Über Schein und Wirklichkeit des Gedenkens

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Deggendorf-Mainkofen und seine mehr als tausend Euthanasieopfer…

Von S. Michael Westerholz

Mainkofen zwischen Donau und Isar bei Deggendorf ist vordergründig eine Idylle. Seine mustergültige Heil- und Pflegeanstalt wird Fortschritten in der Psychiatrie und Neurologie stetig angepasst. Doch ein für Mai 2014 dort geplantes Symposium zum Thema „lebenswert – lebensunwert“ wirkt zynisch. Denn 70 Jahre nach der Euthanasie gibt es in Mainkofen für die 621 im Staatsauftrag vergasten, vermutlich ebenso vielen verhungerten Opfer und 512 zwischen 1934 und 1939 zwangsweise sterilisierten Patienten noch immer weder eine Darstellung, noch eine Gedenkstätte. Deren Eröffnung wurde soeben um ein Jahr auf Oktober 2014 verschoben. Begründet wurde dies mit dem politischen Stillstand im Sommer. Die Wahrheit dahinter: Mitten durch den Friedhof der Gedenkstätte sollte eine Straße gelegt werden. Erst die Bezirksverwaltung  in Landshut verhinderte einen erneuten Skandal.

Ums Haar wäre Mainkofens mörderische Realität der Jahre 1934 bis 1945 verdrängt gewesen. Aber vor 30 Jahren reiste Horst Haubenreisser aus Hamburg nach Niederbayern. Dass er in Mainkofen nach Hinweisen auf seinen Bruder Rolf fragte, scheint die Verantwortlichen dort aufgeschreckt zu haben: Der Junge war mit 112 Patienten der hamburgischen Alsterdorfer Anstalten am 12. August 1943 nach Mainkofen deportiert worden. Als Neunjähriger war er am 16. Mai 1945 angeblich an Darmkatarrh gestorben, das Stereotyp bei 15, die Tuberkulose bei 40 der 74 Opfer aus Hamburg.

Zwar wies man den Besucher schroff ab, man wisse nichts. Dabei wäre Rolfs Grab noch auffindbar gewesen. Weil aber die hamburgische Landeszentrale für politische Bildung seit Jahren die Euthanasie- und die Verbrechen an Juden systematisch aufarbeitet und in mittlerweile zahlreichen Broschüren veröffentlichte, bekam Haubenreissers Tochter Karen die Alsterdorfer (Mord-) Akte ihres Onkels Rolf in die Hand. Trotzdem log Mainkofen sie unbeirrt telefonisch an: „Hier wurde niemand getötet!“ „Zu jeder Zeit lag den Verantwortlichen die Menschlichkeit in der Medizin besonders am Herzen,“ sagte denn auch noch Bayerns Sozialstaatssekretärin Melanie Huml (CSU) im Oktober 2011 in ihrem Festvortrag zur 100-Jahrfeier der Anstalt Mainkofen. Von hagalil.com mit der Realität konfrontiert, entschuldigte sie sich öffentlich! Und der für die Anstalt verantwortliche Bezirk Niederbayern begann mit einer Gedenkstättenplanung, unter anderem von Hamburger Opferangehörigen energisch darin unterstützt.

Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen

Die Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen. Aus paradiesischen Zuständen wurden die wehrlosen Kranken unvermittelt in die Hölle gestoßen. (Foto: Sammlung Westerholz)

