Mesusa

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Es gibt viele Ehrenamtliche in Deutschland, die sich der Aufklärung des Unsäglichen und des Grauenhaften widmen: Historiker, Hobbyforscher, Einzelkämpfer und Vereine, Lehrer, die ihre Schulklassen für die Aufarbeitung  der geschichtlichen Wahrheit der Naziverbrechen begeistern. Doch der Diplom-Ingenieur Johann Fleischmann (60) aus dem fränkischen Mühlhausen überstrahlt alle mit seiner Mesusa-Serie, deren 9. Buch soeben erschienen ist…

Von S. Michael Westerholz

Johann Fleischmanns Arbeitskreis „Jüdische Landgemeinden an Aisch, Aurach, Ebrach und Seebach“ deckt mit seiner  in die gesamte Welt ausgedehnten Historienforschung jene deutsche Region ziemlich genau ab, in der  die meisten jüdischen Deutschen außerhalb der  Großstädte inmitten ihrer deutschen Landsleute lebten. In dieser fränkischen Landschaft des so genannten Steigerwalds im bayerischen Landkreis Erlangen-Höchstadt unweit Nürnbergs und Fürths hatte sich eine weitgehend symbiotische Gemeinschaft entwickelt.

Spätmittelalterliche Pogrome in Nürnberg hatten frühe jüdische Mitbürger in die Umgebung vertrieben. Und hier gab es Gemeinden, in denen fanatische deutsche „Arierforscher“ des NSDAP-Regimes so gut wie keine alteingesessene Familie  ohne jüdische Großeltern oder sonstige Verwandte mehr antrafen.  So gehörte einst fast jeder dritte Mühlhausener Bürger der jüdischen Gemeinde an. Und eine Vorfahrin Fleischmanns hatte einen jüdischen Nachbarn geheiratet.

Die Forschungen Fleischmanns und seiner zahlreichen Mitarbeiter aus allen Gesellschaftskreisen belegen stetig deutlicher, dass das Miteinander ein Vorteil für alle war. Der heute noch existierende Kindergarten Mühlhausens ist eine Stiftung zweier jüdischer Mitbürgrer aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sogar an sich so streng gehütete geistige-theologische Refugien von christlichen Kirchen hatten sich hier längst im gegenseitigen Respekt und gegenseitiger Hilfe geöffnet: Pfarrer der christlichen Konfessionen diskutierten mit Rabbinern religiöse Grundfragen, und wechselseitige Kirchen- und Synagogenbesuche sowie Festgemeinschaften waren keine Seltenheit. Auch, dass in dieser Region zahlreiche zerstörte oder missbrauchte Synagogen wie jene in Mühlhausen, andere Bauwerke und zum Beispiel die acht jüdischen Friedhöfe der Region  wieder aufgebaut oder erneuert wurden, ist ein Ergebnis der Tätigkeiten Fleischmanns und seiner Mitstreiter.

Dass immer mehr Nachfahren der vertriebenen, geflohenen oder ermordeten Franken jüdischen Glaubens  die verlorene Heimat aufsuchen und hier mit auffallender Selbstverständlichkeit und Genauigkeit die Schicksale ihrer Ahnen klären können, ist ein Erfolg der Arbeit Fleischmanns und seiner Mitarbeiter:  Typisch, was sich in der Gemeinde Adelsdorf ereignete, als dort Angehörige der Familie Rindfleisch eintrafen. Sie entdeckten einen Straßennamen, der sie entsetzte: Denn mit ihm ehrte die Gemeinde einen Schuldirektor, unter dem die jüdischen Schüler grauenhaft gelitten hatten. Als der Name getilgt wurde, kam es zu öffentlichen Demos von Anhängern des Schuldirektors, sogar SPD-Granden  darunter. Gerichtliche Auseinandersetzungen entwickelten sich. Heute sind die einstigen jüdischen Familien und deren Nachfahren auch in Adelsdorf wieder gerne gesehene Gäste. Mit Sicherheit ist keine jüdische Historie irgendeiner  deutschen Region so genau, ehrlich und selbstkritisch  erforscht wie jene in der fränkischen Landschaft um Mühlhausen und bis vor die Tore der alten Kaiser- und Reichsstadt Bamberg.

