„Können wir Juden in Deutschland als angekommen gelten?“

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Im Kölner NS-Dokumentationszentrum diskutieren vier Söhne von Holocaust-Überlebenden die Frage nach ihrer Identität…

Von Maria Heer

Sie hatten eine zerrissene Kindheit. Ihre Eltern sind der mörderischen Nazi-Verfolgung entkommen und konnten ihre Kinder retten – aber zu welchem Preis? Das Sonderheft der Zeitschrift „Psychoanalyse“ 1/2012, herausgegeben von Roland Kaufhold und Bernd Nitzschke, versammelt 14 Stimmen zum Thema „Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust“.  Vier von ihnen konnte jetzt ein großes engagiertes Publikum im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln leibhaftig hören. Für sie gilt, was Roland Kaufhold als Mitveranstalter über Gemeinsamkeiten in den Biografien erklärte: „Normal ist ein Leben als Jude in Deutschland bis heute nicht.“

Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust

Die Vier, die da auf dem Podium sitzen, sind nach abenteuerlichen Fluchtwegen ihrer Familien im Rheinland gelandet. Peter Finkelgruen, 1942 in Shanghai geboren, in Prag und Tel Aviv aufgewachsen und als 17-Jähriger mit seiner Großmutter nach Deutschland gegangen,  wurde Journalist in Köln. Uri Kuchinsky ist Geschäftsführer des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie in Düsseldorf; er kam 1954 in Tel Aviv zur Welt und wurde als Acht-Jähriger nach Köln verpflanzt.

Uri Kuchinsky (l.) und Peter Finkelgruen
Uri Kuchinsky (l.) und Peter Finkelgruen

Der gleichaltrige Peter Pogany-Wnend stammt aus Budapest, von dort emigrierten seine Eltern mit dem Zwei-Jährigen nach Chile und 14 Jahre später nach Deutschland; seit 1996 arbeitet er als Facharzt und Psychotherapeut in Köln. Der Kölner Internist Peter Rosenthal, 1960 in Arad/Rumänien geboren,  wo die Eltern als Süd-Banater dem Nazi-Terror entkamen, floh mit seiner Familie 1974 vor der Ceausescu-Diktatur nach Köln.

Allen gelingt es, offen und mit großer Intensität zu sprechen von dem Schicksal, als Kind die eigene Welt zu verlieren und konfrontiert zu werden mit  der Gesellschaft der Täter und ihrem Schweigen. Sie erinnern sich: „peinliches Schweigen überall“. Die Kinder erfuhren von ihren Eltern wenig von den unsagbaren Schrecken des Holocaust. In Deutschland wurde aus anderem Grund geschwiegen. Den Ausweg fanden  sie in zwischenmenschlicher Beziehung. Zwei dieser jüdischen Kinder im Deutschland der 60er und 70er Jahre wurden Ärzte, einer ist Psychologe und einer  arbeitete als Korrespondent der Deutschen Welle in Jerusalem. Diese Männer stehen schon beruflich in ständigem Austausch mit Menschen der einen wie der anderen Seite.

Peter Pogany-Wnend
Peter Pogany-Wnend

„Meine Heimat ist mein Beruf als Hausarzt“, sagt Peter Rosenthal. Der Psychotherapeut Pogany-Wnend  fand ein Zuhause in dem von ihm mitgegründeten „Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust“ (www.pakh.de). „Ich bin jetzt erleichtert, weil die, die in der NS-Zeit  aktiv gewesen sein können, nicht mehr da sind“, bekennt der Psychologe Uri Kuchinsky; „aber die nicht verarbeiteten Konflikte bleiben im Unterbewusstsein.“ „Angekommen“ in Deutschland fühle er sich nicht. Neben der prägenden elterlichen Identität gäbe es andere, wechselnde Identitäten.

Peter Rosenthal
Peter Rosenthal

Und welche Rolle für die Identität spielt das Jüdisch-Sein?

Die Antworten auf diese Frage des Moderators Lorenz S. Beckhardt vom Westdeutschen Rundfunk spiegeln beispielhaft die Bandbreite jüdischen Selbstverständnisses, wie sie sich auch in Israel zeigt. Peter Finkelgruen vergleicht sein Judentum mit einem Billardtisch: „Die Position ändert sich je nach der Ecke, aus welcher der Ball rollt.“ Peter Pogany-Wnend schildert seinen inneren Konflikt: „Es fällt mir nicht leicht, über mein Jude-Sein öffentlich zu sprechen, besonders hier, am einstigen Ort des Grauens.“ Das NS-Dokumentationszentrum,  heute Ausstellungs- und Forschungsstätte,  war im Dritten Reich die Gestapo-Zentrale Kölns, wo gefoltert und gemordet wurde. Aber, so Pogany-Wnend, für ihn sei  dies Gespräch vor und mit Publikum  auch ein „Triumph über die Täter und ihre Absichten“. „Ich bin nicht religiös“, sagt er; „Jüdisch-Sein ist ein Gefühl der Zugehörigkeit“.

Im Judentum gehe es um Lebensform und nicht um Gefühl, widerspricht Uri Kuchinsky, aufgewachsen in einem konservativ-religiösen Elternhaus.

Vordringlich sei  hier  nicht Gottesglauben, sondern das Gesetz. Peter Rosenthal begreift sich zuerst und vor allem als Rumänen; Jude-Sein sei nun mal gekennzeichnet durch den Holocaust.  Rosenthal erntet befreites Lachen, als er über die Vornamen der Gesprächsteilnehmer reflektiert: „Hier sitzen drei Peter auf dem Podium. „Peter“ hatte etwas Unverfängliches“.

Mehr und mehr lockerte sich die angespannte Atmosphäre, als Zuhörer sich zu Wort meldeten. Da gab es  die unterschiedlichsten Migrationsgeschichten und Sprach-Akzente. Wer ist wo seit wann zu Hause?  In manchen Wanderungs-Biografien blieb das offen. Aber zugleich wurden Gemeinsamkeiten deutlich, die Juden und Nichtjuden in ihrer Suche nach Heimat miteinander verbinden. Als ein junger Mann fragte: „Wann können wir Juden in Deutschland als angekommen gelten?“, da hatte sich schon ein Klima des Einverständnisses gebildet. Überraschend stellte sich heraus, dass Zugehörigkeit empfunden wird, wenn man zusammen  unterwegs ist, seine Geschichte erzählt und der anderen zuhört.

Fotos: © D.M.