Hamburg: Attackierte Mahnwache

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Eine Mahnwache für die drei am 12. Juni nahe Hebron entführten israelischen Jugendlichen Eyal Ifrach, Gilad Scha’er und Naftali Frenkel wurde in Hamburg am 20. Juni gestört. Am 30. Juni wurde es zur schrecklichen Gewissheit: Die Leichen der drei erschossenen Jugendlichen wurden gefunden. Am Tag darauf wurde der palästinensische Junge Mohammed Abu Chedair ermordet. Israels Polizei verhaftete vier Tage darauf ultranationalistische Israelis, die den Mord aus Rache begangen haben sollen. Über Israel gehen vom Gazastreifen aus gestartete Raketen nieder, von denen die meisten mit dem Abwehrsystem Iron Dome abgefangen werden können, Israel bombardiert mit der Luftwaffe Raketenabschussstellen im Gazastreifen. Über der Trauer für die ermordeten Jugendlichen und trotz der Eskalation im Nahen Osten sollte nicht vergessen werden, wie missgünstig in Deutschland während der Entführung berichtet wurde. Und wie eine Mahnwache für die drei Jungs aus Israel als Provokation empfunden und attackiert wurde…

Gaston Kirsche, Hamburg

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) Hamburg und das Netzwerk Hamburg für Israel riefen für den 20. Juni im Rahmen einer bundesweiten Solidaritätsaktion zu einer Mahnwache in der Innenstadt der Hansestadt am belebten Jungfernstieg auf – mit dem Ziel, dort an das Schicksal der drei von der Hamas entführten Jugendlichen Eyal Ifrach, Gilad Scha’er und Naftali Frenkel zu erinnern. Etwa 35 Teilnehmende hielten israelische Fahnen und handgeschriebene Plakate vor sich mit dem Slogan: Bring Back Our Boys. „Eyal, Gilad und Naftali sind schon seit über einer Woche in der Gewalt von Terroristen, und noch immer gibt es kein Lebenszeichen, was uns sehr beunruhigt“, erklärte der Organisator Thomas Mayer von Hamburg für Israel e.V.

Mahnwache BringBackOurBoys, 20. Juni 2014

Aber auch bei diesem Anlass erregte in Hamburg einmal mehr das Zeigen von israelischen Fahnen Protest: Die Palästina AG von Attac Hamburg, die Regionalgruppe der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft (DPG) und Andere, „darunter zwei israelische Juden“, wie Eva Lehmann von der DPG gegenüber dem Autor hervorhob, organisierten eine Kundgebung am gleichen Ort, um „auf die palästinensischen jugendlichen Gefangenen in israelischer Administrativhaft und die Geiselnahme der palästinensischen Gesellschaft aufmerksam zu machen“. Zirka 15 Personen nahmen an deren Kundgebung teil, laut Eva Lehmann „etwa 10 Meter entfernt“ von der Mahnwache für Eyal Ifrach, Gilad Scha’er und Naftali Frenkel. Denn es sei „kein ‚ Gegenprotest‘ zur Mahnwache“ gewesen.

Teilnehmende der Mahnwache für die drei entführten israelischen Jugendlichen schildern dass anders: „Kaum 10 Minuten nach dem Beginn der Mahnwache tauchte ein erster Gegendemonstrant auf“, so Alexei Pavlovic: „Er hatte eine anscheinend häufiger getragene und ausgeblichene Weste mit der Aufschrift ‚Boycott Apartheid Israel‘ an, trug ein Pappschild mit der Botschaft ‚Israel entführt Kinder täglich‘ und spazierte vor uns auf und ab.“ Der forsche Gegendemonstrant ist öfter mit antiisraelischen Parolen in der Hamburger Innenstadt unterwegs. Er gehöre zur Palästina AG von Attac Hamburg, so der Mahnwachenteilnehmer Waldemar Pabst, die Palästina AG dagegen bestreitet, dass er Mitglied ihrer AG sei. In jedem Fall agierte er im Kontext der Kundgebung für palästinensische Gefangene.

Ein 86-jähriger Mahnwachenteilnehmer sprach den Träger der Boykottweste auf die antiisraelischen Slogans an. „Der Angesprochene fing unvermittelt an, den Mann an den Kleidern zu zerren, schleuderte ihn auf den Boden, riss ihm die Brille vom Gesicht und ließ sie anschließend auf der Straße zerschellen“, auch nach der Tochter des alten Mannes, die ihrem Vater helfen wollte, trat der Angreifer, schildert Alexei Pavlovic die Attacke: „Ich bin dem Verletzten, der nicht selbstständig vom Boden aufstehen konnte, sofort zur Hilfe geeilt und habe, zusammen mit seiner Tochter und seiner Enkelin, erste Hilfe geleistet.“

Marie Dominique Vernhes, eine langjährige Aktivistin der Palästina AG von Attac Hamburg, verwies mich auf Nachfragen zum Geschehen auf eine Erklärung auf der Internetseite von Attac. Dort steht zwar nicht, warum sie ausgerechnet direkt neben der Mahnwache für die drei entführten israelischen Jugendlichen demonstrieren wollten, die Palästina AG sieht aber die Schuld an der Eskalation bei der Mahnwache: „Als wir zum Ort unserer Demonstration gingen, sind mehrere pro-israelische Demonstranten auf uns zugekommen, sie haben uns umkreist und uns als Antisemiten, Faschisten usw. beschimpft.“ Die AG Palästina von Attac Hamburg verurteile jede Form von Gewalt „bedauert den Vorfall und wünscht dem alten Herrn schnelle Besserung. Die AG Palästina steht für eine gewaltfreie, offene Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Kritik an der Politik des Staates Israel ist kein Antisemitismus!“ Die Pauschalität, mit der so die Möglichkeit von Antisemitismus bei der Kritik des jüdischen Staates negiert wird, ist erstaunlich – eine recht pauschale, geschichtsvergessene Kritikabwehr. Und genau am Ort der Mahnwache für die drei entführten israelischen Jugendlichen selbst demonstrieren zu wollen, ist für Attac Hamburg offensichtlich ein voll gewaltfreier Beitrag zu einer „offenen Debatte“. Ist wohl reiner Zufall, dass sich daraus eine Störung und ein Angriff auf die Mahnwache entwickelt haben. Die AG Palästina von Attac Hamburg – die reine Unschuld.

