Reaktionär-faschistische Schulboykott-Kampagne in Frankreich

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Finstere Zeiten brechen herein. Weinende Kinder sitzen auf Schulbänken und wissen nicht mehr, ob sie Jungs oder Mädchen sind. Knaben müssen sich mit Röckchen und Kleidchen verkleiden und sind darob so verunsichert, dass sie auf lange Zeit traumatisiert bleiben. Böse Erwachsene kommen in die Schulklassen und veranstalten seltsame Spiele mit den Kindern, gegenüber denen die altbekannten „Doktorspielchen“ verblassen. In Rollenspielen müssen sie Masturbation, homosexuelle Handlungen und andere unbekannte Dinge erlernen. Und wenn sie nach Hause kommen, wissen sie nicht mehr, ob es Väter oder Mütter sind, die auf sie warten…

Von Bernard Schmid, Paris

Ungefähr so malen sich die Personen, die in den letzten Wochen eine Panikkampagne in Frankreich verbreiteten – und damit in den Medien und der Öffentlichkeit erhebliche Aufmerksamkeit hervorrufen konnten -, die Gegenwart oder die nahe Zukunft im öffentlichen Schulwesen vor. Am 24. und am 27. Januar 14 (je nach Örtlichkeit) fand die erste Auflage eines Schulboykotts statt, der seinen Initiatorinnen und Initiatoren zufolge nun allmonatlich je für einen Tag stattfinden soll. Die Kampagne wurde offiziell auf den Namen Journée de retrait de l’école, abgekürzt JRE, getauft. Das bedeutet so viel wie „Tag des Rückzugs aus der Schule“: Die Eltern sind dazu aufgerufen, ihre schulpflichtigen Kinder für einen Tag aus dem Unterricht zu nehmen. Es geht vor allem um Grundschulklassen.

Auf landesweiter Ebene betrachtet, hatte die Kampagne im Januar d.J. nur punktuell Erfolge. Es gibt insgesamt 40.000 Schulen in Frankreich, und rund 100 von ihnen waren stark beeinträchtigt. Dies bedeutet, dass dort Abwesenheitsquoten im zweistelligen Prozentbereich festzustellen waren. Aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass andernorts jeweils einzelne Eltern ihren Unterrichtsboykott relativ unbemerkt durchführten. Die Erfolge der Boykottkampagne sind geografisch stark konzentriert. Sie betreffen vor allem den Großraum Paris, den Raum Lyon und den Einzugsbereich von Strasbourg. Aus dem von „sozialen Brennpunkten“ geprägten Osten des Ballungsraums Lyon berichteten allerdings Mitglieder der linken Bildungsgewerkschaft SUD-Education gegenüber dem Verf. dieser Zeilen, an manchen Schulen seien am betreffenden Tag Fehlquoten von 20 bis 40 Prozent zu verzeichnen gewesen.

Eine zweite Auflage des Schulboykott-Tags im Februar 14 war eher ein Schlag ins Wasser und machte kaum von sich reden. Allerdings konnte er auch nicht am vorgesehenen Datum (im Vier-Wochen-Rhythmus) stattfinden, denn in den letzten beiden Februarwochen befand sich ein Großteil Frankreichs in den Schulferien. Der Fortgang der Ereignisse bleibt abzuwarten.

Gräuelvision Rechtsgleichheit

Hintergrund des Aufrufs dazu, die Kinder für einen bestimmten Tag aus der Schule nehmen, ist die Einführung des so genannten „ABCE-Egalité-Programms“. Es handelt sich um Unterrichtseinheit für Grundschülerinnen und -schüler, die ihnen die Rechtsgleichheit zwischen den beiden Geschlechtern vermitteln soll. Derzeit wird dieses Unterrichtsprogramm an insgesamt 600 Schulen probeweise eingeführt. Bei der derzeit erprobten Unterrichtseinheit geht es um so ausgesprochen harmlose Dinge wie darum, dass Kinder ein Märchen lesen, in welchem ein stolzer und charmanter Prinz eine schöne und holde Prinzessin errettet, die in einem Turmverlies schmachtend auf ihn wartet. Daraufhin sollen die Grundschulkinder sich fragen, ob nicht etwa auch die weibliche Protagonistin einmal die aktive Rolle im Märchen übernehmen könnte.

