Die hippe Diaspora

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Seit einigen Jahren kommen immer mehr junge Israelis nach Berlin. Sie loben das kosmopolitische Flair der Stadt und die billigen Mieten. Auch wenn die Community inzwischen eine gute Infrastruktur hat, kehren die meisten wieder nach Israel zurück…

Von Ivo Bozic
Jungle World v. 27.2.2014

Seit einiger Zeit wird immer wieder über dieses Phänomen berichtet. Zwar ist die halbe Welt in Berlin, aber dass sich ausgerechnet Is­raelis hier wohlfühlen, scheint vor allem für ausländische Medien noch immer schwer vorstellbar. In keiner Geschichte über Israelis in Berlin darf Nirit Bialer fehlen. Sie lebt bereits seit 2006 in Berlin und ist quasi die gute Seele der israelischen Community. Auch wenn sie sagt, dass man gar nicht von einer Gemeinschaft sprechen könne: »Es ist nur ein Netzwerk.« Dass das Netzwerk aber derart umfassend und funktional ist, liegt eben auch an Nirit Bialer. 2007 rief sie einen monatlichen Stammtisch für Israelis ins Leben. »Damals war Facebook noch nicht so angesagt, unser Stammtisch hatte eine ähnliche Funktion.« Dort gab man sich Tipps für die Wohnungs- und Jobsuche und tauschte sich über die besten Lokale und Partys der Stadt aus. Von 2008 bis 2010 war sie Co-Moderatorin des hebräisch- und deutschsprachigen Radios »Kol Berlin« (Stimme Berlins) im Offenen Kanal. Sie berichtete jede Woche unter anderem aus dem Umland Berlins, immer aus israelischer Perspektive: Wie fühlt es sich an, als Israeli im alten »Kraft-Durch-Freude«-Seebad in Prora zu baden? Wie ist es, mit dem Zug von Berlin nach Polen zu fahren – und zurückzukommen? Das waren so die Themen. 2011 gründete sie dann zusammen mit einigen Freundinnen den Verein Habait (Das Zuhause). Der soll Deutschen die junge, moderne israelische Kultur näher bringen, ohne einen Bezug auf die offizielle Kulturpolitik, auf religiöse Sitten und auf den Nahostkonflikt. Ende Dezember zeigte Habait Filme aus dem Sapir-College in Sderot (Jungle World 8/2007), die sich mit dem Thema »Peripherie« beschäftigen. Davor gab es eine Kibbuz-Party mit israelischem Büfett und Volkstanz.

Neben Habait gibt es inzwischen auch andere Einrichtungen von oder für Israelis in Berlin. Eine hebräische Bibliothek etwa und eine säkulare hebräische Sonntagsschule, die jüdische Kultur vermittelt und vor allem von Kindern deutsch-israelischer Paare in Anspruch genommen wird sowie von Israelis, die mit Kindern hergekommen oder gerade Eltern geworden sind. Der Verein Hamakom versucht, eine Schnittstelle zwischen Berliner Juden und Israelis zu bilden. Die hebräischsprachige Facebook-Gruppe »Israelis in Berlin« hat fast 8 300 Mitglieder.

Sogar eine hebräische Zeitung gibt es für die sehr grob geschätzt 10 000 Berliner Israelis. Die Macherin der Zeitung, Tal Alon, stammt aus Tel Aviv und lebt seit viereinhalb Jahren in Berlin. Ihr Mann ist ein deutscher Maler, der in Israel aufgewachsen ist. Die beiden ließen sich wegen der lebendigen Kunstszene hier nieder. Tal ist Journalistin, in Israel hat sie bei zwei großen Zeitungen gearbeitet. In Berlin schrieb sie zunächst auch vor allem für israelische Medien. Dann sah sie mit Erstaunen, wie viele Israelis nach Berlin strömten und so gründete sie 2012 das Magazin Spitz, das sich explizit an Israelis in Berlin wendet. Es erscheint alle zwei Monate in einer Auflage von 2 000 Stück und liegt gratis in Cafés, in der israelischen Botschaft und bei israelischen und jüdischen Veranstaltungen aus. Alle Artikel sind auf Hebräisch, die Zielgruppe ist also klar definiert. Die 38jährige macht dabei fast alles selbst. Artikel und Fotos bekommt sie allerdings von den Israelis, die in der Stadt sind, geliefert. »So viele Israelis hier sind Kreative, da ist es gar kein Problem, Autoren zu finden«, sagt Tal. Manche wenden sich auch an sie, weil sie denken, dass es bei Spitz einen Job geben könnte, doch da muss sie die Leute regelmäßig enttäuschen. So professionell das Heft, von dem zur Zeit die neunte Ausgabe vorliegt, auch gemacht ist, es ist ein absolutes Low-Budget-Projekt, dass sich in erster Linie durch Spenden und Anzeigen finanziert.

