The Return of the Wutbürger

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Während die Zustände im fernen Lampedusa allenthalben beklagt werden, setzt die Bundesregierung weiterhin auf Abschottung gegen Flüchtlinge. In deutschen Dörfern und Städten tobt derweil ein rassistischer Furor gegen geplante und bestehende Flüchtlingsunterkünfte…

Von Markus Ströhlein
Jungle World v. 07.11.2013

Politikverdrossenheit? Keineswegs. Rückzug ins Private? Nicht im Geringsten. Fürsprecher des sogenannten Bürgerengagements und der zivilgesellschaftlichen Betätigung müsssten zurzeit ­eigentlich höchst erfreut sein. Denn vom niedersächsischen Dorf Appel über Duisburg, Dortmund und Essen in Nordrhein-Westfalen, Landsberg, Salzweg, Traunstein und Siebnach in Bayern, Hamburg-Wandsbek, Berlin-Hellersdorf und -Reinickendorf, Greiz in Thüringen, Rackwitz und Schneeberg in Sachsen bis ins brandenburgische Pätz hat sich einiges getan in jüngster Zeit. Aufgebrachte Bürger demonstrierten und protestierten, gründeten Bürgerinitiativen, verabschiedeten Petitionen und verfassten offene Briefe, hielten Versammlungen ab und reichten Klagen ein.

Doch anders als die vergleichsweise harmlosen Stuttgarter Wutbürger im Jahr 2010 setzen sich die Wutbürger des Jahres 2013 nicht als menschliche Schutzschilde für einen unansehnlichen Bahnhof und eine Population von Juchtenkäfern ein. Ihre Parole lautet nicht »Oben bleiben!«, sondern beispielsweise »Kein Asyl in Neumühl« oder schlicht »Nein zum Heim«. Schlicht ist auch ihr Anliegen: Sie wollen keine Flüchtlinge, und schon gar nicht vor ihrer Haustür.

In der Wahl der Mittel, ihr Anliegen öffentlich zu machen und nach Möglichkeit politisch durchzusetzen, zeigt sich die Bürgerbewegung gegen Flüchtlinge äußerst flexibel. Im Essener Stadtteil Frintrop etwa kaperten Mitglieder und Unterstützer einer Bürgerinitiative, die sich gegen die Einrichtung eines Flüchtlingsheims in einer ehemaligen Schule richtet, eine Demonstrationsform, die in Deutschland Anfang der neunziger Jahre sehr beliebt war. Die Essener Bürger versammelten sich Ende Oktober vor dem ehemaligen Schulgebäude, entzündeten Kerzen und bildeten eine Lichterkette, wahrscheinlich die erste, mit der jemals gegen Ausländer protestiert wurde. An den Tagen zuvor hatten Unbekannte mehrere Fensterscheiben des Gebäudes mit einer Steinschleuder zerstört. Im bayerischen Traunstein setzten die Gegner eines geplanten Flüchtlingsheims auf Psychoterror. Die Befürworter der Aufnahme von Asylsuchenden und der Eigentümer des Gebäudes, in dem diese hätten unterkommen sollen, erhielten nach Angaben des bayerischen Rundfunks Droh­anrufe, zudem kursierten »fremdenfeindliche Flugblätter«. Der Eigentümer der Immobilie zog schließlich sein Angebot zur Unterbringung mit dem Befund zurück, für die Gegner des Heims seien Flüchtlinge »Menschen dritter Klasse«. Die Bürgerinitiative in Hacheney, einem Stadtteil von Dortmund, bevorzugte den Rechtsweg. Stellvertretend für weitere Anwohner hatte ein Ehepaar gegen den Betrieb einer Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in der Nachbarschaft geklagt. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wies die Klage jedoch Ende Oktober ab. Nun hofft die Bürgerini­tiative auf den Erfolg einer Normenkontrollklage vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.