Auch Eva Lehmann von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft sieht auf Nachfrage des Autors die pro palästinensischen AktivistInnen als die eigentlichen Opfer: „Wir alle wurden aufs übelste beschimpft – Faschisten, Nazischweine, Antisemiten – und einem unserer Teilnehmer wurde ein Plakat vom Rücken gerissen und er wurde bedroht, einer Teilnehmerin wurde ein Pappschild ins Gesicht geschlagen.“

Dass klingt nach Schutzbehauptungen, um die Vorwürfe der Mahnwachenteilnehmenden abzuwehren. Die Schilderung des Mahnwachenteilnehmenden Alexei Pavlovic zum Angriff auf den gebrechlichen alten Mahnwachenteilnehmer ist dagegen sehr genau: „Währenddessen ist eine weitere Gegendemonstrantin zu uns gelaufen und hat die Tochter aggressiv beschimpft und körperlich bedrängt. Der alte Mann hatte mehrere blutige Kratzer in der linken Gesichts- und Vorderkopfhälfte und starke Schmerzen in der linken Hüfte, so dass er sein Bein nicht belasten konnte. Deswegen musste ein Rettungswagen gerufen werden“. Ein weiterer Teilnehmer: „Nicht nur, dass sich jene Gruppe sehr dicht neben uns aufbaute und antiisraelische Slogans skandierte, auch wurde der alte Herr, der über die Slogans reden wollte, geschlagen und gestoßen. Unfassbar!“

Obwohl so ein jüdischer Mahnwachenteilnehmer in Folge der Störung der Solidaritätsbekundung mit den drei entführten israelischen Jugendlichen krankenhausreif geschlagen wurde, sorgte dies nur für wenig Aufregung in der Stadt. Dabei musste ein Rettungswagen gerufen werden, es wurden Anzeigen erstattet, es gab einen Polizeibericht: Aber kaum Medienecho. Trotz der Erklärung „Antisemitischer Übergriff auf Mahnwache in Hamburg“ des veranstaltenden Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Hamburg. „Wir wollten unsere Solidarität mit drei verschleppten Jugendlichen ausdrücken. Dass es dabei zu seinem solchen unvermittelten antisemitischen Angriff auf einen Teilnehmer unserer Mahnwache gekommen ist, schockiert uns sehr“, erklärte Ina Dinslage, Sprecherin des Jungen Forums: „Bemerkenswert ist übrigens, dass dieses offen rassistische Delikt von Linken begangen wurde.“ Ina Dinslage meint: „Attac bewegt sich hier auf braunem Terrain.“ Wenn, wie Attac behauptet, der unmittelbare Angreifer nicht zur Palästina AG von Attac Hamburg gehört, bleibt doch die Frage, wieso er aus der propalästinensischen Kundgebung heraus agieren konnte und seinem aggressiven Angriff nicht Einhalt geboten wurde, warum er im Gegenteil sogar von einer Teilnehmerin der Kundgebung der sich als gewaltfrei deklarierenden Palästina AG unterstützt wurde. Wie die Polizei vorgeht, ist den Veranstalterinnen der Mahnwache nicht bekannt: „Zum Stand der Ermittlungen kann ich Ihnen nichts sagen“, so Ina Dinslage gegenüber dem Autor. Und „es ist der Wunsch der Familie, dass wir uns nicht über den Gesundheitszustand des Opfers äußern“, wie Dinslage auf Nachfrage des Autors erklärte.

Kaum öffentliche Resonanz gab es, als Dieter Graumann vom Zentralrat der Juden in Deutschland den Angriff als „äußerst besorgniserregend“ verurteilte – was in der „Jüdischen Allgemeinen“ stand, aber nicht weiter aufgegriffen wurde. Jüdische Einrichtungen standen ziemlich alleine da mit Ihrer Solidarität: „Die Jüdische Gemeinde hat ihr Bedauern und ihre Solidarität ausgedrückt“, so Ina Dinslage am 10. Juli, bis wohin ja eigentlich genügend Zeit war, gegenüber dem Autor: „Ansonsten gab es seitens Hamburger Institutionen keine Reaktionen auf den Übergriff.“

Die Botschaft Israels erklärte: „Es ist nicht überraschend, dass der Angreifer ein Befürworter des Boykotts gegen Israel ist. Im Namen der Kritik und unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit meinen einige Radikale aggressiv gegen jeden auftreten zu dürfen, der auf Seiten des Staates Israel steht.“ Die Botschaft fordert vom deutschen Staat Schutz für Solidaritätsveranstaltungen mit den drei entführten Teenagern. Dabei sind die Hamburger GegendemonstrantInnen für deutsche Verhältnisse weder radikal noch isoliert: „Die Passanten waren interessiert unsere Meinung zu hören und positiv uns gegenüber eingestellt – mehrere haben sich uns angeschlossen“, so Eva Lehmann von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft Hamburg, die gegenüber dem Autor auch eine neue Aktivität ankündigte: „Wir werden zu einer Mahnwache für die palästinensischen Gefangenen aufrufen.“