Interview mit Rabbi Rothschild: „Musik geht tief rein“

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Walter Rothschild ist Rabbiner, nebenbei Experte für Eisenbahngeschichte, Jazzer – und Leidtragender der Streitereien in der Berliner jüdischen Gemeinde. Das reicht für ein intensives Gespräch…

INTERVIEW: PHILIPP GESSLER

MONTAGSINTERVIEW MIT RABBINER ROTHSCHILD

taz: Herr Rothschild, das Judentum hat es nicht so mit der Musik, könnte man denken: Bei orthodoxen Juden ist Instrumentalmusik in der Synagoge verboten. Sie aber machen als Rabbiner Jazz auf der Bühne. Ist das ein Widerspruch?

Walter Rothschild: Nein. In der Bibel gibt es sehr viel Musik: König David hatte sein Harfe, die Leviten ihre Chöre, Miriam und Deborah haben je ein Lied gesungen. Musik ist im Judentum sehr wichtig. Die Frage ist, ob man sie in der Liturgie benutzt. Manche Juden sagen, dass man nach der Zerstörung des Tempels in Trauer sei und man deshalb keine Musik in der Synagoge, also dem Tempel-Ersatz, machen soll.

Und ja keine Instrumente!

Ja, es gab den berühmten Orgelstreit im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts. Da war die Frage: Soll man überhaupt instrumentale Musik in der Synagoge machen – und dann noch mit der Orgel? Das ist doch das, was die Kirchen tun!

Ihr Entschluss war: Ich gehe mit den Minyan-Boys auf die Bühne und mache Jazz.

Aber außerhalb des Gottesdienstes. In meinen Gemeinden habe ich nur ab und zu mal ein Instrument gehört, mal ein Klavier, mal eine Geige. Einige Instrumente passen besser als andere im Sinne der Akustik und des Timbres.

Theologisch ist die Musik also kein Problem?

Überhaupt nicht! Viele Komponisten waren Juden, etwa Louis Lewandowski und Israel Mombach. Auch nicht-jüdische Komponisten haben jüdische Themen für die Synagoge komponiert.

Oder Ursula Mamlok, die hier gleich nebenan in der Seniorenresidenz wohnt.

Ja, und dann gibt es noch die Volksliedtradition vor allem in Israel, rund ums Lagerfeuer.

Walter Rothschild wurde 1954 im englischen Bradford geboren. Ein Studium der Theologie und Pädagogik an der University of Cambridge schloss er mit Lehramtsprüfung und einem Magisterabschluss ab. Es folgte ein Rabbinatsstudium am liberalen Leo Baeck College in London. Hier wurde er 1984 ordiniert. Als Rabbiner amtierte er unter anderem in Leeds, in Wien, in Aruba auf den Niederländische Antillen – und ab 1998 in Berlin. Nach einem Zerwürfnis mit dem damaligen Gemeindevorsitzenden Andreas Nachama verlor er 2000 seinen Posten als Gemeinderabbiner. Rothschild ist seit einigen Jahren Landesrabbiner von Schleswig-Holstein, Rabbiner für Gescher LaMassoret in Köln und Gescher in Freiburg.

Rothschild ist Autor von Büchern, die das Judentum reflektieren, darunter „99 Fragen zum Judentum“, „Der Honig und der Stachel“ sowie „Auf das Leben – Rabbinische Kurzgeschichten“. Außerdem verfasst er Artikel, Kurzgeschichten, Gedichte und Lieder.

Der Vater von drei Kindern ist Sänger der Jazz-Band „Walter Rothschild and the Minjan Boys“. 2007 promovierte er am Kings College der Universität London mit einer Arbeit über die „Palestine Railways 1945-1948“. Folgerichtig ist er Redakteur und Herausgeber von Harakevet, einer Quartalszeitschrift über Eisenbahnen im Nahen Osten.

(ges)

Kann Musik ein Weg der Gotteserkenntnis sein?

Musik ist ein irrationaler Einfluss auf den Menschen. Es geht tief rein. Viele Menschen werden bewegt durch Bilder, andere durch Geruch und eben durch Musik. Es hat mit dem innersten Kern des Menschen zu tun, dort, wo man auch die Religion sucht.

