„Gib mir Ejzes, sonst geh ich Machulle“

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Lachoudisch, die vergessene Sprache der fränkischen Juden…

Von Jim G. Tobias

Wenn man die mittelfränkische Gemeinde Schopfloch besucht, in ein Wirtshaus einkehrt und sich in Hörweite des Stammtisches niederlässt, kann es schon sein, dass man solche oder ähnliche unverständliche Wörter und Sätze wie in der Überschrift aufschnappt. Der jiddische Begriff Machulle leitet sich vom hebräischen Wort Mechule (enden, verderben) ab und wird im süddeutschen und insbesondere im fränkischen Raum synonym mit dem Begriff Bankrott verwandt. Wenn also Jemand in diesem Zusammenhang um Ratschläge oder Tipps (Ejzes) bittet, hat er offensichtlich mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen.

Bei genauerem Zuhören wird der Sprachkundige weitere aus dem Hebräischen abgeleitete Begriffe erkennen. Die Bauern wünschen sich nicht nur zum Neujahrsfest Massl Brouche (Glück und Segen) und hoffen, dass ihre Kaserem (Schweine) im Stall nicht krank werden. Wer beispielsweise beim Wirt zu seiner Suppe noch eine Scheibe Brot möchte, verlangt einfach ein Stück Läechem. Als Hauptgericht wird natürlich ein ordentliches Stück Buser (Fleisch, hebr. Basar) auf dem Teller erwartet. Falls ein Israeli sich nach Schopfloch verirren sollte, würde er sich wahrscheinlich ein bisschen wie Zuhause fühlen. Doch nur eine Handvoll Menschen auf der Welt sind des Lachoudischen noch mächtig oder bezeichnen dieses wundersame und fast vergessene Idiom als ihre Muttersprache. Bald wird die einstige Sprache der Juden ausgestorben sein – nach über 400 Jahren des Gebrauchs.

Der Name Lachoudisch lässt sich vom Jiddischen Loschn (Sprache) und von der Verballhornung des hebräischen haKodesch (heilig) ableiten. Das Idiom besteht mehrheitlich aus hebräischen Wörtern, der Rest stammt aus dem Jiddischen und wurzelt im Fränkischen oder der Gaunersprache Rotwelsch. Bei der Suche nach der Entstehung des Lachoudischen muss man tief in die deutsche Vergangenheit und damit in die Geschichte des Antisemitismus eintauchen.

Bis zum ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung gestaltete sich das Zusammenleben von Christen und Juden weitestgehend friedlich. Erst zum Ende des 11. Jahrhunderts begann mit den Kreuzzügen die systematische Verfolgung der jüdischen Minderheit. Auf dem Weg nach Jerusalem, wo die Stadt von den „ungläubigen Muselmanen“  befreit werden sollte, wurden auch gleich die vermeintlichen jüdischen „Gottesmörder“ zu Tausenden erschlagen. Überlebende der Pogrome flüchteten nach Osten oder siedelten in fränkischen Landesteilen. Ab der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts sind Juden etwa in den Reichsstädten Würzburg und Nürnberg nachweisbar. Doch schon bald brachte das „Rintfleischpogrom“ (1298) erneut Tod und Zerstörung. Anlass dieser Mordwelle, die nach einem verarmten Adeligen benannt wurde, war der aus religiösem Wahn entstandene Vorwurf der Hostienschändung. Gleichzeitig konnten die Mörder ihre wirtschaftlichen Verhältnisse ordnen, da Juden als Geldverleiher in dieser Zeit von Mitgliedern der gesellschaftlichen Ober- und Mittelschicht, wie Könige, Bischöfe, Ritter, Patrizier und Handwerker gerne in Anspruch genommen wurden. Der Grund der Kreditnahme war jedoch nicht, dass ein Mangel bei den Grundbedürfnissen herrschte, sondern bestand vielmehr in der ungenügenden Ausstattung mit Bargeld. Wegen der landwirtschaftlichen Zyklen existierten diese Engpässe eben auch bei Personen mit gesicherten Einkommen. Anstatt jedoch ihre Verbindlichkeiten bei den jüdischen Geschäftspartnern zu begleichen, brachten die teilweise Hochverschuldeten ihre Gläubiger einfach um. Eine der schrecklichsten Verfolgungen fand in den Jahren 1348-50 statt. Anlass der in ganz Europa begangenen Massenmorde war die große Pest-Epidemie. Ähnlich wie bei den Kreuzzügen formierten sich irrational-religiöse Bewegungen, die zum Judenmord aufriefen. Der Minderheit wurde der Vorwurf gemacht, die Brunnen vergiftet und damit die Seuche ausgelöst zu haben. Doch wiederum basierte das Blutbad nicht nur auf blindem Hass, sondern wirtschaftliche Überlegungen waren erneut Auslöser für das von der Obrigkeit legitimierte Morden. Erinnert sei an die Urkunde Karls IV., der in diesem Schriftstück – schon ein halbes Jahr vor dem Pogrom – das Eigentum der Nürnberger Juden verteilte. Die endgültige Vertreibung der jüdischen Minderheit aus den Städten erfolgte zum Ende des Mittelalters. Zuflucht fanden die wenigen Überlebenden zumeist in den ländlichen Regionen in kleineren Gemeinden, bei Grafen oder Rittern, die in Opposition zu den Reichsstädten und Bistümern standen. Die Territorialherren versprachen sich damit einen wirtschaftlichen Aufschwung sowie eine Belebung des Handels. Das klassische Landjudentum war geboren.

