Schoah: Dies ist mein letzter Brief

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Im Alter von fast siebzig Jahren begann Alfred Koppel die Briefe seiner ermordeten Mutter zu übersetzen. 2002 erschienen sie in den USA unter dem Titel „My Heroic Mother – Voices from the Holocaust„. Nun wurden sie zum ersten Mal auch im deutschen Original veröffentlicht. Ilse Macek, die Mitherausgeberin des Buches „Dies ist mein letzer Brief“ nutzte den Rahmen der Buchvorstellung, um einigen kritischen Fragestellungen nachzugehen…

Das Buch, das wir heute vorstellen, gehört einer spezifischen Gattung an, den Memoiren.

  • Gibt es nicht schon genügend Erinnerungsliteratur über die NS-Zeit von bedeutenderen Autoren?
  • Bildet dieses Buch Geschichte überhaupt wirklichkeitsgetreu ab?
  • Erfahren wir Neues über die bekannten historischen Fakten hinaus?
  • Hat dieses Buch eigentlich Bedeutung für die Erinnerungskultur heute?

Die öffentliche Rezeption der Forschung über die Alltagsgeschichte der NS-Zeit, ist – wie alles – stark von Konjunkturen geprägt. Autobiographien- und Memoirenschreiber sowie die Herausgeber derselben – auch die Zeitzeugen selbst – werden von diesen Konjunkturen mitbestimmt. Erinnerungszeugnisse gibt es sozusagen wie Sand am Meer. Sie sind beliebt, weil sie die große Geschichte konkreter, eindrücklicher, nachvollziehbarer machen. Diese simple, jedermann geläufige Erkenntnis ist der Grund, dass auch diejenigen Menschen, die mit geschichtlichen Quellen ansonsten nicht viel anzufangen wissen, doch Memoiren lesen.

Im Hinblick auf die Erinnerungskultur nimmt – neben den Berichten von persönlich anwesenden Zeitzeugen, von oral und visual history – diese Mischung aus Autobiographie und Historiographie also auch einen besonderen Platz ein. Dennoch: Memoiren bilden nicht die Wirklichkeit ab. Historiker betrachten sie meistens als Ergänzung zu den amtlichen Quellen, wir pädagogisch und politisch Tätigen neigen zur Annahme, dass diese subjektiven Erinnerungszeugnisse mindestens genauso wichtig sind – wegen ihres Wirkungsspektrums.

In diesem Buch haben wir beides, eine „Nahaufnahme“ und eine aus weiterer Entfernung:

Die Briefe der Mutter Carla Koppel, faszinieren durch ihre Intensität und ihren hohen authentischen Anteil; die Zeitnähe der Verfolgungserfahrung erhebt sie über anderes Quellenmaterial. Hier scheint die ‚Wirklichkeit‘ des jüdischen Alltags einer tapferen jüdischen Frau unmittelbar auf das Papier gebannt.

Was die Erinnerungen von Al Koppel anbelangt, hat er nicht mehr so viel gewusst, er musste sich die Geschichte erarbeiten. Ganz generell geben so späte Aufzeichnungen nur eine äußere Erinnerungs-Schicht wieder und sind – verständlicherweise – von der Zerstörung einer Familie her gedacht. Selbst die Schilderungen der so genannten unbeschwerten Kindheit lassen diese überlagerte Sichtweise erkennen. Wenn die Zeitzeugen, wie Al Koppel, damals Kinder waren, haben sie auch bestimmte Hintergründe oder Fakten nicht interessiert, verstanden oder realisiert. Sie sind also auch durch – nachträglich erworbenes – Faktenwissen ergänzt. Sie sind geprägt durch Vorlieben, Abneigungen oder auch durch Erfahrungslücken oder durch die Annahme von Kausalitäten und Zusammenhängen, eine logische Abfolge wird konstruiert, die es so nicht gab. Und je größer der zeitliche Abstand ist, desto mehr „Überformungen“ finden statt, auch durch das „kollektive Gedächtnis“.

Was macht also diese nicht wirklichkeitsgetreuen Betrachtungen dennoch für uns heute wertvoll?

Generell lässt sich sagen: Es ist der individuelle Eindruck, der natürlich auch ein Filter ist, der für uns die Dinge mit erfahrbar macht. Identifikation und Empathie sind es, die uns geschichtliche Ereignisse nahebringen, die im Gedächtnis haften bleiben bzw. für unser Handeln nachhaltig Wirkung entfalten können.

Viele und auch einige Münchner schrieben ihre Memoiren, ihre Erfahrungen aus der Verfolgungszeit, – oft, um selbst damit vielleicht umgehen zu lernen, oft, um der Familie ihre Erlebnisse zu vermitteln. Manchmal geht es auch um eine Art von „Meinungsführung“ über einen bestimmten Zeitabschnitt; so und nicht anders war es. Dies alles hinterlässt bei uns Eindrücke und Wahrnehmungen durch die Brille des Zeitzeugen. Seine Rolle, seine Verarbeitung der „Reise in die Vergangenheit“ und seine Folgerungen daraus sind – auf einer anderen Ebene als der der Geschichtsvermittlung – authentisch und wichtig für die Aufgabenstellung der Gedenkkultur heute.

Al Koppel war ein politischer Mensch; er wollte wie alle Zeitzeugen, dass wir daraus lernen..

