Hamborger Jung mit Kamera

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Mit Dokumentarfilmen, mit Installationen und Aktionen hat Jens Huckeriede an das jüdische Leben in Hamburg erinnert. Unkonventionell, konsequent ließ er Viele teilhaben an seinem leidenschaftlichen Einsatz gegen das Vergessen. Am 8. Dezember starb er, unerwartet, plötzlich, mit 64 Jahren an Herzversagen…

Gaston Kirsche

„Er hatte noch viel vor“, wie die Kinderhäuser Sterni-Park auf der Trauerkarte für das Mitglied ihrer Geschäftsleitung erklärten. Jens Huckeriede wirkte schon seit 1982 im Kinderhaus Heinrichstraße mit, aus dem heraus sich Stern-Park gegründet hat. Zu diesem Zeitpunkt erhielt das 1976 als Eigeninitiative gegründete Kinderhaus Heinrichstraße nach jahrelangen Konflikten endlich staatliche Förderung. Zuvor war es in Hamburgs Springerpresse als „rote Kaderschmiede für die ganz Kleinen“ und deshalb angeblich nicht förderungswürdig bezeichnet. Das ging zurück auf die in Hamburg regierende SPD, welche die Berufsverbote gegen KommunistInnen damals auf die Kindererziehung ausweitete und dem Kinderhaus städtische Gelder verweigerte, denn, so der damalige Bürgermeister Hans-Ulrich Klose, nachdem er beim Inlandsgeheimdienst nachgefragt hatte: Es sei seine „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, immer wieder darauf hinzuweisen, „dass dieses Projekt eine im wesentlichen vom Kommunistischen Bund getragene Einrichtung ist“. Mit dem Engagement des KB hatte Klose Recht, aber warum dürfen KommunistInnen keine Kinder erziehen?

Dieser Konflikt der 70er Jahre ist bezeichnend für das politische Klima im vermeintlichen weltoffenen, sozialdemokratisch und hanseatisch-bourgeois dominierten Hamburg: Radikalere Linke wurden und werden ordnungspolitisch als störend gesehen, die Erinnerung an die Shoah soll immer hübsch im Rahmen bleiben und möglichst nicht an der breiten Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit am „Mustergau Großhamburg“ rühren. Jens Huckeriede, 1949 geboren, ist in diesem Klima aufgewachsen, hat gelernt, dass es auf die Eigeninitiative ankommt und nicht darauf, zu hoffen, dass sich mit staatlicher Förderung etwas bewegen lässt. Jens Huckeriede unterstützte mit seinen kaufmännischen Kenntnissen die Buchhaltung im Kinderhaus Heinrichstraße, setzte sich ein für eine freiere, an den Bedürfnissen der Kindergartenkinder orientierte Ermöglichung von Entwicklung, zur Entfaltung starker Persönlichkeiten, wissbegierig, empathisch, solidarisch.Über das Vorführen von Filmen im Kinderhaus kam er in Kontakt mit dem alternativen Medienzentrum „Die Thede“, dass mit Videoproduktionen widerständige Sichtweisen und Protest befördern wollte. 1985 schloss sich Jens dem Medienkollektiv an.

In den neunziger Jahren imitierte Jens ohne staatliche Zuschüsse ein Erinnerungsprojekt, wie es typisch ihn war: Er brachte verschiedene Leute, historische Materialien zusammen und schuf so mit geringen Mitteln etwas ungewöhnliches, das mahnt und neugierig macht: „Dieses Thema kann man nicht nur historisch angehen“, erklärte er oft: „Es geht nicht nur um die Toten, es geht auch um die Gegenwart, um die Lebenden.“ So war er mit der Kamera vor Ort, als 1992 in Hamburg gegen die Störung der Totenruhe auf dem Gelände eines ehemaligen jüdischen Friedhofs protestiert wurde. Und filmte, wie deutsche Bauarbeiter vor orthodoxen Juden geschützt werden. „Beth Ha’Chajim, Haus des ewigen Lebens“, der Film von Jens Huckeriede dokumentiert diese Auseinandersetzungen um die Überbauung des ehemaligen jüdischen Friedhofs. Für ein Einkaufszentrum sollten Bagger auf dem Gelände eine Baugrube für das Fundament ausheben, ohne das die Knochen der Toten geborgen worden wären. Mitten in Ottensen, einem alternativen Szene-Stadtteil. Dort gab es von linken Gruppierungen zwar Protest wegen der erwarteten und eingetretenen Gentrifizierung, aber die orthodoxen Juden, die aus London und Israel gekommen waren und dort vor den Baggern für die Toten beteten, wurden von ihnen genauso ungläubig als exotische Fremde beäugt wie von anderen freundlichen, deutschen AnwohnerInnen. Es gab auch die Anderen, die sich über die plötzliche jüdische Präsenz im Quartier aufregten, auch antisemitische Beleidigungen fielen. Die Orthodoxen blieben alleine, kaum jemand solidarisierte sich mit ihnen. Einsam aber stur erreichten sie, dass der Friedhof überbaut wurde, die Totenruhe so wenigstens formell gewahrt wurde – auch wenn jetzt das Einkaufszentrum „Mercado“ darüber steht, der jüdische Friedhof unsichtbar und unzugänglich ist. Für deutsche Verhältnisse haben sie viel erreicht. Nur im Parterre des alternativ-bürgerlichen Zentrums sind ein paar Tafeln mit den Namen der auf dem Friedhof bestatteten Toten angebracht, neben einer elektrischen Kerze. Im Treppenbereich, von Vorbeigehenden nicht beachtet. „Beth Ha’Chajim, Haus des ewigen Lebens“, der Film von Jens Huckeriede über die Vorgeschichte des „Mercado“ ist selbst leider schon fast vergessen.

