„Ich glaube nicht an absolute Wahrheiten“

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Die Budapester jüdische Monatszeitschrift „Szombat“ im Gespräch mit Hans-Henning Paetzke…

Hans-Henning Paetzke geb. 1943 in Leipzig, 1960 wegen Verunglimpfung des Staatsoberhaupts der DDR Verweisung von sämtlichen Gymnasien der DDR, 1960-63 Ausbildung als Schauspieler, 1963 fristlose Kündigung durch das Staatliche Dorftheater Prenzlau wegen Verletzung der Staatsbürgerpflichten, 1963-64 Verbüßung einer Gefängnisstrafe wegen Wehrdienstverweigerung, 1967 Abitur, 1967-1976 Studium der klassischen Philologie, Germanistik und Psychologie in Halle/S., Budapest und Frankfurt/M., 1968 Emigration nach Ungarn, 1973 nach Frankfurt/M., 1981-85 persona non grata in der DDR, 1985-88 persona non grata in Ungarn, 1994 Rückkehr nach Budapest. Seit 1968 freiberuflich als literarischer Übersetzer, Herausgeber, Journalist und Schriftsteller tätig, zirka 70 Buchübersetzungen. Letzte Buch-Veröffentlichungen: Blendwerk-Trilogie in der Edition Pernobilis des Engelsdorfer Verlags, Leipzig: „Die gelöste Zunge“, „Versucher und Versuchte“, „Seelenrisse“.

Das Gespräch führte Gábor T. Szántó

Geboren mitten im Zweiten Weltkrieg, wegen sogenannter Hetze gegen Walter Ulbricht von der Oberschule verwiesen. Schauspielausbildung, von dort wegen Verletzung der Staatsbürgerpflichten fristlos entlassen, wegen Wehrdienstverweigerung inhaftiert. Du entstammst einer nicht durchschnittlich zu nennenden Familie. Dein Vater war Leiter der Reichsfilmkammer für Sachsen, Thüringen und Böhmen-Mähren. Deine in Polen lebenden jüdischen Tanten verdanken ihre Befreiung aus Auschwitz deinem Großvater, einem Gestapo-Offizier. Du bist ein im Exil lebender Deutscher. Durch Heirat mit einer Ungarin im Alter von fünfundzwanzig Jahren Erlernen der ungarischen Sprache. Übersetzung von Miklós Mészölys ((Miklós Mészöly, 1921 – 2001, bedeutender moderner Schriftsteller)) Roman Saulus für den Leipziger St. Benno Verlag. Dies ist der Anfang einer Laufbahn als literarischer Übersetzer. Seither hast du mehr als siebzig Bücher ins Deutsche übersetzt, einen großen Teil der ungarischen Literatur. Vor einigen Jahren hast du dich an deine autobiographische Trilogie Blendwerk gesetzt, wovon die beiden ersten Bände bereits auch auf ungarisch erschienen sind. Der dritte Band wird gerade übersetzt. In dieser Trilogie scheinen die Geschichte des Ostblocks auf sowie neben einem besonderen Lebensweg, Denken und Liebesabenteuern legendäre ungarische Figuren aus Geschichte und Literatur der zurückliegenden sechzig Jahre. Wärest du nicht nach Ungarn geraten, das Gefühl habe ich, hättest du Deutschland früher oder später unbedingt den Rücken gekehrt. 

Wer weiß? Die Vergangenheit ist etwas nicht mehr zu Korrigierendes. Die Sehnsucht, die damalige Gegenwart, die mit ihren Lügen bedrückende DDR-Gegenwart, abzuschütteln, war übermächtig, verleitete mich allerdings nie dazu, als blinder Passagier die Weltmeere bereisen zu wollen. Ein diffuses Unbehagen mit den bestehenden Verhältnissen hatte schon als Kind von mir Besitz ergriffen. Die Menschen um mich her, deren Umgang mit Vergangenem und Gegenwärtigem, befremdeten mich.

Das heißt natürlich keineswegs, daß ich vor lauter Vereinsamung in Depression verfallen wäre und keine Freunde gehabt hätte. Im Gegenteil. Dennoch wirkte ich auf die anderen als ein bunter Paradiesvogel, als ein Grenzüberschreiter, als ein sympathischer oder auch unsympathischer und arroganter Fremdkörper.

Erzähle mir etwas von deiner Familie!