1984 hatte  Chefarzt Dr. Lothar Blaha im Gelände der Anstalt mit ihren hübschen Pavillons und den Versorgungs- und Patienten-Arbeitseinrichtungen inmitten eines Parks  einen Gedenkstein „für alle Opfer“ des Krieges, also Patienten und Personal, aufstellen lassen. Der Historiker Hans-Ludwig Siemen zählte zwischen 1933 und 1945 in Mainkofen 1 361 standesamtliche Sterbeeinträge, mit sprunghaft ansteigenden Zahlen in den Jahren der amtlichen Euthanasie und jenen der geheimen Fortsetzung nach öffentlichen Protesten vor allem katholischer Bischöfe. Weitere Forschungen offenbarten das schiere Grauen in der scheinbaren Idylle:  Das Credo des Chefarztes Dr. Paul Reiß im Jahresbericht 1935/36:  Er „habe gegenüber der Allgemeinheit die Pflicht, die Ausgaben für wertloses Leben auf ein Mindestmaß zu beschränken.“  Und als ab Dezember 1942 die Ministerialanordnung eines speziell bayerischen Hungererlasses rechtskräftig wurde, hatte der neue Direktor, Dr. Josef Schapfl, ihn im vorauseilenden Gehorsam  längst umgesetzt: Jetzt bekamen offiziell bettlägerige Patienten fett- und salzlose 3 b-Kost aus Kartoffeln und Gemüse, die rasch zum Hungertod führte. Aber auch Arbeitsfähige wurden verhungert. Albert S. (1929 – 2008) zum Beispiel stand hilflosen Mitpatienten bei – und wurde von mitleidigen Familien in der Anstaltsumgebung ein bisschen mitversorgt. Den Strafarrest dafür überlebte er und kam nach Hamburg zurück.

Ausgewählt von einem Arzt und einer Ordensschwester, starben die wehrlosen Opfer. Sie lagen ohne Decken in Lumpen, unreine Kranke nackt, in nicht mehr reinigungsfähiger Wäsche, von Läusen und Krätze geplagt, auf  zerfledderten Stroh-, Seegras- oder Rosshaarsäcken in Massensälen, die im extrem kalt-nassen Winter 1944/45 nicht geheizt wurden. Es gab keine Medikamente. Doch trotz des grausigen Sterbens in sprunghaft steigenden Zahlen schimpfte Verwaltungsleiter Karl Ammersdörfer Schwestern und Pfleger: „Bringt ihr denn gar nicht fertig, dass mehr sterben? Man könnte ruhig etwas nachhelfen. Andere machen das besser!“ (Schwester Paula Weigl bei Ermittlungen gegen Ammersdörfer. Ein Urteil ist nicht bekannt). Mit Abscheu, aber widerspruchslos sahen  Mitarbeiter, wie der Beamte Lebensmittel für sich selbst abzweigte. Schwester Paula Weigl: „Die 30 Jungen, die aus Hamburg kamen, sahen zuerst blühend aus. Jetzt sind sie verfallen.“

Der Berliner Historiker Götz Aly macht in seinem neuen Buch:  „Die Belasteten `Euthanasie´1939-1945: Eine Gesellschaftsgeschichte“, deutlich, was auch auf Mainkofens Opfer zutrifft: Dass die Ermordeten und deren unglückliche Angehörige mitleidlos beschwiegen wurden.  Dass Hamburgs Landeszentrale mit ihrer vorbildlichen Geschichtsaufklärung auch die Bayern in Mainkofen anregen könnte – bisher ist das dort nicht erkennbar. So ist es vor allem Karen Haubenreisser, Michael Wunder und Gleichgesinnten aus Hamburg zu danken, dass auf den Glasplatten des geplanten Denkmals nicht nur Opfernamen, sondern auch deren Lebensdaten zu lesen sind und so den Opfern ein Gesicht geben. Aber – noch ist die Gedenkstätte nicht verwirklicht!  Quintessenz aus Professor Alys Buch, von dem deutschen Widerstandsforscher Professor Dr. Peter Steinbach so ausgesprochen: „Das Schweigen über die Ausgrenzung , die Aussonderung, die Folgen konnte auf Dauer nicht durchgehalten werden. Mehr noch: das darf nicht sein. (…) Aly lenkt den Blick auzf die Opfer und ihre Gefühle, Ängste, ihre Klarsicht. Und er fragt nach den Angehörigen, den Mitleidenden, schildert ihre Verzweiflung, ihre Trauer.“