Jens Huckeriede
Foto: Bernd Meiners

Im September hatte sein neuer und leider letzter Film „sounds in the silence“ über einen Workshop auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme Premiere, aus dem ein sich vergrößerndes, ausweitendes Projekt des Gedenkens hervorgegangen ist. Jens Huckeriede war wie so oft mit der Kamera dabei, dokumentierend. Als Jens mit mir im September über „sounds in the silence“ sprach, war er guter Dinge, dass seine Initiative weitere, größere Kreise ziehen würde. Jens war der Initiator und Leiter dieses „interkulturellen Erinnerungsprojektes“. Das Suchen und Erfinden neuer Formen der Erinnerung an historischen Orten trieb ihn um. „Künstler, Filmemacher ist er geworden, um Inhalte zu vermitteln. Sein Herzensanliegen war, das die junge deutsche Geschichte, der Holocaust, nicht in Vergessenheit geriet“, so Jürgen Moysich bei der Gedenkfeier für Jens Huckeriede: „Als Sterni-Park Anfang der neunziger Jahre das ehemalige jüdische Volksheim in der Wohlersallee erwarb, um es zu einer Kita umzubauen, war er es, der die Geschichte dieses Hauses nicht nur recherchierte, sondern auch in verschiedenen Veranstaltungen auf die Straße vor dem Haus trug“. Diese Möglichkeit, die Jens durch Sterni-Park hatte, nahm er gerne auf und bereicherte so das neue Kinderhaus in der Wohlersallee mit einem Gedenkraum, wie er leider überhaupt nicht selbstverständlich ist in den vielen Häusern, aus denen die Verfolgten des Nationalsozialismus entfernt wurden – und mit ihnen meist auch jede Spur von ihnen. „Ich war Filmemacher und saß zugleich im Vorstand des Sterni-Park e. V., der 1994 ein Haus in der Wohlersallee kaufte. Später stellte sich heraus: Das war das jüdische Volksheim“, so Jens vor zehn Jahren in einem Interview: „Die Stadt wollte keinen Zuschuss für einen Erinnerungsraum geben, und ich habe, eigentlich aus Protest, gesagt: Dann erinnere ich eben auf meine Art.“

Bei der Suche nach denjenigen, die einst als Kinder dort im jüdischen Kindergarten gespielt hatten und durch die Nazis in alle Welt verstreut wurden, machte Jens Huckeriede Spuren ihres jüdischen Lebens sichtbar. Er nahm Kontakt auf zu Miriam Gillis-Carlebach, Tochter des Altonaer und später Hamburger Oberrabbiners Joseph Carlebach, die in dem Kindergarten betreut worden war. Jens Huckeriede drehte vier filmische Dokumente, in denen ZeitzeugInnen über das jüdische Leben vor der Shoah und über ihr Leben danach berichteten: „Diese Erinnerungen bleiben für immer“ – die bewegenden, erschütternden, empörenden und anspornenden Lebensgeschichten von Esther Bauer (New York), Esther Bejarano (Hamburg), Miriam Gillis-Carlebach (Bar Ilan/Israel), Schlomo Schwarzschild (Haifa/Israel).

Jens Huckeriede öffnete die Erinnerung an den jüdischen Kindergarten, das Volksheim in der Wohlersallee mit einer Ton-Licht-Schau nach außen auf die Straße, zur Nachbarschaft, zur Öffentlichkeit hin, als Versuch, die Geschichte des Hauses zurück in den Alltag zu holen, so wie vor der Shoah hier jüdische Kinder auf der Straße gespielt hatten. In einer Stadtteilweiten Straßenbemalung erinnerte er auch an andere vergessene Orte jüdischen Lebens in Altona.