Mein Vater ist in Vordamm geboren, dem äußersten, nach Osten vorgeschobenen Posten der Provinz Brandenburg. In diesem Grenzbewußtsein ist er aufgewachsen. Dem mag sein Interesse am Deutschen Ritterorden zuzuschreiben sein, über den er promoviert hat. Der politisch zu instrumentalisierenden Geschichte des Deutschen Ritterordens galt auch die Aufmerksamkeit von Reichsführer SS Heinrich Himmler. Der war 1939 auf die wissenschaftliche Arbeit meines Vaters aufmerksam geworden und versuchte, ihn als Historiker ins Reichssicherheitshauptamt zu holen, wo er als Historiker die nationalsozialistischen Ordensburgen für den Nachwuchs der Reichselite ideologisch stärken sollte.

Meine Mutter, die Ehestreit nicht kannte, beschwor ihn, sich nicht vor den Karren der SS spannen zu lassen. Die rassistischen Parolen der SS waren ihr verdächtig. Sie machte meinen Vater darauf aufmerksam, daß sich der Speer eines Tages auch gegen sie richten könnte, schließlich sei die eigene arische Abstammung als geborene Pietraszewski, zu deutsch die Ängstliche, allein schon wegen ihres Namens nicht unangreifbar, aber auch die Herkunft seiner Mutter, einer geborenen Wroblewski, könnte bei arischen Rassenfanatikern Anlaß zu Stirnrunzeln geben. Wroblewski, zu deutsch der Sperlinghafte, was für ein deutscher Name! Meine Mutter war in ihrer unerschütterlichen Liebe stark genug, ihren Mann vor einer törichten Entscheidung, die sich zu einem grandiosen Verbrechen entwickelt hätte, zu bewahren. Stattdessen ging er als Leiter der Reichsfilmkammer für Sachsen, Thüringen und Böhmen-Mähren nach Leipzig. Hier nun ist er nur knapp einer Einweisung in ein Konzentrationslager entgangen. Zumindest ist ihm damit unverhohlen gedroht worden, denn er hatte sich mit dem sächsischen Reichsstatthalter und Ministerpräsidenten Martin Mutschmann angelegt, der einem Dresdener Jagdfreund und Kinobesitzer gern dessen über 100.000,- Reichsmark Steuerschulden erlassen wollte, dabei aber überraschend auf den erbitterten Widerstand des Volksgenossen Dr. Paetzke stieß. Vermutlich wußte der, dem der Sinn für Anstand trotz seiner ideologischen Verblendung nicht abhanden gekommenen war, nicht, daß es unter den höchsten Nazibonzen fast schon zum guten Ton gehörte, an das Reich keine Steuern abzuführen. Da machte selbst Hitler keine Ausnahme.

Im Herbst 1942 muß es gewesen sein, als Mutschmann zwei seiner Vertrauten beauftragte, sich mit meinem Vater unter konspirativen Bedingungen auf der Autobahn zwischen Leipzig und Halle zu treffen, um ihn auf Parteilinie einzuschwören. In drei schwarzen Mercedeslimousinen fuhren sie im Konvoi zu einem Parkplatz. Mein Vater hatte in seinem Dienstwagen meinen vierjährigen Bruder mitgenommen, vielleicht aus Angst davor, daß ihm etwas zustoßen könnte. Nun ja, das KZ blieb meinem Vater trotz allem erspart. Stattdessen wurde er, nachdem er aus der NSDAP in Unehren ausgeschlossen worden war, als einfacher Soldat an die Front geschickt. Er war damals Mitte dreißig. Mein Großvater Friedrich, ein Deutsch-Nationaler und Nationalsozialist der ersten Stunde, Geschäftsführer eines der größten deutschen Bauunternehmen, wurde nach dem Insolvenzverfahren der Firma Zollbeamter und schließlich überzeugter Gestapo-Beamter. In den fünfziger Jahren besuchten wir ihn gelegentlich in Westdeutschland. Sein stechender Blick und seine keinen Widerspruch duldenden Anordnungen machten mir Angst. Hinter vorgehaltener Hand war von Verwandten zu hören, daß er sich zusammen mit Polen, die wegen sogenannter Rassenschande verkehrt herum aufgehängt worden waren, stolz fotografieren lassen habe. Aber von meinem Vater erfuhr ich auch, daß er zwei meiner Großtanten, die in Warschau an einem polnischen Gymnasium Polnisch unterrichteten, aus der Hölle Auschwitz herausgeholt hat. Natürlich konnten und durften sie weder Polen noch Juden sein. Denn das hätte ihn und vor allem seine Frau, die Schwester der beiden Frauen, verdächtig gemacht. Der Name Wroblewski war ohnehin schon belastend genug. Und zu allem Verdruß war auch der Mädchenname der Schwiegertochter, meiner Mutter, nicht unbedingt urgermanisch zu nennen. Trotz einer tief in mir wurzelnden Überzeugung, mit den Verbrechen meines Großvaters nichts zu tun zu haben, keinerlei Mitverantwortung dafür zu tragen, belastet mich die Nähe zu einem Menschen, der aus Überzeugung zum Verbrecher geworden ist, sich im Wahn seines Blutrauschs fotografieren lassen und am Leid anderer Menschen ergötzt hat.

