaten, Skandierungen und vereinzelt sogar tätlichen Angriffen gegen Juden, Synagogen und »jüdische Geschäfte« im Zuge der pro-Palästina Proteste im Sommer 2014 in vielen Städten Europas ist in dieser Dimension neu. Nicht ganz so neu, aber dennoch erschreckend ist, dass die »pro-Palästina« Demonstrationen sich meist als pro-Hamas und anti-Israel Demos entpuppten. Anmelder waren oft palästinensische Vereinigungen, islamistische Gruppierungen und Die Linke. Offener Hass gegen Juden wurde in der Tat häufig von Menschen mit muslimischem und insbesondere arabischem Hintergrund geäußert. »Allah Akbar!« wurde auf vielen dieser Demonstrationen zum Schlachtruf gegen Israel und gegen »die Juden«. Man sollte sich fragen, warum? Wer genau sind die Täter und warum machen sie das?

Das alte Bild von Juden als Kindermördern ist wirkmächtig und wirkt hier emotionalisierend. Damit der heutige Krieg zwischen Israel und der Hamas aber derart interpretiert wird, muss bereits ein entsprechendes Interpretationsschema, d.h. ein antisemitisches Weltbild vorhanden sein, auch wenn die einseitige Berichterstattung zum Nahostkonflikt diese Interpretation erleichtert oder sogar nahelegt. Die israelische Armee ist nicht gleichzusetzen mit »den Juden« und es ist nicht die israelische Armee, die vorsätzlich auf Zivilisten schießt, sondern die Hamas und das aus Wohngebieten, Krankenhäusern, Schulen und Moscheen. Ein antisemitisches Weltbild ist also bei vielen der Demo-Teilnehmer vorhanden. Einige sind beeinflusst von Islamisten, wie man an Fahnen (inkl. Hamas-Fahnen), den teilnehmenden Organisationen und »Allah Akbar« -Rufen unschwer erkennen kann. Dass es unter Islamisten viele Antisemiten gibt bzw. dass islamistische und antisemitische Ideologien eng zusammenhängen, sollte nicht wundern und ist empirisch belegt. Islamisten haben zudem noch ein starkes »Argument«, dass sie ungeniert nutzen: Bestimmte Koranverse rufen zur Feindschaft gegen Juden (und Christen sowie »Ungläubige«) auf. Bei einer wortwörtlichen Koranauslegung, die nach wie vor weit verbreitet ist, gilt das als Beweis, dass Gott die Juden verdammt. Der Erfolg und Einfluss der Islamisten auch in Europa ist sicherlich einer der Gründe, weshalb in Umfragen Menschen, die sich als Muslime definieren, wesentlich häufiger antisemitischen Statements zustimmen als nicht-Muslime. Was natürlich nicht heisst, dass alle Muslime Antisemiten sind.

Welche Unterschiede sieht Du, beispielsweise hinsichtlich der Qualität der Ausschreitungen, der jeweiligen Reaktionen von staatlicher und zivilgesellschaftlicher, ja vielleicht sogar muslimischer Seite?

G.J.: Zu pogromartigen Stimmungen wie dies vereinzelt in Frankreich der Fall war, ist es in der Bundesrepublik zum Glück nicht gekommen. Die jüngsten Ereignisse haben aber dazu geführt, dass Pogrome auch in anderen Ländern Europas wieder vorstellbar werden. Der offene Antisemitismus, wie er sich im Juli bei den Demonstrationen oder gar bei den dschihadistischen Anschlägen in Brüssel im Mai 2014 im jüdischen Museum und in Toulouse im März 2012 in der jüdischen Schule gezeigt hat, wird zum Glück klar von Seiten der Politik, in den Medien und auch von einigen Repräsentanten muslimischer Communities verurteilt. Damit die antisemitische verbale und physische Gewalt nicht weiter ansteigt, muss jetzt allerdings mehr getan werden. Sicherheitsmaßnahmen müssen verbessert werden, Antisemitismus in jeglicher Form einschließlich des Antizionismus muss geächtet werden und Aufklärung und Bildung müssen so ausgerichtet werden, dass sie antisemitischen Welterklärungen vorbeugen. Außerdem müssen die Täter und der Zusammenhang zum Islamismus klar benannt werden. Das jedoch scheint Tabuthema zu sein. Der Psychoanalytiker Daniel Sibony spricht hier von einem narzisstischen Schuldgefühl als Ursache. In der »Postmoderne« und im »Postkolonialismus« sozialisierte Menschen meinen Schuld zu sein am heutigen Zustand muslimischer Gesellschaften und damit auch verantwortlich für die Lösung der dortigen Probleme. Diese narzisstische Überheblichkeit in westlichen Gesellschaften erschwert, eben weil sie laut Sibony Kritik am Islam zum Tabu erklärt, eine Auseinandersetzung von Muslimen mit fundamentalen Problemen muslimisch geprägter Gesellschaften, beispielsweise wie mit problematischen Textstellen in der heutigen Gesellschaft umgegangen werden soll, die als heilig gelten.