Hilft Ihnen die Musik bei der Annäherung an Gott?

Sie kann. Es gibt Leute, die finden Gott in der Stille, und andere auf dem Marktplatz. Jeder hat einen anderen Zugang. In der Jeschiwa, dem jüdischen Lehrhaus, lernen die Studenten in Paaren, und sie reden und schreien miteinander.

Augustinus hat gesagt: „Wer singt, betet doppelt.“

Das kann sein. Aber heute ist es doch oft so, dass wir nur noch die Melodie der gesungenen Gebete kennen, aber nicht mehr den Text. Das kann problematisch sein. Diese Betenden spüren nur die Hälfte dessen, was Gott ist.

Ist denn Religion ohne Musik überhaupt denkbar?

Denkbar schon, aber ich hätte sie nicht gern. Wir haben Religionen ohne Bilder, manche auch ohne Essen, also asketische Formen. Es gibt buddhistische Mönche, die versuchen, von ein paar Reiskörnern am Tag zu leben. Ich finde das traurig, für mich ist es nichts. Für mich passt nur eine Religion, die auch in dieser Welt Fuß gefasst hat. Aber alles ist möglich!

Wie gefällt Ihnen synagogale Musik – hat das nicht meistens was von 19. Jahrhundert?

Im 19. Jahrhundert haben bestimmte Komponisten die synagogale Musik revolutioniert – etwa Louis Lewandowski hier in Berlin in der Neuen Synagoge. Heute könnte man sagen, dass wir etwas Neues brauchen.

Welche Art von Musik passt besonders gut zum Judentum: Choralmusik, Klassik, Jazz, Hip-Hop? Es gibt einen orthodox-jüdischen HipHop-Sänger.

Man kann das nicht beantworten, denn: Was ist das Judentum? Es gibt jüdische Komponisten, die Jazz gemacht haben oder Heavy Metal. Und der Anlass ist wichtig: Hochzeiten erfordern andere Musik als Beerdigungen.

Manche sagen, Musik selbst sei etwas Göttliches.

Vorsicht: Nicht alle Chöre sind Engelschöre. Ich war auch noch nicht im Himmel. Ich weiß nicht, was die dort spielen. Ich kann gut verstehen, dass immer nur Harfe etwas langweilig werden könnte. Aber wenn man in ein Klavierstück des späten Beethoven oder ein spätes Streichquartett von Schubert tief eindringt, ist man nicht mehr in dieser Welt.

Im Christentum gibt es den manchmal ziemlich grausigen Sacropop – existiert so etwas im Judentum auch?

Ja, den chassidischen Pop: junge Männer in Israel mit langem Bart und Schläfenlocken und wenig zwischen den Ohren. Mit elektronischen Gitarren. (An seine Tochter Bracha:) Wie heißt der eine noch? Jacob?

Bracha Rothschild: Matisyahu. Aber der ist richtig gut. Ist nicht so ein Irrer.

Walter Rothschild: Na ja, wie auch immer. Die Stimme der Jugend hat gesprochen.

Musik hat ja etwas Leichtes. Überhaupt sehen Sie viele Dinge ja ein wenig leichter, vor allem mit Humor. Hilft es in dieser Berliner Gemeinde, wenn man Humor hat, gerade schwarzen, britischen?

Was kann sonst helfen? Man hat ja alles versucht, einschließlich der Kontrolle durch den Senat. Nichts hilft in dieser Gemeinde! Das ist das Problem. Man kann nur lachen. Aber es ist ein lachendes und weinendes Auge. Ich bin mit meiner Familie aus der Gemeinde ausgetreten.

Nachdem Sie im Jahr 2000 Ihr Amt als Gemeinderabbiner verloren hatten?