Warum plaudere ich etwas aus, was ich über Jahrzehnte wie ein Staatsgeheimnis behandelt habe? György Petri ((György Petri 1943 – 2000, Philosoph und genialer Dichter, der sich stolz auch zu seinen jüdischen und donauschwäbischen Ahnen bekannt hatte und ab 1977 eine der wichtigsten Persönlichkeiten des demokratischen Widerstands wurde.)) muß etwas davon geahnt haben, als er mich in den achtziger Jahren zu mitternächtlicher Stunde in meiner Frankfurter Wohnung fragte, ob es wahr sei, daß mein Vater Gestapooffizier gewesen sei. Ich antwortete ihm wahrheitsgemäß mit Nein und war erleichtert, daß er nicht weiter in mich drang. Doch das Thema von Opfern und Tätern, das Thema wechselnder Rollenspiele, ist mein Lebensthema geworden. Nicht nur meines. Auch Miklós Mészöly beschäftigt sich in seinem Roman „Saulus” mit dieser existentiell beängstigenden Frage. Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß es unsere Lebenslügen sind, die falsche Lagen schaffen und schlimmstenfalls zur Hysterie führen. Dies trifft für den einzelnen ebenso zu wie für eine Gemeinschaft. Fast überall auf der Welt gibt es Kinder oder Enkel von Politverbrechern. Und überall hüllen sie die Familiengeschichte in einen Schleier des Schweigens. Aus durchaus verständlicher Scham. Um mit sich selbst identisch zu sein, bedarf es nicht der Identifizierung mit den Größen der eigenen Nation. Vielmehr gilt es, die eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten und daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen.

Du wirst nicht als Goethe, Mozart oder Kafka geboren, nicht als Mengele, Eichmann oder Hitler, nicht als Stalin oder Rákosi, nicht als Baron Neumann oder Einstein, nicht als Bartók, Kodály, Solti, András Schiff, György Konrád oder Imre Kertész.

Du hast es weitestgehend in der Hand, zu dem zu werden, der du werden möchtest oder kannst. Genetisch setzen wir das Leben unserer Ahnen fort, gesellschaftlich und geistig aber keineswegs. Es sei denn, daß wir die Familiengeschichte zu verdrängen versuchen, uns in ein Gespinst aus Lebenslügen hüllen. Solche Lügen machen krank und machen uns in übertragenem Sinn zu Komplizen von Verbrechern, vielleicht auch zu Komplizen der eigenen Biographie. Viele Beispiele könnten angeführt werden. Eines der bekanntesten dafür dürfte wohl Günter Grass sein, der seinen Nobelpreis seiner literarischen Leistung und der verschwiegenen SS-Vergangenheit zu verdanken hat.

Wie bist du, wie seid ihr Ostdeutsche geworden?

Nach unserer Flucht aus Leipzig vor den Bomben nach Pommern und von dort zurück vor den Russen nach Leipzig in unser unversehrtes Haus im Stadtteil Gohlis schien es geraten zu sein, dem unsicheren Schicksal in den Westsektoren der Wohnstabilität in Leipzig den Vorzug zu geben. Nachdem ich im Zuge eines Bombenangriffs verschüttet worden war und bis zu meinem fünften Lebensjahr das begonnene Sprechen durch absolute Stummheit eingetauscht hatte, bin ich bis auf den heutigen Tag gefangen in der Angst vor Bomben und Gewalt. Die Jahre der Stummheit könnten die psychische Grundlage für meinen Widerstand gegen das mir überall begegnende Unrecht sein. Mein Vater machte nach dem Zusammenbruch eine schwere psychische Krise durch, von der er sich nie mehr wirklich erholt hat. Ein schweres Asthma bemächtigte sich seiner. Diese starke Beeinträchtigung ließ es nicht geraten erscheinen, eine unsichere Zukunft im Westen zu riskieren.