Wir erfahren unter anderem am Ende des Buches etwas über den Kampf eines Zeitzeugen für Stolpersteine, für öffentlich sichtbare Zeichen, dass seine Familie hier von München aus deportiert und ermordet wurde. Für ihn ist es eine Forderung nach dem sichtbaren öffentlichen Eingeständnis und der Verantwortlichkeit dieser Stadt und zum Gedenken und zur Würdigung seiner Mutter und seiner Geschwister.

Aber wie steht es in diesem Buch mit neuen Erkenntnissen über die damalige Zeit?

Erinnerungen von Zeitzeugen, das sagte ich schon, erscheinen – besonders in USA – in Massen. Dieses Faktum alleine macht sie aber nicht weniger wichtig, denn viele Dinge können wir nur über die Zeitzeugen und deren Einzelschicksale erfahren.

Ich nenne jetzt – ausnahmsweise – ein anderes Münchner Buch. Es ist von Erich Kasberger und Marita Krauss, basiert auf Briefen und Tagebucheintragungen von Else Berendt-Rosenfeld und ihrem Mann Siegfried. Wieviel weniger wüssten wir von der jüdischen Münchner Geschichte, wenn es dieses Buch nicht gäbe. Und auch unseres liefert, wenn auch ein viel kleineres, aber doch ein Stück mehr an Münchner jüdischer Geschichte, aus einer engeren persönlichen Perspektive, aber auch mit herausragendem „Material“ von unschätzbarem Wert, den Briefen einer Münchnerin kurz vor der Deportation. Dadurch wird aber nicht nur das Unfassbare emotional fassbarer, sondern es gibt auch Wissensfelder, die nicht gut bekannt sind, die wir dadurch neu oder anders wahrnehmen. Einige nenne ich jetzt:

  • Wir erleben den „Prozesscharakter der Ausgrenzung“ mit – kurz vor den Deportationen, in München, in Berlin, in Hamburg, wiewohl für uns Lesende immer der spätere Mord gleichzeitig präsent ist.
  • Wir erfahren Eindrückliches über das orthodoxe Judentum im Alltag; sie erscheinen fromm und dennoch weltoffen – wie widersprüchlich das auch klingen mag.
  • Wir erfahren viel über handelnde Personen und Institutionen und die Leistungen der jüdischen Gemeinden in den drei Städten in diesem Zeitabschnitt vor dem Untergang.
  • Wir erfahren aus den Briefen einiges mehr darüber – sowohl verdeckt als auch offen -wie sich die Länder außerhalb des Terrorstaates Deutschland gegenüber den Juden verhielten.
  • Wir erfahren mehr über die Lebenswelt, den Alltag der jüdischen „Normalbevölkerung“ unter Exilbedingungen, bisher in der Forschung eher marginal behandelt.

Wir erfahren, dass es noch viele Forschungsdesiderate gibt: Darüber können wir aber auch ein anderes Mal sprechen.*

Und warum ist noch ein ausführliches Verzeichnis aller in den Briefen genannten Personen im Anhang? Diese Antwort ist einfach und wie ich finde, unmittelbar einleuchtend: Nach dem Willen der nationalsozialistischen Verfolger sollte nichts an die Opfer erinnern. Nicht als Menschen galten ihnen die Juden, sondern als eine statistische Zahl, die für immer geheim bleiben sollte. Die Menschen und ihr Leben wären aus dem Gedächtnis gestrichen, ausgelöscht, ein zweites Mal gestorben. Die Nazis hätten gewonnen. Das lassen wir hier in München nicht zu und tun an vielen Stellen etwas für die Erinnerung an die Menschen, ihr Leben und ihr Schicksal. (Das zeigt das biografische Gedenkbuch des Stadtarchivs, die alljährlichen Namenslesungen zentral und dezentral. Und es geschieht oft nicht in ritueller Vergangenheitsbetrachtung sondern reflexiv und auch politisch zukunftsbezogen.)

Durch diese Lebenswelten wird wiederum ein Mehr an Hintergrundwissen und auch einiges an Neuem vermittelt und – auch nicht unwichtig – die fachliche Qualität dieses Buches unterstrichen.

Der letzte Brief

Wir treffen im Buch auf bekannte Namen: Dr. Schäler, Dr. Hechinger, Koronczyk in München, Viktor Löwenstein in Berlin, Joseph Zwi Carlebach in Hamburg und viele Unbekannte, genauso wichtige Menschen.

Opfer waren natürlich auch diejenigen, die emigrieren mussten und mit dem Leben davon gekommen sind, mit nichts anfangen mussten, ihre Heimat und oft ihre Verwandten verloren haben. Es wäre für die Münchner Geschichte doch wichtig, man wüsste mehr über die vielen Münchner Juden im Exil.

Al Koppel hat Deutschland als Kind verlassen müssen – diese Bekannten und Verwandten waren außerhalb seines Blickfelds, seines Bewusstseins.

Jetzt ist der Familien-Stammbaum auf derzeit 134 Personen über 8 Generationen angewachsen. Ich habe den großen Stammbaum an Alfreds älteste Tochter Karla Nolan, geborene Koppel, und Walters älteren Sohn Steven Koppel geschickt, die wir von hier aus grüßen und hoffen, dass sie sich darüber freuen.

 

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