Gleichwohl unterlag die jüdische Minderheit weiterhin strengen Restriktionen hinsichtlich der Berufswahl – zünftisches Gewerbe und viele Handelszweige blieben ihr strikt verwehrt. Den Juden stand lediglich der Klein- oder Viehhandel offen. Hausierer, die in den Dörfern ihre Ware feilboten, deckten zwar den Bedarf der bäuerlichen Bevölkerung etwa an Tuch- und Kurzwaren sowie Gewürzen und waren gerne gesehen, vegetierten aber zumeist am Existenzminimum, wohingegen die kleine Schicht der Vieh- und Häutehändler eher ihren Lebensunterhalt bestreiten konnte.

Wann sich Juden in der ab 1260 nachweisbaren Ortschaft Schopfloch niederließen, ist nicht bekannt. Die erste gesicherte Nachricht über einen jüdischen Bewohner in Schopfloch stammt aus dem Jahre 1561. Da der Fürst von Oettingen als Landesherr dem Zuzug wohlgesonnen war, stellte er die Juden später offiziell unter seinen Schutz, wovon ein sogenannter Schutzbrief zeugt – ein einträgliches Geschäft für den Fürsten. Zum Anfang des 18. Jahrhunderts wurde eine erste Synagoge errichtet. Als die Juden in Bayern 1811 statistisch erfasst wurden, zählte man in Schopfloch 75 Schutzfamilien mit insgesamt 295 Personen, damit stellte die Minderheit ein Drittel der Bevölkerung. Jahrhundertelang lebten und arbeiteten Juden in der fränkischen Gemeinde. Daran erinnert auch der im Jahre 1612 angelegte jüdische Friedhof, auf dem 1938 die letzte Beerdigung stattfand. Neben diesem steinernen Relikt hat sich mit dem Lachoudischen ein weiteres außergewöhnliches Zeugnis der jüdischen Besiedlung erhalten. Da der Handel und insbesondere der Viehhandel bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der klassische Erwerbszweig der fränkischen Juden blieb und es auch viele jüdische Schmuser (Vermittler) oder Hausierer gab, fanden zahlreiche hebräische, aber auch jiddische Ausdrücke ihren Eingang in die Handelssprache.

Die Schopflocher Synagoge um 1910. Repro © jgt-archiv
Die Schopflocher Synagoge um 1910. Repro © jgt-archiv

Aufgrund welcher Ursachen entwickelte sich aber ausgerechnet in Schopfloch diese „Geheimsprache“? Neben der starken jüdischen Präsenz im Handelsbereich sind zwei weitere Gründe anzuführen: Schopfloch liegt genau in der Mitte der beiden mittelalterlichen Städte Dinkelsbühl und Feuchtwangen. Zudem ist die schwäbische Landesgrenze nur wenige Kilometer entfernt. Da es den Juden jedoch nicht gestattet war, in den freien Reichstätten zu übernachten, waren die jüdischen Händler gezwungen, sich in der Nähe anzusiedeln, um tagsüber in den Städten ihren Geschäften nachgehen zu können. Das nur wenige Kilometer entfernte Schopfloch war deshalb ein idealer Ort. Diese äußerst verkehrsgünstige Lage trug letztlich dazu bei, dass sich der Handel in der kleinen Gemeinde gut entfalten konnte.