Welche Lektüre jüdischer Autoren hat dich in deiner Jugend beeinflußt?

Lion Feuchtwangers „Jud Süß” und „Die Jüdin von Toledo” wirken bis heute auf mich nach. Zu nennen wären aber auch Arthur Schnitzler, Franz Kafka, Stefan Zweig und das Alte Testament, das ich in meiner Cottbuser Einzelzelle gleich zweimal gelesen habe.

Kritisch begegnest du nicht nur allen totalitären Regimen, sondern Vorbehalte machst du auch der 68er Bewegung gegenüber geltend. In den Kreisen der demokratischen Opposition Ungarns bildet diese Haltung eher eine Ausnahme. Deine Renitenz ist offensichtlich grenzübergreifend.

An absolute Wahrheiten habe ich nie geglaubt, und das tue ich auch heute nicht. Ich bin ein Eklektiker. Vielleicht ist hierin die Erklärung dafür zu suchen, daß mir die Budapester Fassaden schon in den sechziger Jahren besser gefallen haben als das von Kunsthistorikern der ungarischen Metropole vorgezogene Prag. Wer da meint, sich für ein absolutes Schönheitsideal oder eine absolute Wahrheit entscheiden zu müssen, der landet irgendwann unversehens in einer Diktatur der Kunst oder eben einer Diktatur der Politik. Und richtet sich darin ein oder reibt sich verwundert die Augen und wischt sich verstohlen Tränen aus den Augen.

Erzähle mir doch etwas zu Deiner Sicht der deutschen Vergangenheitsbewältigung! Vie ist davon zu hören. Aber wie hast du sie aus nächster Nähe erlebt? Hat sie dein Denken beeinflußt?

Vergangenheitsbewältigung? Die hat es nie gegeben und kann es auch nicht geben. Vergangenheit ist etwas Geschehenes, nie wieder Gutzumachendes. Im Ungarischen spricht man von Aufarbeitung. Dieser Begriff trifft das Problem schon eher. Doch wie kann eine Diktatur die Schrecken einer vorangegangenen Diktatur aufarbeiten? Mit instrumentalisierenden Lügen und Halbwahrheiten. In dieser Atmosphäre bin ich in einem Staat, der für die Verbrechen der Nazis keine Mitverantwortung übernehmen wollte, aufgewachsen. Die Lügen und Halbwahrheiten haben meinen Blick schon früh dafür geschärft, daß die Wahrheit vielschichtig und deshalb nur schwer zu fassen ist.

Noch nie haben wir beide über die Frage deiner Identität gesprochen. 

Fast jeden Tag beschäftigt mich diese Frage. Eine Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden. Warum nicht? Weil meine Identitäten zwischen deutscher, polnischer, jüdischer, russischer, ungarischer, mitteleuropäischer, weltbürgerlicher, und noch viele andere ließen sich anführen, wechseln wie das Wetter. Schizophrenie? Ein wenig schon. Doch diese Schizophrenie ist es, die mich davor bewahrt, für irgendeinen rassistischen, nationalistischen oder politischen Wahn anfällig zu sein. Zwei Identitäten aber gibt es, die ich noch nicht erwähnt habe, nämlich die der deutschen und der ungarischen Sprache. Neben allen anderen Identitäten sind sie es, die meinen Alltag beherrschen. Für den Rest meines Lebens werde ich mich von ihnen wohl nicht befreien können und auch nicht wollen. Sie sind meine Heimat.

Welche Beziehung hattest du zu deinem Vater? Konntest du mit ihm über seine Rolle im Dritten Reich reden?

Nein, niemals. Alles, was ich von ihm weiß, habe ich mit viel kriminalistischem Spürsinn zusammentragen müssen.

Hängt dein Beruf – literarisches Übersetzen, Kulturvermittlung und Schreiben – damit zusammen, daß du allzu enges Verschmolzensein mit einer Nation, mit einer Kultur in gewissem Sinne für riskant hältst?

Manchmal ertappe ich mich dabei, stolz auf die ungarische Kultur zu sein, die für mich berufsbedingt vor allem Literatur bedeutet. Natürlich ist das ein ziemlicher Schwachsinn, denn die ungarische Literatur gibt es nicht, vielmehr einzelne Autoren. Und sie gehören der ganzen Menschheit, nicht der ungarischen Nation. Nicht zu reden davon, daß es die ungarische Nation gar nicht gibt. Eher schon könnte man von einem Sprachverband sprechen, dem ich mich durchaus zugehörig fühle.