In der Zeitung finden sich Porträts über und Interviews mit Israelis, die in Berlin leben, aber auch Buch- und Filmbesprechungen, alternative Ausgehtipps, eine Kinderseite, Geschichten über deutsch-israelische Paare, im Herbst gab es eine Analyse zur Bundestagswahl, kürzlich erschien eine bunte Schautafel, auf der die hohe Kunst, mit Deutschen zu flirten, erklärt wird. Die Leser, sagt Tal, interessieren sich vor allem für die deutsch-isra­elischen Schnittmengen in Berlin, wo man zusammenkommt, wo es gemeinsame Projekte oder Events gibt.

Die Israelis in Berlin seien eine »ganz normale Immigranten-Community«, meint Tal, um lachend hinzuzufügen: »Sofern Israelis normal sein können.« Der einzige Grund, weshalb der Zustrom von Israelis in Deutschland so große Beachtung finde, sei die Geschichte. Und die sei bei fast allen Themen präsent. Wenn sich zum Beispiel Israelis hier vernetzen, habe das viel mit der Sprache zu tun. Im Berliner Alltag hebräisch sprechen zu können, das sei für sie eine Art Heimaterlebnis, und die große Nachfrage nach ihrer Zeitschrift bestätigt dies. Gleichzeitig sei es jedoch auch eine Sache von gewisser politischer Bedeutung, dass in Berlin wieder Hebräisch zu hören und nun sogar zu lesen ist, was nach der Shoa eben kaum mehr der Fall war. Es ist also auch ein Statement, und mehr als das.

Dass der Run von Israelis auf Berlin so weitergeht wie bisher, glaubt Tal nicht. »Ich denke, wir erleben gerade den Peak.« Die Frage, ob sie glaubt, dass die meisten Israelis dauerhaft hier bleiben werden oder nach ein paar mehr oder weniger wilden Jahren in Berlin wieder heimkehren, will sie nicht beantworten. »Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage«, sagt sie nachdenklich. Sie selbst werde sicherlich irgendwann zurück nach Tel Aviv ziehen, der Eltern wegen. Andererseits hat sie zwei Kinder, von denen eines schon zur Schule geht. Da beginnt das »Dilemma«, wie sie sagt, eines mit dem sie nicht alleine ist. »Ich glaube aber, dass grundsätzlich für alle Migranten, egal wo auf der Welt, immer die Überlegung bleiben wird, eines Tages zurückzugehen.«

Ilan Goren ist nicht nach Tel Aviv zurückgekehrt, sondern zu seiner russischen Frau nach Moskau gezogen, nachdem er zwei Jahre lang in Berlin als Europa-Korrespondent für den israelischen Nachrichtensender Channel 10 News gearbeitet hat. Kürzlich erschien in Deutschland ein Buch von ihm. In »Wo bist du, Motek – Ein Israeli in Berlin« schildert er die Erfahrungen, die er hier gemacht hat. Jetzt macht er neue Erfahrungen in Moskau. »In Moskau gibt es nur ein paar hundert israelische Geschäftsleute, nicht all diese Hipster und Kreativen wie in Berlin«, erklärt er. Sein Buch ist auf Deutsch erschienen, es richtet sich also weniger an Israelis. Wer seine Leser seien? »Ich hoffe schon, dass ein paar deutschsprachige Israelis das Buch interessant finden könnten. Aber was mich wirklich überrascht hat, ist der große Zuspruch, den ich von anderen Immigranten bekommen ha­be, von Leuten mit iranischem, bosnischem, portugiesischem und ägyptischem Hintergrund zum Beispiel. Wir sind eben nicht nur Israelis in Berlin, wir sind auch Immigranten und haben daher auch ähnliche Erfahrungen wie andere Immigranten und können voneinander lernen.«