Absolut harmlos also, doch in Gerüchten wird etwas Anderes daraus gemacht: „Unterricht in Masturbation“, „Werbung für Homo- und Transsexualität“ – all solche Behauptungen und noch weitere kursierten in SMS-Botschaften, die an Eltern gerichtet wurden. Auch wurde behauptet, die Kinder sollten zu „Versuchskaninchen für das sozialistische Experiment der Begründung eines Neuen Menschen“ gemacht werden. Im November 13 wurden in Paris bei einer Aktion gegen ein Büro der Bildungsgewerkschaft FSU, die die umstrittenen Programme gegen reaktionäre und anti-aufklärerische Kritik verteidigt, ((Vgl. etwa http://www.visa-isa.org/node/21319)) Mäuse im Gewerkschaftslokal ausgesetzt. ((Vgl. dazu http://www.youtube.com/watch?v=1Et2vVOYTj4  und http://www.humanite.fr/social-eco/syndicalistes-face-au-defi-de-l-extreme-droite-558082)) Dies sollte angeblich darauf hinweisen, dass man dabei sei, die Kinder wie Labormäuse zu behandeln.

Die Gerüchte auf die Spitze trieb eine SMS-Kampagne im Raum Strasbourg, die folgende Behauptung zum Inhalt hatte: „Da kommen Juden in die Schulen und untersuchen das Geschlecht Ihrer Kinder.“ Die Telefonbenachrichtigung erhielten dort vor allem Eltern aus der dortigen türkischen Community. Beileibe nicht alle von ihnen glaubten daran, und viele Eltern kamen auch in die Schulen und fragten die Direktion oder die Lehrkräfte, ob das denn stimme, worauf sie über die wahre Situation unterrichtet wurden.

Im Hintergrund: der Berufs-Antisemit Alain Soral

Lanciert hatte die Kampagne der antisemitische Schriftsteller, Verleger  und Verschwörungstheoretiker Alain Soral mitsamt seinem Umfeld, insbesondere in Gestalt der vor kurzem zu Sorals Theorien „bekehrten“ früheren Linken und einstmaligen antirassistischen Aktivistin Farida Belghoul. Es ist nicht bewiesen, dass Belghoul direktes Mitglied von Alain Sorals Vereinigung Egalité et réconciliation (E&R, „Gleichheit und Aussöhnung“) ist, aber alle ihre Veranstaltungen und Kampagnen werden durch die Webseite von E&R aktiv beworben. 1978 war die damals junge Frau zunächst Mitglied in der Studierendenvereinigung der Französischen kommunistischen Partei, UEC, und 1983/84 war sie eine der Protagonistinnen der Bewegung von Jugendlichen aus der zweiten Generation der nordafrikanischen Immigration für Rechtsgleichheit. Nach zwei Jahren kehrte sie ihrem bisherigen Milieu allerdings enttäuscht und verbittert den Rücken, da sie beobachten musste, wie die damals regierende Sozialdemokratie unter François Mitterrand mit reichlich Geld die neu gegründete Vereinigung SOS Racisme subventionierte und der sozialen Bewegung dadurch die Spitze abbrach. SOS Racisme rekrutierte ab etwa 1985 künftige Parteifunktionäre – wie den jetzigen Parteivorsitzenden der französischen Sozialdemokratie, Harlem Désir, damals Sprecher der Vereinigung -, veranstaltete Konzerte und entpolitisierte die Bewegung, indem sie kulturalisierende Folklore statt den Kampf für Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte.

So weit, so gut – nur driftete Farida Belghoul nach ihrem Bruch mit ihrem vormaligen Milieu selbst in eine fragwürdige Richtung ab. Inzwischen, Jahre später, scheint sie sich übrigens auch die „Erklärung“ von Alain Soral zu eigen gemacht zu haben: In dessen Version war SOS Racisme (u.a.) deswegen von Übel, weil die Organisation angeblich von Anfang an durch die „Union der jüdischen Studierenden in Frankreich“ (UEJF) mit aufgebaut worden sei. Seit Anfang der 2000er Jahre sind SOS Racisme und die UEJF, deren Spitzen sich ungefähr auf einer sozialdemokratischen Linie treffen dürften, eine Art strategische Partnerschaft eingegangen. Alain Soral behauptet jedoch vor diesem Hintergrund, SOS Racisme sei von Anfang an eine Gründung der UEJF (also jüdischer Kreise) gewesen, um die wohlmeinende und aktivitätsdürstige Jugend migrantischer Herkunft auf die Leimrute des Zionismus zu locken… ((Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=MLyp-4Pec_E ))

