Bücherraub für die Pseudowissenschaft

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Im Oktober 1942 Jahren schickte der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ die ersten Bücherkisten aus dem Wilnaer „Yidisher Visnshaftlicher Institut“ (YIVO) nach Frankfurt/Main…

Von Jim G. Tobias

„Das YIVO befindet sich in einem langsamen und stetigen Todeskampf, sein Massengrab sind die Papierfabriken“, notierte der jüdische Chronist Herman Kruk im Sommer 1942. „Unsere Bibliothek, die Dokumente, das Archiv, das meiste landet im Altpapier.“ Schon kurz nach der Besetzung von Litauen durch deutsche Truppen war ein Mitarbeiter des nationalsozialistischen „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ von Alfred Rosenberg nach Wilna gereist, um die Bibliotheken im „litauischen Jerusalem“ zu sichten und zu plündern. Die Sammlung des YIVO-Instituts, der ersten wissenschaftlichen Einrichtung, die sich mit der jiddischen Sprache und Kultur beschäftigt, stand ganz oben auf der Liste des NS-Parteiideologen.

Zwar gab es in Osteuropa schon immer Einrichtungen, die sich der Pflege der jiddischen Sprache widmeten, jedoch waren dies in erster Linie die religiösen Schulen. Eine säkulare Institution, die sich der gesamten jiddischen Kultur annahm, wurde erst im Jahre 1925 ins Leben gerufen. Zu dieser Zeit sprachen von den weltweit 16 Millionen Juden rund zehn Millionen Jiddisch. Mit der Gründung des YIVO-Instituts in Wilna hatten diese zumeist in Osteuropa lebenden Menschen endlich eine Einrichtung, die traditionelle Bildung mit moderner Wissenschaft verband. Die Idee des YIVO geht auf den Linguisten und Literaturhistoriker Nochem Shtift und auf ein Thesenpapier des Sprachwissenschaftlers Max Weinreich zurück. Gemäß seiner „Vilner Tesisn vegn Yidishn Visnshaflechn Institut“ wurde im August 1925 in Berlin das YIVO-Institut gegründet. Es bestand allerdings einmütige Übereinkunft darüber, dass der Hauptsitz des neuen Instituts in Wilna sein sollte. Doch es vergingen noch Jahre, bis die Bibliothek und das Archiv des YIVO aus Max Weinreichs Wohnung in ein eigenes Gebäude untergebracht werden konnten. Im Jahre 1935 bezog das Institut ein Haus in Wilna, in der Wiwulski Straße 10. Bald besaß das Archiv tausende von jiddischen Dokumenten, die Bibliothek zählte 10.000 Periodika und rund 40.000 Bücher. So verfügte das YIVO-Institut über die bedeutendste Sammlung von jiddischen Zeitungen, Plakaten, Urkunden und Publikationen. Mit dieser Sammlung konnte „den Juden die Gesamtheit ihres kulturellen Erbes im Rahmen einer auf den Prinzipien moderner Sozialwissenschaften aufbauenden akademisch-wissenschaftlichen Forschung nahegebracht und die geschichtlichen Tatsachen sowie die historische Wahrheit ans Licht gebracht“ werden, so rückblickend die Einschätzung der US-amerikanischen Literaturhistorikerin und Jiddistin Lucy S. Dawidowicz.

Doch mit der Annektierung Litauens durch die Sowjetunion und die spätere deutsche Invasion wurde die Existenz des Jiddischen Instituts in Wilna brutal beendet. Max Weinreich befand sich bei Kriegsbeginn auf einer Vortragsreise in Dänemark. Er kehrte nicht mehr nach Litauen zurück, sondern fuhr in die USA und machte sich sogleich daran, erste kleinere Bestände des YIVO nach Amerika zu überführen. Schon im Oktober 1940 wurde der neue Hauptsitz des „Yidisher Visnshaftlecher Instituts“ in New York eingeweiht. Die Metropole am Hudson bot sich als Zentrale förmlich an. Hier lebten etwa zwei Millionen Juden, die meisten kamen aus Osteuropa und sprachen Jiddisch.

Währenddessen beschlagnahmten die deutschen Besatzer alle jididschen Schriften aus dem Wilnaer YIVO, deren sie habhaft werden konnten. In Frankfurt wurden die Bücher, Zeitschriften und sonstige Archivalien, die nach Meinung des NS-Chefideologen Alfred Rosenberg zur „Erforschung der Judenfrage“ dienen könnten, zentral gesammelt. Nach einem „Führerbefehl“ sollte der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ die Publikationen „nach entsprechendem Material durchforsten“, um dieses für die „weltanschaulichen Aufgaben der NSDAP und die späteren wissenschaftlichen Forschungsarbeiten“ heranziehen: Die jiddischen Bücher dienten somit auf perfide Weise als Quelle für die antisemitische NS-Propaganda.