Nun sind muslimische Jungendliche und junge Erwachsene nicht die Einzigen, die sich antisemitisch äußern und antisemitische Straftaten begehen. Zugleich jedoch werden überdurchschnittliche viele und oft auch besonders gewalttätige Übergriffe von diesen begangen und dies auch nicht erst seit ein paar Wochen. Man denke beispielsweise an die brutale Folter und den Mord an Ilan Halimi in Paris 2006, an die Angriffe auf eine jüdische Tanzgruppe bei einem Hannoverschen Stadtfest 2010 oder die Anschlagsserie in Midi-Pyrénées 2012, bei der drei kleine Kinder und ein Lehrer einer jüdischen Schule erschossen wurden. Was ist das Spezifische am muslimischen Antisemitismus?

G.J.:Man muss hier unterscheiden zwischen Dschihadisten, die aus einer islamistisch-antisemitischen Motivation heraus Terroranschläge planen und ausführen und gewaltbereiten Jugendlichen, die von dieser Ideologie angezogen, beeinflusst und angestachelt sich im Mob oder auch allein auf der Straße stark genug fühlen, ihre Ressentiments gegen Juden auszuleben. Wie Du sagst, sind es längst nicht nur Menschen mit muslimischem Hintergrund, die sich antisemitisch äußern. Nach wie vor geht antisemitische Gewalt in Deutschland von Nazis und anderen Rechtsextremen, aber auch von Linken aus. Verbale Gewalt kommt aus allen Schichten und politischen Lagern. Die Ursachen sind vielfältig, bei Muslimen wie bei nicht-Muslimen. Dazu gehören Projektionen, vereinfachende Welterklärungen, autoritäre Strukturen und durch Kultur und Sprache tradierte Stereotype. Das Spezielle, das beim muslimischen Antisemitismus hinzukommt, ist der Bezug auf »den Islam« – identitär, theologisch, mit Fragmenten heiliger Schriften und auf die Geschichte des Islams bezogen. Am ersichtlichsten ist die Begründung von Judenfeindschaft mit bestimmten Koranstellen oder den im Islam ebenfalls heiligen Hadithen, Erzählungen über das Leben Mohammeds. In der Geschichte, angefangen mit den Eroberungen Mohammeds, gab es zahlreiche Beispiele der Unterdrückung und des Massenmords an Juden. Eine systematische Unterdrückung von Juden in muslimischen Ländern fand über Jahrhunderte statt – auch wenn Pogrome wesentlich seltener waren als im christlichen Mittelalter. Juden (und Christen) wurden als Menschen zweiter Klasse, behandelt d.h. mit anderen Rechten und Pflichten versehen als Muslime. Dies alles hat sich bei einigen dazu verfestigt anzunehmen, dass Juden prinzipiell Feinde der Muslime seien. Bei einer starken Identifizierung mit dem Kollektiv »der Muslime« führt das dann zu einer Übernahme dieser Vorstellung: »Juden sind meine Feinde.« Anlässe wie der Nahostkonflikt werden dann hierbei als Bestätigung gesehen.

Welche Rolle spielt das jeweilige soziale Umfeld für diesen? Ich denke da an muslimische Communities, Moscheeverbände, bestimmte Imame, Jugendclubs und andere soziale Einrichtungen… Natürlich aber auch an Satellitensender wie den Hisbollah nahen Al-Manar.

G.J.: Viele Moscheeverbände in Deutschland sind offiziell »gegen Antisemitismus«, was nicht heisst, dass man beispielsweise in ihren Buchläden keine antisemitischen Schriften findet. Hinzu kommt, dass die allerwenigsten bereit sind, antisemitische Vorstellungen ihrer Gemeindemitglieder zu kritisieren oder gar judenfeindliche Texte im Koran und anderen heiligen Schriften kritisch zu interpretieren. Der Antizionismus dient nach wie vor oft als Deckmantel für Antisemitismus, ebenso wie eine Parallelisierung von so genannter »Islamophobie« und Antisemitismus. Eine Ausnahme bilden oft alevitische Verbände mit einer sehr liberalen Koranauslegung. Bei dem in vielen Bundesländern jetzt sukzessive eingeführten Islamunterricht sollte sehr genau hingeschaut werden, welches Bild vom Islam vermittelt wird. Problematische Textstellen müssen angesprochen und kontextualisiert werden, ansonsten sind Islamisten glaubwürdiger, die auf diese Textstellen als Wort Gottes pochen. Wesentlich relevanter für die Verbreitung antisemitischer Vorstellungen ist aber das soziale Umfeld, Freunde und Familienmitglieder. Leider konnte in soziologischen Studien festgestellt werden, dass sich in bestimmten sozialen Kreisen eine antisemitische Norm gebildet hat, d.h. Judenfeindschaft wird als normal angesehen und jemand der oder die sich gegen Antisemitismus ausspricht oder negativen Vorstellungen über Juden widerspricht, bildet eine Ausnahme. Antisemitismus als Norm schlägt sich auch in der Sprache nieder, beispielsweise in der Verwendung von »Jude« als Schimpfwort. Diese selbstverständliche Ablehnung alles Jüdischen findet sich nicht nur unter Menschen mit muslimischem Hintergrund, aber eben auch. Eine Zustimmung zu antisemitischen Statements ist unter Muslimen wesentlich häufiger zu finden, als unter nicht-Muslimen, wie zahlreiche Studien auch unter Berücksichtigung von Faktoren wie sozialer Schicht, Bildung, Migration, etc. belegen. In islamistischen Organisationen nahestehenden arabischen und türkischen Medien inkl. der Filmindustrie, ist Antisemitismus zudem keine Seltenheit und trägt ebenfalls zu dessen Verfestigung bei.