Nein, später. Ich hatte nach meinem Rauswurf jahrelang so wenig Geld verdient, dass ich keine Gemeindesteuern zahlen musste. Nachdem ich später zwei Bücher veröffentlicht hatte, bekam ich ein paar saftige Summen – und da verlangte die Gemeinde plötzlich von mir ein paar hundert Euro Gemeindesteuern. Ich wollte nicht zahlen, denn ich durfte in der Gemeinde ja nicht mehr arbeiten. Aber ich wollte auch nicht den Gerichtsvollzieher vor meiner Tür stehen haben.

Was haben Sie gemacht?

Da habe ich doch gezahlt. Ich bin aber gleich am nächsten Tag zum Standesamt gegangen, um aus der Gemeinde auszutreten.

Sollte man als Jude nicht Mitglied in einer Gemeinde sein?

Das ist sehr wichtig. Aber ich bin jetzt Mitglied in anderen Gemeinden.

Warum gibt es in der Berliner Gemeinde eigentlich immer so viel Streit, anders als etwa in München oder Frankfurt am Main?

Da funktioniert es ja auch nicht, aber die Konflikte werden besser gedeckelt. In München gibt es immer noch das Diktatur-Prinzip – wie damals hier bei Heinz Galinski. Sie kennen die jüdische Form der Demokratie? One man, one vote – I am that man, I have that vote.

Aber woran liegt es in Berlin?

Die Berliner Gemeinde ist mit mehr als 10.000 Mitgliedern einfach zu groß für dieses einfache System. Das ist genau wie die Sowjetunion. Kasachstan oder Kirgistan kann man noch kontrollieren, aber einen ganzen Kontinent nicht – außer man ist wirklich autokratisch. Ossis gegen Wessis, Orthodoxe gegen Liberale, Alteingesessene gegen Zuwanderer! Und dann kommt auch noch Chabad Lubawitsch und ruiniert alles. Diese Organisation breitet sich überall aus.

Was haben Sie gegen diese Frömmigkeitsbewegung?

Es ist immer die gleiche Masche: Chabad kommt in die Gemeinden, betont, dass sie Stress reduziere – und am Ende sieht man, dass man seine Seele an sie verkauft hat, und das auch noch zu einem schlechten Preis.

Was heißt das?

Chabad Lubawitsch baut eine eigene, eine Parallelgemeinde auf. Es ist so ähnlich wie die islamischen Parallelgesellschaften. Sie kommen, und nach zehn Jahren stellt die Gemeinde fest: Alle Gemeindemitglieder sind bei denen. Und Chabad ist fundamentalistisch. Sie sind antiaufklärerisch. Sie drehen ganz bewusst den jüdischen Glauben um 200 Jahre zurück. Alles ist verloren, etwa bei der Integration und einer modernen, rationalen Theologie, auch bei den gleichen Rechten von Frauen in der Synagoge. Es geht nur so: „Oi, oi, oi, Wodka, Wodka, Wodka, Messiach, Messiach!“

Aber ist das gefährlich?

Das ist sehr attraktiv, aber auch sehr gefährlich. Es ist wie bei den Hardcore-Evangelikalen in den USA. Die verkaufen sich auch immer nett und lächelnd. Immerhin: Gewalttätig sind sie nicht. Jüdische Extremisten sind nur extremistisch gegen andere Juden, nicht gegen Andersgläubige. Israel will nur Israel jüdisch haben, nicht Iran und Syrien. Iran und Syrien aber wollen ganz Israel muslimisch haben – da gibt es eine gewisse Asymmetrie.

Gibt es ein spirituelles Vakuum in der Gemeinde?

Es gibt einen orthodoxen Gemeinderabbiner, der keinen Respekt genießt. Es gibt keinen echten liberalen Rabbiner, nur einen netten Teilzeit-Rentner. Es fehlt eine echte moralische Stimme für diese Gemeinde. Und dies ist eine Hauptstadt-Gemeinde! Da sollte es auch einen Hauptstadt-Rabbiner geben, jemanden, der wirklich zum Beispiel mit der Bundesregierung reden kann.

Wie wäre das konkret?

In etwa wie beim Chefrabbiner in England. Jemand, von dem man denkt, er ist wie ein Bischof und kann reden. Und eigentlich brauchen wir fulltime einen Rabbiner für die Nicht-Juden, der Public Relations macht, in Schulen geht, Sachen erklärt.