Mitglieder der „Papierbrigade“ sortieren Bücher für Alfred Rosenbergs „Institut zur Erforschung der Judenfrage“. Foto: YIVO Encyclopedia

Im Frühjahr 1942 traf Rosenbergs Bibliothekar, der Judaica-Spezialist Johannes Pohl mit weiteren „Judenforschern“ in Wilna ein. Er ordnete an, eine Gruppe von jüdischen Intellektuellen zusammenzustellen, deren Aufgabe es war, die YIVO-Bestände systematisch zu sichten, zu sortieren und gegebenenfalls zu verpacken oder zu vernichten. Unter den Mitgliedern dieser als „Papierbrigade“ bekannt gewordenen Gruppe befanden sich u. a. der Leiter der Wilnaer Ghettobibliothek Herman Kruk und seine Mitarbeiterin Dina Abramowicz, der ehemalige Direktor des YIVO-Instituts Zelig Kalmanowicz sowie der jiddische Literat Abraham Sutzkever. Schnell wurde den Zwangsverpflichteten klar, dass die Deutschen den Großteil der Bibliothek als Altpapier deklarieren würden und die Bücher für den Reißwolf bestimmt waren. Nur die als wertvoll eingestuften Werke sollten nach Deutschland gebracht werden. Unter Einsatz ihres Lebens gelang es der „Papierbrigade“ jedoch tausende von Dokumenten und Schriften ins Ghetto zu schmuggeln, um sie dort zu verstecken. Dennoch fiel später ein Großteil der kostbaren und seltenen Bände den Nationalsozialisten in die Hände.

Die erste Bücher verließen Wilna am 25. Oktober 1942, weitere fünfzig Kisten wurden am 17. November 1942 auf den Weg nach Frankfurt/Main ins „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ gebracht. Am 13. Februar 1943 folgte erneut eine große Lieferung mit insgesamt 9.403 Bänden. Bis zur endgültigen Liquidation des Ghettos Wilna im September 1943 versuchte die „Papierbrigade“ verzweifelt, sich der Beraubung und Vernichtung ihrer Kulturgüter entgegenzustellen – doch nur Bruchteile des Bücherbestands und eine Handvoll von Menschen konnten gerettet werden. Viele YIVO-Mitarbeiter, darunter auch Herman Kruk und Zelig Kalmanowicz, starben im Wilnaer Ghetto oder wurden in die Vernichtungslager verschleppt und dort umgebracht. Dina Abramowicz und Abraham Sutzkever gehörten zu den wenigen YIVO-Aktivisten, die sich retten konnten: Sie schlossen sich den jüdischen Partisanen an.

Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus kehrten Sutzkever und andere jüdische Kämpfer nach Wilna zurück und machten sich auf die Suche nach den Resten der YIVO Bibliothek. Lediglich ein kleiner Teil konnte geborgen werden. Auf geheimen Wegen schmuggelte man diese Bücher und Dokumente in den Westen und übergab sie schließlich dem YIVO-Institut in New York. Gleichzeitig gelang es der US Militärregierung in Deutschland die für das „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ zusammengeraubten Publikationen sicherzustellen, um sie 1947 an das New Yorker YIVO-Institut zu übergeben, das damit eine neue „Vilna Collection“ aufbaute. Betreut wurde die Sammlung ab 1947 jahrzehntelang von Dina Abramowicz, die sich auch noch nach ihrer Pensionierung 1987 bis zu ihrem Tod im Jahre 2000 als ehrenamtliche Kraft um ihre Bücher kümmerte.


Die 86-jährige Dina Abramowicz an ihrem Schreibtisch im YIVO-Institut in New York. Sie starb kurz vor ihrem 91. Geburtstag im April 2000.
Foto: Jim G. Tobias

Heute umfasst die „Vilna Collection“ wieder rund 40.000 Publikationen. Insgesamt besitzt das YIVO-Institut über 380.000 Bücher und Zeitschriften und mehr als 24 Millionen Dokumente, Fotos, Poster, Filme und andere Archivalien. Damit verfügt die wissenschaftliche Einrichtung weltweit über die größte Sammlung an jiddischen Schriften und Materialien zur Geschichte und Kultur der osteuropäischen Juden.

Umfangreiche Informationen zur jiddischen Geschichte und Kultur bietet das kostenlose Online-Lexikon The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe: http://www.yivoencyclopedia.org/

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