In der wissenschaftlichen Forschung werden die aktuellen Vorfälle häufig heruntergespielt. So sehen einige Antisemitismusforscher beispielsweise weder eine Veränderung des Antisemitismus noch ein lawinenartiges Anwachsen in Deutschland.Zugleich jedoch liest man von tausenden französischen Juden, die lieber »lieber in Israel im Bunker als am Boulevard in Paris« ((http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/juden-aus-frankreich-wandern-wegen-antisemitismus-nach-israel-aus-a-982388.html)) leben und von deutschen Juden, für die »(…) nicht mehr viel (fehlt), bis wir das Gefühl bekommen werden, es wäre besser unsere Koffer zu packen.« ((http://www.rp-online.de/nrw/panorama/jüdisches-leben-in-nrw-drohungen-gegen-kindergarten-und-synagoge-aid-1.4411451)) Wie beurteilst Du die aktuellen Entwicklungen? Kann man von einer neuen Qualität antisemitischer Gewalt sprechen und falls ja, welche Ursachen würdest Du für diese ausmachen?

G.J.: Die antisemitischen Vorfälle haben eine neue Dimension erreicht, spätestens mit dem Terroranschlag auf die jüdische Schule in Toulouse. Die Auswirkungen auf jüdische Communities in ganz Europa sind erheblich. Bis zu dem Anschlag haben sich viele Eltern gesagt: »Wenn der Antisemitismus in den öffentlichen Schulen zu stark wird, können wir unsere Kinder ja auf eine jüdische Schule schicken, dort sind sie sicher.« (Der zunehmende Antisemitismus war in vielen Fällen in Deutschland und Frankreich ein Grund, weshalb die Anmeldungen in jüdischen Schulen stark stiegen.) Dieses Gefühl der Sicherheit in jüdischen Einrichtungen ist nun nicht mehr der Fall, auch wenn die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. ((Dies belegt sehr deutlich eine Umfrage im Auftrag der Fundamental Right Agency der EU von November 2013, http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2013-discrimination-hate-crime-against-jews-eu-member-states-0_en.pdf)) Wenn Eltern um die Sicherheit und Zukunft jüdischer Kinder in Europa bangen, ist das kein gutes Zeichen – weder für Juden noch für Europa. Der Anschlag in Brüssel auf das jüdische Museum, ein europaweiter Anstieg antisemitischer Gewalt in den letzten 15 Jahren und jetzt der offene und in Gewalt umgesetzte Antisemitismus auf der Straße in zahlreichen Städten verstärkt dieses Unsicherheitsgefühl.

Oftmals wird muslimischer Antisemitismus mit Verweis auf die Diskriminierungserfahrungen der Täter oder den »Nahostkonflikt« und einer angenommenen Identifizierung mit den Palästinensern entschuldigt oder aber aus Angst davor, Diskriminierungen zu schüren, erst gar nicht thematisiert. Gelegentlich werden sogar antisemitische Übergriffe nicht zu Anzeige gebracht, weil die Opfer die strafrechtlichen Konsequenzen für den Täter fürchten. Wäre es statt dieses Paternalismus‘ nicht angebrachter muslimische Antisemiten ernst zu nehmen, sowohl mit dem was sie sagen und tun als auch als Subjekte, die weder als Antisemiten geboren noch dazu verdammt sind, solche zu bleiben? Und hätte nicht hier genau wissenschaftliche Forschung wie auch soziale Arbeit anzusetzen?

G.J.: Dem kann ich so nur zustimmen. Es fällt nach wie vor vielen schwer, darunter auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, zu sehen, dass es tatsächlich auch heute noch Antisemiten gibt. Die können trotzdem sympathische Seiten und selbstverständlich auch ihre eigenen Probleme haben. Wenn jemand aber Juden beschimpft oder deren Tod wünscht, denn darauf darauf läuft der moderne Antisemitismus hinaus, dann sollte man das ernst nehmen und nicht reflexartig nach Entschuldigungen suchen.

Vielen Dank für das Interview.

Günther Jikeli ist Fellow am Centre nationale de la recherche scientifique, Paris, sowie am Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam. Er ist Autor von »Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa« (Klartext 2012) und Mitherausgeber von »Umstrittene Geschichte – Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich« (Campus 2013).