Wenn am Samstag auf den Bauernmärkten Waren und Vieh angeboten wurden, durften die jüdischen Händler freilich nicht arbeiten. Deshalb beauftragten sie christliche Schmuser, ihre Geschäfte zu übernehmen. Dabei eigneten sich diese Vermittler wie auch Metzger und andere Käufer die wichtigsten Redewendungen und Begriffe des Lachoudischen an. Wenn dem Schmuser ein Schnäppchen gelang, berichtete er stolz seinem jüdischen Auftraggeber über diese Mezije, der diese gute Gelegenheit mit Simmiche (Freude) zu Kenntnis nahm. Gezählt wurde mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets: Olef, Bejs, Gimml, Dollet, Hej und Roof (1, 2, 3 und so weiter). Auch die Namen vieler Fest- und Feiertage scheinen direkt aus dem hebräischen Kalender übernommen worden zu sein. Rosche Schune ist Neujahr, Ostern wird als Pessach bezeichnet und der Samstag ist selbstverständlich der Schabbes. Bei den Monatsnamen ist ebenfalls eine frappierende Ähnlichkeit zum Hebräischen festzustellen. Nach dem Scharr (Januar) folgt der Addar (Februar), der Nissn (März), der Itter (April) und der Wonnemonat Mai wird als Schwan bezeichnet. Und der Bürgermeister in Schopfloch wird natürlich von allen Schoufet genannt, der seine Besucher im Rathaus morgens stets mit einem freundlichen Joufn Bauker  (Verdrehung von Boker Tow) begrüßt. Freilich sollte die Visite an einem Werktag erfolgen, denn am Schabbes hat das Gemeindeoberhaupt frei.

Schopfloch galt lange Zeit zudem als die Stadt der Maurer und Steinmetze; sie waren wegen ihres Fleißes und handwerklichen Geschicks berühmt. Daher, und weil es vor Ort nicht genügend Arbeit gab, begaben sie sich im Frühjahr regelmäßig auf Wanderschaft. Die Handwerker waren an vielen Großbauten, wie etwa Kirchen und Dome, beteiligt. Auch sie erkannten die Vorzüge der nur ihnen verständlichen „Geheimsprache“ und unterhielten sich in der Fremde gerne auf Lachoudisch. Dadurch entwickelte sich das Idiom auch zur Zweitsprache für viele nichtjüdische Bewohner Schopflochs und stiftete somit – zumindest zeitweise – eine gemeinsame Identität von Christen und Juden.

Zu den wenigen noch lebenden Menschen, die Lachoudisch als Muttersprache gelernt haben, gehört Hans Rosenfeld. Er wurde 1926 in Schopfloch geboren und wuchs dort auf. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts lebten seine Vorfahren in der Marktgemeinde und betrieben eine kleine Textilmanufaktur. Mit der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten musste Hans als „Judebub“ Anfeindungen und Hänseleien seiner Mitschüler erdulden. Der Lehrer zwang ihn vor dem Klassenzimmer strammzustehen. Sich auf Lachoudisch zu unterhalten war streng verboten. Dem Onkel schlossen die Nazis die ärztliche Praxis; er bekam Berufsverbot. Als seinem Vater nahegelegt wurde, sich sterilisieren zu lassen, entschieden sich die Rosenfelds im Frühjahr 1937 nach Argentinien auszuwandern.