Ansonsten machte Belghoul zuvor eine religiös-mystisch vernebelte Sinnkrise durch, war zeitweilig vom islamischen Sufi-Wesen angezogen – eine in der Regel relativ tolerante, aber dem Mystizismus zuneigende kulturelle Richtung – und wollte sich später in Ägypten niederlassen, von wo sie aber nach Frankreich zurückkehrte. Zu Ende des vorigen Jahrzehnts machte sie damit auf sich aufmerksam, dass sie ihre eigene Kinder aus der Schule nehmen und Heimunterricht für sie organisieren wollte. Solcher durch Eltern organisierter Privatunterricht ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch seit längerem ein Steckenpferd christlicher Fundamentalistengruppen, die ihren Kindern Sexualaufklärung im Unterricht, Evolutionstheorie und anderen Schweinkram ersparen möchten. Belghoul hatte zuvor als Berufsschullehrerin gearbeitet. Dabei war sie mit realen Probleme des französischen Schulwesens konfrontiert, das gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert: Ein am Montag dieser Woche publizierter Bericht kommt zur Schlussfolgerung, dass der bei der Einschulung in der Grundschule verfügbare Wortschatz in der französischen Sprache bereits entscheidend für die spätere schulische Laufbahn ist. Wer früh abgehängt ist, hat auch früh verloren, und die Berufsschulen dienen im stark auf Allgemeinbildung und Abitur ausgerichteten französischen Unterrichtswesen als Abstellgleis für die vorprogrammierten „Looser“. Aus ihren kritischen Beobachtungen zog sie allerdings reaktionäre Schlussfolgerungen, wurde gegen die angeblich drohende Einebnung der Geschlechterrollen und vermeintlich „natürlichen“ Identitäten im Schulwesen aktiv und lancierte eine Kampagne für 2014: das „Jahr des Rocks“. Frauen sollen dabei wieder „erlernen, sich weiblich zu kleiden“.

Reaktionäre Koalition

Unterschiedliche reaktionäre Milieus, darunter christliche Fundamentalisten, Rechtsextremen und bestimmte – besonders salafistisch ausgerichtete – Moscheen, griffen die Kampagne zum Unterrichtsboykott dankbar auf. Vielerorts scheint die Kampagne allerdings gezielt auf Eltern und Familien mit muslimischem Hintergrund gelenkt worden zu sein – einerseits aus demagogischen Gründen (um ihre faschistische Urheberschaft auf diese Weise besser verstecken zu können), andererseits weil Alain Soral sich phasenweise darauf spezialisiert hat, den angeblichen „Freund der Muslime“ abzugeben. (Anders als bspw. Marine Le Pen definiert er nicht die Einwanderung von Bevölkerungsgruppen muslimischen Glaubens als strategischen Hauptfeind, sondern in seinem Falle eindeutig die Juden.)

Betrachtet man die organisierten Hintergründe der Kampagne, verweisen diese allerdings weit weniger auf muslimische Kreise, und viel stärker auf organisierte politische Rechte.

Auch die stärkste Oppositionspartei in Frankreich, die konservativ-wirtschaftsliberale UMP, spielt mindestens ein doppeltes Spiel dazu. Einerseits verurteilt sie den Aufruf zum Schulboykott offiziell als Gesetzesbruch, andererseits jedoch drückt sie konkret vor Ort ihr betontes „Verständnis für die Sorgen und Ängste der Eltern“ aus – und beschuldigt die sozialdemokratische Regierung, angeblich „ideologisch überfrachtete Lehrpläne“ aufzulegen. Als Bürgermeister von Meaux, wo eine salafistische Moschee die Unterrichtsboykottkampagne sehr aktiv betrieb und diese auf lokaler Ebene ziemlich erfolgreich war, ging UMP-Parteichef Jean-François Copé stark in diese Richtung. Er kehrte vor allem seine Opposition zur Unterrichtspolitik der Regierung heraus und bekundete sein ausdrückliches „Verständnis“. Allerdings geriet er seitdem in erhebliche Erklärungsschwierigkeiten. Denn Unterrichtseinheiten, die stark dem jetzigen „ABCD-Egalité-Programm“ ähneln, waren 2011 durch den damaligen Schulminister der UMP, Luc Chatel, explizit verfochten worden. Der Minister setzte ihre Ausarbeitung gegen reaktionär motiviere Widerstände auch in der eigenen Partei durch.