Fleischmann, schon als Soldat der Bundeswehr  als mitreißend eloquenter Geschichtslehrer junger Kameraden erfolgreich, wurde bereits 2006 mit dem Obermayer German Jewish History Award ausgezeichnet, vorgeschlagen von Juden in aller Welt. Der Mann, der sich in deutschen, aber zum Beispiel auch in New Yorker Archiven umschaute, der mit seinem Newsletter 200 Kontakte in aller Welt pflegt, der ein einzigartiges Archiv der jüdischen Geschichte im fränkischen Steigerwald aufgebaut hat und fast jede freie Stunde nutzt, um in Vorträgen quer durch Franken Aufklärung zu leisten, lässt sich nicht einmal von einer schweren Erkrankung bremsen:  Mesusa  Nr. 9 stellte er gegen Jahresende 2012 während einer Reihe von Chemotherapien fertig, arbeitete aber zugleich schon den beiden beiden folgenden Ausgaben, die 2015 und 2017 erscheinen werden und weitgehend fertig konzipiert sind. Und während Johann Fleischmann in Bad Brückenau weitab von seiner heimatlichen Region in einer Rehabilitationsklinik wieder zu Kräften zu kommen versuchte, erarbeitete er sich dort einen Überblick über jüdische Verfolgte aus dieser Region, um bald darauf darüber Vorträge zu halten.

In den meisten der Bücher, die seit 1994 erschienen sind, hat Fleischmann mit einigen oder vielen Autoren zusammengearbeitet. Er hat auch Geschichten verarbeitet, die ihm Nachkommen einstiger jüdischer Franken voll Vertrauen übereignet haben. Mesusa 9 aber ist die von Fleischmann allein geschriebene Vita des am 4. September 2013 vor 150 Jahren geborenen Carl Marschütz aus Burghaslach, der 1886 die Nürnberger HERCULES-Werke gründete, ein Unternehmen von Weltgeltung, in dem Marschütz selbst und seine Ingenieure mit sensationellen technischen Entwicklungen Furore machten. Denn HERCULES war die älteste und zugleich innovativste Zweiradschmiede der Welt, die Mitarbeiter bauten Fahrräder, davon 120 im ersten Jahr, Mofas, Motorräder und Lastwagen. Das Werk war mit City-,  Gepäck-, Droschken-, Trekking- und Elektrorädern zeitweise Weltmarktführer.  Carl Marschütz, der sich 1931 aus der Fabrikation verabschiedet hatte und sich als als 75-Jähriger zur Ruhe setzte, starb 1957 in Los Angeles. Wie die meiden enteigneten und „arisierten“  Unternehmer war auch er nicht annähernd zum wahren Wert seines geraubten Eigentums entschädigt worden.

Marschütz, der sich als junger Mann einen Holz-Rower, ein Fahrrad mit einem kleineren Hinterrad, eigenhändig gebaut hatte, gehörte in 4. Generation einer seit 1759 in Franken beurkundeten  Lehrerdynastie an. Kaufmann sollte er werden, aber schon 1885 meldete er sein erste Patent an – für ein „Bremsschloss für Bicycles“.  1889 ehelichte er Adele Honig,  ihr gemeinsamer zweiter Sohn Leopold wurde ein berühmter Maler in Frankreich.  1896  errichtete Marschütz  das HERCULES-Velodrom in Nürnberg, in dem es sportliche Radlwettkämpfe, aber auch die amtlichen Prüfungen für den „Fahrerberechtigungsausweis“ gab. Später wurde der Bau für die Großgastronomie und Parteitage genutzt. 1944 zerbrombt, errichteten die US-Soldaten hier ein Armeekino, heute steht dort Nürnbergs Schauspielhaus.

Carl Marschütz entkam 1940 in die USA, auch seines letzten Privatbesitzes beraubt. Ab 1941 lebte er in Los Angeles. Der Mann, der sich trotz bescheidenen Lebensstils gegenüber seinen Mitarbeitern und der Gemeinde stets großzügig gezeigt hatte und sich als Deutscher fühlte, schrieb voller Trauer seinem Sohn Leo: „Sehen werde ich von Germany nichts mehr, aber meine Gedanken sind noch drueben.“ Mit dem Buch von Johann Fleischmann in deutscher und englischer Sprache ist Carl Marschütz heimgekehrt  –  auch als Denkmaler seiner selbst und als Mahner vor neuer Intoleranz und schierem Vernichtungswillen.

Mesusa 9, 412 Seiten, zahlreiche Fotos und Urkundskopien, ist über Johann Fleischmann, per Telefon und Fax  unter der Nummer 09548/721, oder per eMail an johann.fleischmann(at)mesusa.de  zu erwerben.