Im Januar 1937 bestieg die Familie Rosenfeld in Hamburg das Schiff nach Buenos Aires. Repro © jgt-archiv
Im Januar 1937 bestieg die Familie Rosenfeld in Hamburg das Schiff nach Buenos Aires. Repro © jgt-archiv

Dennoch hat der heute 88-jährige Hans Rosenfeld, der seit vielen Jahrzehnten in New York lebt, eine immer noch enge Beziehung zu seinem Geburtsort und dem Lachoudischen. Für ihn ist ein Hund selbstverständlich ein Kejlef und die Katze eine Schunress und wenn er auf Besuch ist und die fränkische Dorfwirtschaft betritt, begrüßt er die Anwesenden mit einem herzlichen Scholem Alechem in der Medine. Manchmal trifft er im Gasthaus auch den Metzgermeister Friedrich Ruck und seine Freunde, die dort einen deftigen Schafkopf spielen. Selbstverständlich wird jede Karte, jeder Stich und Trumpf von den älteren Herren auf Lachoudisch kommentiert. Wenn Hans Rosenfeld die vertrauten Worte hört, weiß er, dass er Zuhause angekommen ist. „Für mich ist Lachoudisch ein Stück Heimat, es ist wie die Wärme einer Mutter zum Kind“, sagt er voller Gefühl und schier zu Tränen gerührt.

Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die jüdische Bevölkerung in den ländlichen Regionen Bayerns stark verringert. Lebten um 1840 noch rund 90 Prozent der Juden auf dem Lande, wohnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts 80 Prozent in den großen Städten. Auch für Schopfloch lässt sich der Rückgang der jüdischen Bürger nachweisen. Zum Anfang der 1930er Jahre stellte die Minderheit nur noch etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Die letzten Juden wurden im Herbst 1938 von den Nationalsozialisten vertrieben. Damit verschwand auch Lachoudisch aus dem alltäglichen Gebrauch. Zwar beherrschen noch einige christliche Schopflocher die „Geheimsprache“, doch durch den Verfall der eher dörflichen Wirtschaftsstrukturen war diese spezielle Sprache der Händler nun nicht mehr erforderlich. Mit der fortschreitenden Industrialisierung ging das Idiom mehr und mehr verloren.

Seit vielen Jahren bemüht sich die Verwaltung von Schopfloch das Lachoudische vor dem Aussterben zu bewahren. Der langjährige Schoufet Hans-Rainer Hofmann, der als Bürgermeister über 20 Jahre die Geschicke der Marktgemeinde bestimmte, erlag gleich bei seiner Amtsübernahme der Faszination der außergewöhnlichen Sprache. Als er 1978 zum ersten Mal im Gasthaus sein Feierabendbier trinken wollte, tuschelten die Männer vom Stammtisch untereinander: „Rojnt! Der Schoufet hockt im Juschbess un schasgenet sein Schäecher“ (Schau! Der Bürgermeister sitzt im Wirtshaus und trinkt sein Bier). Bei dem Begriff Juschbess handelt es sich um eine Verballhornung des hebräischen Beit ha-jasch. Hofmann verstand nicht ein einziges Wort – doch sein Interesse war geweckt. Fortan hörte er genau zu, ließ sich die Wörter erklären und schrieb alles auf. Heute spricht der Sprachschüler von damals ein nahezu perfektes Lachoudisch. Mit viel Engagement, versucht er die Sprache am Leben zu erhalten: Er bietet Kurse an der Volkshochschule an, hält Vorträge und veranstaltet Seminare. Im Ruhestand veröffentlichte der ehemalige Bürgermeister im Eigenverlag ein Wörterbuch. „Ich möchte die Tradition erhalten“, so Hofmann und erklärt: „Rund 1.500 Wörter sind überliefert, wobei allerdings nur rund 200 noch im täglichen Gebrauch sind.“

Wenn Sie nun Lust bekommen haben mehr über diese geheimnisvolle Sprache zu erfahren, fahren sie einmal nach Schopfloch. Vielleicht treffen Sie dort die Altherrenrunde beim sonntäglichen Frühschoppen. Dann setzen Sie sich dazu, bestellen ein Schäecher oder gar einen Soreff und belauschen die Gespräche am Nachbarstisch. Wenn Sie wissen wollen, was ein Soreff ist, fragen Sie einfach, bestimmt wird man es Ihnen übersetzen. Lechajm!

Bestellen können Sie das Wörterbuch für 8,80 € plus Porto per email bei: hans-rainer.hofmann (at) t-online.de

„Am Schabbes hat der Schoufet frei“ – Schopfloch eine Sprachinsel in Franken“ from medienwerkstatt franken on Vimeo.