„Wie arbeitet man aber zeitgemäß zu dem Thema im öffentlichen Raum? Um es im Altonaer jüdischen Viertel mit Acrylfarbe auf die Straßen zu schreiben, habe ich ein Lied gesucht, das Juden und Nichtjuden nicht auseinanderbringt, sondern zusammenführt,“ so Jens in dem Interview: „In der Recherche fand ich heraus, dass ‚An de Eck‘ steiht’n Jung mit’n Tüdelband‘ von Ludwig Wolf ist. Da wusste ich: Die Kulturgeschichte Hamburgs muss zu mindestens teilweise neu aufgearbeitet werden.“.

Mit großer Konsequenz ging Jens Huckeriede einen langen Weg, bis er neun Jahre später, 2003 mithilfe des Thedekollektivs und einem Zuschuss des Goethe-Instituts endlich seinen bekanntesten Film „The Return of the Tüdelband“ fertigstellen konnte. Die inoffizielle Hamburghymne „An de Eck‘ steiht’n Jung mit’n Tüdelband“ lernt jedes Kind, dass in Hamburg zur Schule geht dort. Dass Urhamburger Lied ist vom Trio Wolf, einer vor hundert Jahren sehr populären Gruppe jüdischer Coupletsänger. Huckeriede und einigen wenigen weiteren nichtprofessionellen HistorikerInnen ist es zu verdanken, dass die Hamburger Nazis in ihrem Bestreben, das wunderschön freche Lied von seinem jüdischen Ursprung abzuschneiden, zu enthistorisieren, letztendlich nicht erfolgreich waren. In „The Return of the Tüdelband“ nähert sich ein Nachfahre, Dan Wolf, der in San Francisco lebt, mit seiner musikalischen Ausdrucksweise, im Hiphop, bei einem Besuch in Hamburg der Geschichte des Liedes und seiner Vorfahren an.

„Er hat viele Kontakte zu jüdischen ehemaligen Mitbürgern in aller Welt aufgebaut“, erinnerte Jürgen Moysich in seiner Gedenkrede für Jens: „Als Sterni-Park im Rahmen des Krippenausbauprogramms 2008 eine Villa in der Rothenbaumchaussee umbauen wollte, bemerkte ich in den Grundstücksunterlagen den Namen Guggenheim. Ich rief Jens an. Von dem Tag an war es klar, dass er dem Schicksal der Familie Guggenheim, jüdischen Kaufleuten, die bis Ende der dreißiger Jahre in der Villa gewohnt haben und dann vertrieben wurden, nachgehen würde. In ‚Ab nach Rio‘, einem seiner letzten Filme, hat er das verarbeitet.“

Er machte eine Enkelin von Wilhelm und Herta Guggenheim in Brasilien ausfindig, Ivoné Simon. Die konnte sich durch das Filmprojekt erstmals mit der Vertreibung ihrer Großeltern und ihrer Mutter aus Hamburg auseinandersetzen: „Sie vergaßen alles. Totaler Blackout.“ Mit ihrer traumatisierten Mutter konnte sie nicht über die Nazizeit sprechen, aber mit Jens Huckeriede. Auch Miriam Gillis-Carlebach ist Jens Huckeriede dankbar, für seine Erinnerung an das jüdische Leben in Hamburg vor der Nazizeit, auch weil er „die Verbindung mit dem Sterni-Park-Kindergarten – mit meinem persönlichen „Kindheits-Kindergarten“ in der Wohlersallee – wieder herstellte.“. Miriam Gillis-Carlebach besucht den Kindergarten gerne. Hier spielen Kinder, die wissen, dasss Israel ein Zufluchtsort ist. Wenn sie aus Israel kommt, weiß sie, dass sie willkommen ist: „Das ‚Carlebach Erinnerungs-Zimmer‘ mit den Bildern meiner Eltern und meiner Geschwister… Das alles, und noch viel Ungesagtes, habe ich Jens Huckeriede zu verdanken.“ Jens hätte noch mehr solcher Erinnerungsbrücken bauen können, über die auch die Nachgeborenen gehen können. Seine Filme bleiben und können beim Filmkollektiv „die thede“ ausgeliehen oder erworben werden.

Erwähnte Filme von Jens Huckeriede:

  • sound in the silence, 2013
  • Ab nach Rio – Die Akte Guggenheim, 2009
  • Diese Erinnerungen bleiben für immer, 2007
  • return of the tüdelband – Gebrüder Wolf Story, 2003
  • Beth Ha’Chajim, Haus des ewigen Lebens, 1994

Alle im Verleih/ Vertrieb von „die thede“: http://www.diethede.de,
Blücherstraße 7, 22767 Hamburg. Telefon: 040 899 11 61.