Du schreibst, ein alter Freund von dir, ein ehemals kommunistischer Politiker der Stalinära, habe dich darin unterwiesen, daß sich in Diktaturen die Rolle von Verbrecher oder Opfer leicht austauschen lassen. Jeder könne sowohl dieses als auch jenes sein…

In dieser Wahrheit hat mich mein Freund György Heltai unterwiesen, der im Verhör zum Rajk-Prozeß seinem Freund und Vernehmer Gyula Décsi begegnet ist. Obwohl er nie ein Täter geworden ist, bekannte er sich dazu, daß er, hätte ihn die Partei darum gebeten, sehr wohl auch ein Täter hätte werden können. Ich befürchte, daß in jedem von uns nicht nur die Opfer-, sondern auch die Täterrolle angelegt ist. Als Zwanzigjähriger durfte ich für einige Wochen den prügelnden Chef eines Waisenheims vertreten. Es dauerte nicht lange, daß auch ich gelegentlich Ohrfeigen austeilte. Ich war heilfroh, mich alsbald aus dieser recht fragwürdigen Tätigkeit davonstehlen zu dürfen. Strukturell gesehen, so glaube ich, ist der Unterschied zwischen kleinen und großen Tätern viel kleiner, als man meinen mag. Die Geschichte meiner Haft und das Waisenheim haben in mir einen Bewußtseinsprozeß ausgelöst, demzufolge ich mich auch heute immer wieder darum bemühe, kein Täter zu sein.

Wie sind die ungarischen Titel deiner Bücher („Fremdkörper“ und „Augentäuscher“) zu verstehen?

Ja, diese Titel spiegeln meine Befindlichkeiten. Irgendwie bin ich mein ganzes Leben lang für die anderen stets ein Fremdkörper geblieben. Überall sehe ich die tatsächlichen und manchmal vielleicht auch nur vermeintlichen Augentäuschungen. Die Lügen und Täuschungen der anderen umzingeln mich. Aus den eigenen Lügen und Augentäuschungen versuche ich, Tag für Tag auszubrechen. Mit einem Wort, die mich umgebenden Lügen und Augentäuschungen habe ich zu meinem Thema gemacht.

Wer ist dein Lieblingsautor und wer dein Lieblingsschriftsteller unter denen, deren Bücher du übersetzt hast?

Karl Philipp Moritz geistert mit seinem psychologischen Roman Anton Reiser, erschienen zwischen 1785 und 1790, seit vielen Jahren durch meine Träume. Viele andere Autoren ließen sich nennen. Doch von Moritz fühle ich mich auch heute noch angezogen. Bei den ungarischen Autoren fällt es mir schwerer, keine Namensliste mitzuteilen. An erster Stelle will ich György Konrád nennen, der mir literarisch, übersetzerisch und menschlich am nächsten steht. Seinem Schreiben und Denken fühle ich mich zutiefst verbunden. György Petri, dem genialen Dichter des Alltags, und János Pilinszky, den die Verbrechen des Faschismus in die Einsamkeit gestoßen haben, kommt ein sehr vornehmer Platz in meiner Arbeit zu. Doch eigentlich müßte ich alle von mir übersetzten und herausgegebenen Autoren anführen, habe ich das Übersetzen von Büchern doch meist als eine Art wechselnder Liebesbeziehungen erlebt. Mit zunehmendem Alter schwächen sich meine diesbezüglichen polygamen Neigungen ab und tendieren zu monogamem Schreiben. Nur selten noch lasse ich mich auf literarische Liebesabenteuer ein.

Wie ist die pikareske Struktur deiner Romantrilogie entstanden? War die Unmenge des Erlebten anders nicht zu bändigen?

Seit geraumer Zeit arbeite ich daran, das pikareske Moment zu zügeln. Das Autobiographische soll in den Vordergrund treten. Leo Kleinschmidt soll von einem Ich-Erzähler abgelöst werden. Nach dem Muster von Karl Philipp Moritz könnte nun ein autobiographischer psychologischer Entwicklungsroman entstehen. Sollte mir in den nächsten Jahren noch genügend Kraft bleiben, so will ich meiner Lebensgeschichte als Zeitgemälde neuen Atem einhauchen.

Mehr zu Hans Henning Paetzke: http://www.hanshenningpaetzke.de/