Auch in dem niedersächsischen Dorf Appel wurde eine Bürgerinitiative gegründet, als der Plan des Landkreises öffentlich wurde, in der Ortschaft mit ungefähr 450 Einwohnern 50 Flüchtlinge unterzubringen. Dies sei »für die Asylbewerber und die Einwohner Appels absolut sozial unverträglich«, schrieb die Initiative in einem offenen Brief, den 140 Einwohner des Orts unterzeichneten und der sich an den Bürgermeister und die Zuständigen im Landkreis richtete.

Häufig bevorzugen die Wutbürger aber nicht Klagen und offene Briefe, sondern das klassische Mittel der Unmutsbekundung: die Zusammenrottung. Die Gegner einer Flüchtlingsunterkunft ­in einer ehemaligen Schule im Berliner Stadtteil Hellersdorf führten die Protestform bereits im Sommer vor und sind ihrer offenbar immer noch nicht überdrüssig: Am vorvergangenen Wochenende schlossen sich dort etwa 70 Personen einem Aufmarsch von 80 Neonazis unter dem Motto »Nein zum Heim« an, an dem sich auch NPD-Funktionäre beteiligten.

Auch im thüringischen Greiz marschieren Bürger Seit’ an Seit’ mit Neonazis gegen ein Flüchtlingsheim, die nächste Demonstration soll Ende November stattfinden (siehe Seite 6). Ob sie allerdings so gespenstisch gerät wie das, was derzeit in Schneeberg stattfindet, ist fraglich. In der sächsischen Stadt mit 15 000 Einwohnern rotteten sich zu Protestdemonstrationen einmal 1 500, ein anderes Mal 2 000 Leute zusammen, Fackeln wurden entzündet, begleitet vom Ruf »Wir sind das Volk!« trat Stefan Hartung, Vorsitzender der NPD im Landkreis Erzgebirge, als Redner auf (siehe Seite 5).

Wie in Schneeberg versucht die NPD auch anderswo, sich zum Sachwalter des Volkswillens aufzuschwingen. Im brandenburgischen Pätz, wo ein Heim für 150 Flüchtlinge entstehen soll, demonstrierten Mitte Oktober die Jungen Nationaldemokraten. Hinter einer Bürgerinitiative, die sich gegen die Unterkunft richtet, sollen Anhänger der Partei stecken, eine Methode, die auch in Berlin-Hellersdorf und Schneeberg Anwendung findet. Einem Bericht von Report Mainz zufolge hat die NPD in diesem Jahr bisher 47 Demonstrationen gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte veranstaltet. »Das erinnert mich an die Situation in den frühen neunziger Jahren, wo es auch so anfing und die Rechtsextremen es geschafft haben, die Stimmung in der Bevölkerung zu radikalisieren«, sagte der Politikwissenschaftler Hajo Funke, dessen Forschungsschwerpunkt auf dem Rechtsextre­mismus liegt, kürzlich dem SWR.

Doch nicht überall war die NPD so zugkräftig wie in Schneeberg. In Krefeld (Nordrhein-Westfalen) beispielsweise, wo eine ehemalige Grundschule in ein Flüchtlingsheim umgebaut werden soll, demonstrierten NPD-Anhänger Ende Oktober ohne Unterstützung aus der Bevölkerung. In Salzweg, Siebnach, Hamburg-Wandsbek, Appel, Essen-Frintrop und anderswo protestieren zwar die Wutbürger, doch die NPD tritt nicht in Erscheinung. Die Gegner der Flüchtlingsheime zu Opfern der Manipulation durch die NPD zu machen, wie Funke es tut, ist deshalb falsch. Die NPD braucht den Protest, der Protest jedoch nicht unbedingt die NPD.