Neben den religiösen Milieus und dem Kreis um Alain Soral und Farida Belghoul spielen auch die Anführer der Bewegung gegen die Homosexuellenehe, die unter dem Titel La Manif pour tous – „Demo für alle“, als Replik auf die „Ehe für alle“ (le mariage pour tous) – bekannt wurde, eine wichtige Rolle. Auf der Suche nach konkreten Aktionsperspektiven für eine Protestbewegung, die sich nach einer zweistelligen Zahl von Großdemonstrationen sonst totzulaufen droht, orientieren die Veranstalter dieser Kampagne schon seit Mai vergangenen Jahres auf den Protest gegen unliebsame Unterrichtsprogramme. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihnen jegliche „Kritik an Geschlechtsstereotypen“, die sie als „totalitäre Hirnwäsche für unsere Kinder“ hinstellen – der konservative Ex-Abgeordnete Christian Varenne etwa, der wegen allzu derber homophober Sprüche 2012 aus der UMP ausgeschlossen wurde, sprach erst diese Woche auf seinem Blog vom „neuen Totalitarismus“. Diese sehen die Reaktionäre durch eine angebliche „Gendertheorie“ verkörpert, welche sie als geschlossene Ideologie darstellen – auch wenn es eine solche Gesamttheorie entgegen ihrer Behauptungen schlichtweg nicht gibt, sondern allenfalls Genderstudien als gesellschaftswissenschaftliche Disziplin.

In der ersten Februarwoche 2014 forderte nun Béatrice Bourges, Sprecherin des radikaleren Flügels der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ebene und der Plattform Le printemps français („Französischer Frühling“) dazu auf, Eltern sollten systematisch Druck auf örtliche Bibliotheken ausüben. Und zwar mit dem Ziel der Entfernung unliebsamer Werke, besonders solcher, die von der angeblichen „Genderideologe“ geprägt seien. Die amtierende Kulturministerin Aurélie Filippetti wandte sich öffentlich dagegen. ((Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2014/02/10/theorie-du-genre-aurelie-filippetti-denonce-les-pressions-contre-des-bibliotheques_4363880_823448.html)) Im Stadtparlament von Toulon griff der rechtsextreme Front National (FN) diese Kampagne auf – nachdem er schon einmal die städtische Bücherei  ideologisch „gesäubert“ hatte, als er die südfranzösische Großstadt von 1995 bis 2001 regiert. Doch dies rief auch Gegenkräfte auf den Plan. Mehrere Gewerkschaften, Elternverbände und Menschenrechtsvereinigungen wandten sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen dieses Vorhaben. ((Vgl. http://ldh-toulon.net/spip.php?article5758)) Auch sonst regen sich Widerstände. In einer von mehreren Dutzend Vereinigungen nordafrikanischer Migranten oder von Franzosen mit maghrebinischem Hintergrund getragenen Erklärung wenden sich die Unterzeichner dagegen, dass Gegner der Homosexuellenehe „in unserem Namen sprechen“ – mit der Behauptung, Muslime wie Christen seien durch die Reform schockiert. Die eher der Linken zugehörigen Vereinigungen wenden sich gegen reaktionäre Ideologien und Homophobie. Not in our name heißt in diesem Falle auf Französisch: Nous ne nous reconnaissons pas. ((gl. http://blogs.mediapart.fr/edition/les-batailles-de-legalite/article/120214/nous-ne-nous-reconnaissons-pas  plus http://www.mrap.fr/contre-le-racisme-sous-toutes-ses-formes/le-mrap-soutient-l2019appel-universaliste-ab-nous-ne-nous-reconnaissons-pas…-bb ))

Vgl. auch zu weiterführenden Darstellungen:

° Hintergrundartikel: http://education.blog.lemonde.fr/2014/01/24/le-catechisme-antipedago-le-gender-et-la-nouvelle-extreme-droite-soralo-dieudonniste/

° Hintergrundartikel: http://www.debunkersdehoax.org/la-manip-pour-tous-theorie-du-genre-et-co-comment-ee-manipule-l-opinion

° Gewerkschaftliche Stellungnahme aus der CGT: http://www.sdencgt37.org/spip.php?article1294

° Stellungnahmen aus der linken Basisgewerkschaft SUD-Education: http://www.sudeducation.org/Contre-les-offensives-homophobes.html und http://www.sudeduccreteil.org/IMG/pdf/journaljre.pdf

° Mobilisierung verschiedener Organisationen des „Sozialforums Lohtringen“ gegen eine öffentliche Veranstaltung der reaktionären Demagogin Farida Belghoul in Nancy: http://www.fsl-nancy.fr/tu-vois-le-genre-communique-a-l-occasion-de-la

NACHTRAG :

Die Kampagne zum Schulboykott ist nur eine Facette der reaktionären Offensive in Frankreich, die auf mehreren Ebenen abläuft. Die zunehmenden Aktivitäten von Abtreibungsgegnern, Gegnern der Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare und „Steuerrebellen“ sind weitere Aspekte. Unterschiedliche Motive bündeln konnte der „Tag des Zorns“ am 26. Januar 14. Ein Folgetermin dafür wurde auf den Samstag, den 05. April 14 festgelegt. An den beiden Wochenenden davor finden die französischen Kommunalwahlen statt.