Sie sind jetzt seit 14 Jahren in Berlin. Wie hat sich das jüdische Leben in der Stadt seitdem verändert?

Noch mehr Menschen als damals sind frustriert. Ich will nicht alles schwarz malen, aber dunkelgrau. Mit 50 Schatten.

Ist das jüdische Leben in der Stadt nicht selbstverständlicher geworden?

Es war immer so in der jüdischen Geschichte: Sobald man denkt, dass es normal und ruhig läuft, kommt die nächste Krise. Das war die große Tragödie des Holocaust: Die Juden in Deutschland dachten, sie seien überall angekommen und respektiert – und dann kam die Nazi-Bewegung. Und jetzt mit der Beschneidung: Es passiert aus dem blauen Himmel. Vielleicht ist es ja auch nur eine Sommerloch-Geschichte. Ich habe heute eine E-Mail aus Österreich bekommen: Da findet jemand keinen Arzt mehr, der seinen Sohn beschneiden will.

Aber Österreich ist ein anderer Staat.

Sicher, aber die Beschneidung ist nun einmal europaweit in der Diskussion. Da denkt man, man sei als Deutscher hier anerkannt, und dann passiert so etwas! Israel marschiert in Gaza ein, und als Jude wird man hier angespuckt auf der Straße. Man lernt, sehr vorsichtig zu sein. Was ist ein Pessimist? Ein Optimist mit Lebenserfahrung.

Hat die Beschneidungsdebatte für Sie etwas geändert?

Es hat mich noch mehr frustriert. Übrigens: Was ist ein Putzke? Ein nicht beschnittener Potz. Ist ein jiddischer Witz. Potz bedeutet so was wie Idiot.

Welche Reaktionen erleben Sie in Ihren Gemeinden?

Die Leute sind verärgert. In Deutschland gibt es pro Jahr etwa 100 jüdische Beschneidungen, zwei pro Woche – was soll die ganze Aufregung?! Ich bin 58 Jahre alt und beschnitten. Bisher hat keine Frau geklagt, also wo ist das Problem?!

Sie sind aufgrund Ihrer Promotion ein Experte für die Eisenbahn in Palästina nach dem Zweiten Weltkrieg, Sie sind ein Jazzsänger und Liedermacher, ein Schriftsteller und Rabbiner – können Sie sich ein Buch vorstellen, in das all diese Erfahrungen einmal einfließen?

Ich würde so gern noch einmal ein Buch mit meinen Kurzgeschichten veröffentlichen. Jeder Schriftsteller hat ja eine Schublade voll mit seinen Manuskripten, aber ich habe drei Schubladen voll.

Würden Sie gern eines Tages nur noch als Schriftsteller arbeiten?

Es ist immer ein Problem, wenn man das Hobby zu seinem Beruf macht. Ich betreue derzeit acht Gemeinden. Es könnten vielleicht nur fünf oder sechs sein irgendwann. Dann wäre ich ein Teilzeit-Rabbiner und hätte auch mal ein Wochenende frei.

Sie könnten dann mehr musizieren.

Sehr gern!

Wird es eigentlich in Ihren Gemeinden akzeptiert, dass Sie als Jazzsänger arbeiten?

Nun, ich bin freiberuflich. Ich bin frei. Freiheit macht Arbeit, wie es nicht steht über diesem Tor. Die Gemeinden, die mich als Rabbiner haben, erwarten, dass ich ein paar Witzchen mache, Verständnis für ihren Lebensstil habe – was immer das heißt: politisch oder sexuell – und nicht nur würdig, mit saurem Gesicht oben neben der Thora stehe.

In konservativen Gemeinden fühlen Sie sich unwohl?

In solchen Gemeinden habe ich keine Luft, keine Lust, keine Zukunft. Es ist immer wie eine Ehe. Sie wissen: Vor der Hochzeit ist die Liebe einmalig, nach der Hochzeit ist sie ehemalig. Also die, die mich auf Konferenzen aufgefordert haben: Walter, sing us a song, die können mit mir und meiner Band umgehen. Und die anderen – who cares?

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