Wo deutsche, österreichische, russische Kaiserinnen und jüdische Kinder sich erholten

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Ein religiöses Children’s Center im hessischen Kurort Bad Nauheim…

Von Jim G. Tobias

Im Frühjahr 1947 traf sich der US-amerikanische Rabbiner Samuel Schechter mit dem zuständigen Direktor der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) und regte die Gründung eines religiösen Kinderheims in der einst exklusiven Bäderstadt des europäischen Hochadels an. Schnell einigte man sich: Die US-Militärregierung beschlagnahmte das leerstehende Gebäude der vormaligen „Israelitischen Kinderheilstätte“, in dem während der NS-Zeit die Hitler-Jugend einquartiert war. Mit Hilfe der jüdisch-orthodoxen Organisation Vaad Hatzala (Rettungskomitee), einer Vereinigung von amerikanischen und kanadischen Rabbinern wurde das Haus renoviert und nun als „Children’s Home“ für die ersten 85 Jungen und Mädchen eröffnet. Der Alltag der Kinder war streng nach den Vorschriften der Thora ausgerichtet – die Jungen studierten religiöse Texte, es wurde gebetet, gelernt und man befolgte die Kaschrut, die jüdischen Speisevorschriften.

Im Gebäude der ehemaligen „Israelitischen Kinderheilstätte“ war ab 1947 ein religiöses Kinderheim untergebracht. Repro: Sammlung Monica Kingreen
Im Gebäude der ehemaligen „Israelitischen Kinderheilstätte“ war ab 1947 ein religiöses Kinderheim untergebracht. Repro: Sammlung Monica Kingreen

Da die Jahre der nationalsozialistischen Verfolgung deutliche Spuren hinterlassen hatten und viele Juden in ihrem Glauben erschüttert waren, fragten sich nicht wenige, wo Gott gewesen sei, als das Überleben die Ausnahme sowie der Tod die Regel war und Millionen in den Gaskammern erstickten. Dennoch entwickelte sich inmitten der Gemeinschaft der Shoa-Überlebenden ein an den Buchstaben der Heiligen Schriften orientiertes jüdisches Leben. Für eine nicht zu übersehende Minderheit war es ein elementares Bedürfnis, die religiösen Gebote wieder einzuhalten, die vor der Entrechtung durch das NS-Regime selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört hatten. Unterstützung erhielten die Gläubigen vom Vaad Hatzala, der mitten im Land der Täter ein außergewöhnliches Programm umsetzte, indem er insbesondere die jüdische Jugend im Glauben stärkte und ihr einen gottgefälligen Lebensweg innerhalb des jüdischen Volkes aufzeigte. Dazu gründete die Hilfsorganisation der thoratreuen Juden fünf religiöse Kinderheime, 15 Jeschiwot (Talmud-Hochschulen), 54 Talmud-Thora-Schulen, 24 Koschere Küchen sowie ein Altersheim im besetzten Nachkriegsdeutschland.

Das religiöse Kinderheim in Bad Nauheim bestand jedoch nur einige Monate. Der Grund dafür war ein Kompetenzgerangel mit der UNRRA und der US-Militärregierung hinsichtlich der Ausrichtung und Leitung des Hauses. Die beiden Behörden waren der Meinung, dass nur sie für die Verwaltung der Einrichtung zuständig seien und zudem neben der bloßen religiösen Erziehung weitere soziale Aufgaben zu erfüllen seien. Daher erweiterte sich das Kinderheim zu einem Zentrum für unterernährte und erholungsbedürftige jüdische Kinder, vornehmlich aus den hessischen Displaced Persons Camps wie etwa Zeilsheim, Eschwege oder Wetzlar. „Diese Kinder können nach Bad Nauheim geschickt werden, wo sich jetzt das ,Nutrition Center’ befindet“, heißt es in einem Bericht. „Dort werden die Kinder besser ernährt werden, bis zu der Zeit, in der sie ihr Normalgewicht erreichen.“

Ab Sommer 1948 konnten außerdem jüdische Schüler ihre Ferien im Childrens’s Center verbringen. Der religiöse Charakter des Hauses wurde gleichwohl beibehalten, wie einem Report zu entnehmen ist: „Nach einem anstrengenden Schuljahr bietet Bad Nauheim Erholung für orthodoxe Kinder in einem religiösen Umfeld“, notierte der Berichterstatter. Das jüdische Heim wurde im April 1949 geschlossen, die kleinen Bewohner und ihre Betreuer wanderten nach Israel oder Übersee aus. „Für die überlebenden Kinder war das Erholungsheim von wichtigem sozialen Wert“, lobte ein zeitgenössischer Bericht die Einrichtung und sprach all denjenigen, „welche zum Wohle dieser Heilstätte ihren Beitrag leisteten“, uneingeschränkte Anerkennung aus.

Rabbiner Nathan Baruch (4. v. l.), der Direktor des Vaad Hatzala in Deutschland, zu Besuch in Bad Nauheim. Repro: nurinst-archiv
Rabbiner Nathan Baruch (4. v. l.), der Direktor des Vaad Hatzala in Deutschland, zu Besuch in Bad Nauheim. Repro: nurinst-archiv