Denn bei der derzeitigen Hetze gegen Flüchtlinge handelt es sich um eine Graswurzelbewegung. Es gab keine politische Kampagne, etwa im Bundestagswahlkampf, die von oben herab dazu animiert hätte. Die Wutbürger handeln aus eigener Motivation. Was sie umtreibt, lassen sie bruchstückhaft wissen. »Eine Mutter berichtet, dass ihre Tochter sich nicht trauen würde, im Dunkeln an dem Haus, in dem die Asylbewerber untergebracht werden sollen, zur Bushaltestelle zu laufen«, schreibt das Hamburger Abendblatt über die Lage in Appel. »Sie haben Angst vor 50 schwarzafrikanischen Menschen. Dass alles mögliche passiert, auch wenn es völlig irrational ist«, sagte Reinhard Kolkmann, der Bürgermeister der Ortschaft, der Zeitung. Einwohner des Hamburger Stadtteils Wandsbek fürchten »slumartige Zustände« und machen sich Gedanken um den Wert ihrer Wohnungen sowie um die Sicherheit. Im bayerischen Salzweg geht die Angst um vor fallenden Immobilienpreisen, einem »Ghetto« in der Nachbarschaft und steigender Kriminalität.

Aufschlussreich ist auch das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten »Leserdebatte« auf der Website des Magazins Focus zur Frage: »Soll Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen?« Überaus häufig war in den Antworten der sich beteiligenden Leser der Textbaustein »auf keinen Fall« zu finden. Während sich vereinzelte Diskutanten um den Fortbestand der europäischen Kultur und des deutschen Volks sorgten, ging es der Mehrheit der Schreiber weniger um geistige als um handfeste materielle Werte. »Schon mal daran gedacht, wer das überhaupt alles bezahlen soll?« fragte einer, um zudem festzustellen: »Wir sind nicht das Weltsozialamt.« Ein anderer hatte »kein Verständnis für Zuwanderung von Wirtschaftsflüchtlingen in unsere Sozialsysteme«. Ein weiterer pflichtete bei: »Jeder Flüchtling, den wir ins Land lassen, nimmt uns etwas aus unseren Sozialkassen weg.« Dass »Sozialtouristen hier zusätzlich alimentiert« würden, war für einen weiteren Schreiber empörend.

Was in den Äußerungen hervorsticht, ist der Hass auf Flüchtlinge als parasitäre Bedrohung für das deutsche Staatswesen – ein Hass, der in regelmäßigen Abständen auch Empfänger des Arbeitslosengeld II trifft. Auch das Schmähvokabular ähnelt sich: hier der »Sozialtourist«, dort der »Sozialschmarotzer«. Hinzu kommt die »Angst vor 50 schwarzafrikanischen Menschen« oder anderen Nichteuropäern. Sozialchauvinismus trifft Alltagsrassismus.

So denkt es zurzeit nicht nur in den üblichen Verdächtigen, also in autoritären Charakteren ostzonaler Prägung. Die Bürgerbewegung gegen Flüchtlinge ist überregional zu beobachten, von Brandenburg über Sachsen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen bis nach Bayern. Und sie ist klassenübergreifend, vom abgebrannten Hellersdorfer bis zur gutsituierten Traunsteinerin. Bislang hat sie ihr Anliegen nicht handgreiflich vertreten. Und anders als in den neunziger Jahren, als Politiker jeden Ranges von der »Asylantenflut« und »Scheinasylanten« redeten, geben die zuständigen Amtsinhaber derzeit keine Impulse, um aus der mancherorts herrschenden Pogromstimmung tatsächliche Angriffe werden zu lassen. Dennoch gilt für Graswurzelbewegungen wie diese: Sie haben ihre eigene Dynamik. Ein Einwohner des bayerischen Orts Salzweg, in dem syrische Flüchtlinge untergebracht werden sollen, gab der ARD, zu seiner Meinung zu den Asylsuchenden befragt, zu Protokoll: »Jeder ist sich selbst der nächste.« Wem zu mittellosen Menschen, die einem mörderischen Bürgerkrieg entkommen sind, lediglich ein solcher Satz einfällt, dem ist alles zuzutrauen.