Die Beziehung zwischen den Israelis und den deutschen Juden in Berlin sei eine ambivalente Sache, meint Ilan. »Ich glaube, die wenigsten Israelis in Berlin interessieren sich für die offiziellen Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde. Ich verstehe das, denn man hört viele Phrasen und Klischees bei solchen offiziellen Anlässen. Das sind genau die Dinge, vor denen die Israelis nach Berlin geflohen sind. Aber klar, manche gehen zum Seder-Abend der Chabad-Gemeinde oder entzünden dort die Channuka-Kerzen.« Auch das Jüdischsein spielt nämlich plötzlich eine neue Rolle. »Ich bin kein religiöser Typ«, sagt Ilan, »aber als ich nach Berlin kam, wurde die Tatsache, dass ich Jude bin, wichtiger, weil man sich ein paar Fragen stellen muss zu seiner Identität, die man sich nicht stellt, wenn man in Tel Aviv ist. In Berlin fängt man an, darüber nachzudenken, wer man ist. Ich habe nicht versucht, dem auszuweichen, aber ich mag diese ganze vorgegebene offizielle Sprache bei den üblichen Zeremonien nicht. Was wir brauchen, sind weniger Rituale und Denkmäler, sondern mehr zwischenmenschliche Connections. Darum bin ich froh, dass so viele Israelis nach Berlin kommen. Das ist eine großartige Sache, weil dort, wo es sich vermischt, auch ein wenig Konfusion entsteht. Da wird es spannend.«

In Israel wird der Berlin-Boom auch kritisch gesehen. Viele junge, kreative Menschen wandern ab. Ein gewisser Braindrain sei zu beobachten, lautet die Kritik. Einen kleinen Skandal gab es, als Finanzminister Yair Lapid im Oktober auf Facebook schrieb, Israelis, die nach Berlin gingen, würden den zionistischen Traum verraten, ihn auf den Müll schmeißen.

Ilan Goren findet das eher amüsant. »Er soll doch mal auf seine eigene Geschichte blicken. Lapid hat in den Neunzigern selbst Israel verlassen, um in Los Angeles Karriere zu machen. Das hat aber nicht geklappt und so ist er zurückgekommen.« Es sei aber tatsächlich ein Paradox, dass es für einige Israelis einfacher sei, in Deutschland zu leben als in Israel – und nicht nur aus finanziellen Gründen. »Das ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet Deutschland einer der freiesten, tolerantesten Orte in der Welt ist, an denen man als Israeli leben kann.«

Die Sorgen der israelischen Politiker seien übertrieben. »Viele Israelis kommen für ein, drei oder sechs Monate, vielleicht auch mal für zwei Jahre nach Berlin, aber dann ziehen sie auch wieder zurück. Berlin ist ein Transit-Ort, nicht nur für Israelis.« Und dass Juden außerhalb Israels leben, sei schließlich kein neues Phänomen, da brauche man nur nach Kalifornien oder New York zu schauen. »Das Besondere an Berlin ist, dass hier ganz bestimmte Israelis herkommen, die eher liberalen, linken, gebildeten, modernen – und das irritiert viele im israelischen Establishment. Und das sollte es ruhig auch. Vielleicht merken sie dann mal, dass sie ein paar Sachen falsch machen.«

Die Umfrage, die auf der Internetseite »israelisinberlin.de« gemacht wurde, müsste die israelische Regierung jedoch beruhigen. Auf die Frage »Warum bist du nach Berlin gekommen?« antworteten die meisten »Wegen der Liebe« (17,4 Prozent), »Wegen des Studiums« (16,5), »Ich hatte Lust, für eine Weile im Ausland zu leben« (14,7), »Auswanderung aus finanziellen Gründen« (12,3), »Weil Berlin die wichtigste Kulturhauptstadt der Welt ist« (9,6). Nur acht Prozent gaben an, »aus politischen Gründen« ausgewandert zu sein.

Ob Berlin dauerhaft ein solcher Magnet für Israelis bleiben wird, erscheint ungewiss. Auch Nirit Bialer hat in den acht Jahren, in denen sie hier ist, die rasante Veränderung der Stadt erlebt. »Berlin ist viel internationaler geworden, das ist toll, aber die Preise ähneln immer mehr denen anderer Großstädte, und eine Wohnung oder einen Job zu finden, wird immer schwieriger.« Das gilt für alteingesessene Berliner, aber nicht weniger natürlich für Migranten. Und sogar sie, die wohl bestvernetzte Israelin der Stadt, überlegt daher, vielleicht eines Tages doch zurück nach Tel Aviv zu ziehen, auch wenn Berlin nach wie vor ihre »erste Wahl« sei. Sie hat ja auch noch einiges vor. Jetzt komme es darauf an, sagt sie, die verschiedenen Initiativen von und für Israelis in Berlin besser miteinander zu verknüpfen.