Rabbiner Kucera: Rosch haSchanah 5773

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Rosch haSchanah ist meiner Ansicht nach eine Frage der Struktur des jüdischen Kalenders. Diese Struktur und ihre Einhaltung müssen wir aktiv anstreben, besonders wir, die in der Diaspora leben. Weder vom Radio oder vom Fernseher noch vom Puls des Straßenlebens oder in den Geschäften werden wir in unserer Stadt zum Neuanfang am 1. Tischri geführt. Dazu kommt noch ein neues Schuljahr, das seine gewöhnlichen Herausforderungen und Verpflichtungen mit sich bringt und uns vom jüdischen Neujahr ablenken kann…

Von Rabbiner Tom Kucera

Umso mehr spüren wir das Bedürfnis nach aktivem Handeln, um zusammenzukommen, sowohl zu Hause mit der Familie und Freunden als auch in der Gemeinde, um den Neuanfang des nächsten jüdischen Jahres aktiv und bewusst zu setzen. Diese bewusste Aktivität von Rosch haschana ist uns innerlich wichtig, weil wir sowohl eine symbolische Erneuerung brauchen, in der Form einer neuen Jahreszahl, als auch eine inhaltliche Erneuerung, für unser persönliches Leben und das Leben unserer Gemeinde. Ein Dichter sagte: Es muss in der Seele etwas geben, ähnlich den Jahresringen der Bäume.

Eigentlich ist das alles nur eine Nebenwirkung von Rosch haschana. Was für einen primären Grund hat unsere Tradition für Rosch haschana? Die Erinnerung an die Geburt der Schöpfung. Jede Woche (am Schabbat) erinnern wir uns an das Werk der Schöpfung (masse wereschit), aber nur einmal pro Jahr feiern wir die Geburt der Schöpfung. Das bekannteste Pijut, liturgisches Lied, im Mussaf für Rosch haschana sagt: Hajom harat olam – dieser Tag gebiert die Welt. Wie könnte dieser Augenblick sein? Wahrscheinlich sehr laut, lauter als alle Schofar-Klänge. Wie sah dieser Augenblick aus? Wahrscheinlich blendender als das ganze Weiß der festlichen Kleidungen.

Hajom harat olam – dieser Tag gebiert die Welt. Ein blendendes Licht, das aus den Photonen (Lichtteilchen) bestand, strömte durch die Schöpfung bei ihrer Geburt. Ein Photon hat jedoch keine Masse (Ruheenergie). Wenn auch die anderen Teilchen (besonders die Elektronen) keine Masee hätten, hätten wir keine Atome, keine Materie, keine Sterne und Planeten, kein Leben gehabt – und kein Rosch haschana gefeiert. Hajom harat olam – dieser Tag gebiert die Welt. Die Schöpfung, deren Geburt wir heute feiern, hatte ihren eigenen Mechanismus gehabt. Aber welchen? Wie haben die anderen Teilchen vom Licht ihre Masse bekommen? Diese mag die Antwort sein: Die Masse ist ein Ergebnis einer ständigen Wechselwirkung eines Teilchens mit einem Feld, das das gesamte Universum durchdringt. Was für eine schöne Formulierung der Wissenschaft haben wir hier: Ein überall anwesendes Feld in unserem Universum bewirkt ein Gewicht der Teilchen. Einige Teilchen reagieren mit diesem Feld fast überhaupt nicht und haben dementsprechend kein Gewicht. Andere Teilchen reagieren intensiver, was ihnen wiederum ein erhöhtes Gewicht verleiht.

Warum spreche ich heute davon? Weil dieses Feld, das möglicherweise den anderen Teilchen das Gewicht verleiht, das Higgs-Feld heißt, und weil die sogenannten Higgs-Bosonen, die in diesem Feld entstehen, höchstwahrscheinlich im Juli entdeckt worden sind. Ist es möglich von der Geburt der Schöpfung, von Rosch haschana zu sprechen, ohne die möglicherweise größte Entdeckung des Jahrhunderts zu erwähnen, die den Mechanismus der Geburt der Schöpfung am Anfang erklärt? Hajom harat olam – dieser Tag gebiert die Welt. Nicht umsonst wurde das Higgs-Boson vom jüdischen Physiker und Nobelpreisträger Leon Lederman „Gottesteilchen“ genannt.
Hinter dieser Bezeichnung steht die Sehnsucht, an den Ursprung der Welt zu gelangen, die Sehnsucht nach einer klaren und definierten Einheit. Hier sollen auch unsere eigenen Sehnsüchte entstehen, die uns von der Forschung zu Higgs-Bosonen über das Feiern von Rosch haschana zum Nachdenken über unsere eigenen Leben führen soll. Unsere Ideen und Gedanken sind nicht materiell. Auf welche Weise sollen sie in einer optimalen Tat materialisiert und verwirklicht werden, damit sie ein konkretes Gewicht bekommen?

Viele Umstände in unserem eigenen Universum, genannt Existenz, bestehen nur indirekt. Dabei hoffen wir, dass trotz dieser Indirektheit am Ende viel Licht zu finden sein wird. In der Tat ist das Higgs-Boson so instabil, dass er nur indirekt durch seine Nebenprodukte (z. B. die Photone -Lichtteilchen) nachgewiesen werden kann. Nicht ein Objekt, sondern seine andere Form wird wahrgenommen. Das ist eine philosophischtheologische Aussage, der wir im Judentum intensiv begegnen, wenn wir zum Beispiel am Ende von Alejnu singen: Bajom hahu jihije Adonaj echad uschemo echad – an jenem Tag wird der Ewige und sein Name eins sein. Mit anderen Worten behaupten wir mit diesem Vers: Gott ist eins, aber noch nicht eins mit Gottes Namen. Anthropologisch gesprochen: Auch wir sind eine Existenz, doch sie ist noch nicht eins mit ihrem wahren Potenzial. Daher unsere Sehnsucht nach der Einheit, sei es in der Wissenschaft, sei es in unserem Leben. Weil vieles nicht direkt abläuft, fühlen wir uns unsicher und streben nach einer Sicherheit. “Endlich entdeckt! Oder nicht?” lautete der zutreffende Zeitungstitel in Verbindung mit dem Higgs-Boson. Es ist sicher, dass ein neues Teilchen entdeckt wurde, es ist jedoch noch nicht sicher, ob es das gesuchte Teilchen ist. Die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers darf dem Konsens gemäß nur zwei zu einer Million betragen. Wir sind auf der ständigen Suche nach einer überzeugenden Sicherheit für die Bedeutung unserer Tätigkeit. In aller Unsicherheit arbeiten wir an unserer Sicherheit. “Endlich entdeckt! Oder nicht?” “Alles geschafft! Wirklich?” “Alles ist wunderbar! Stimmt es?” Auch wenn wir eine absolute Sicherheit erreichen würden, würden dann neue Unsicherheiten entstehen. In der Tat, wenn das Higgs-Boson mit aller Sicherheit bestätigt wird, werden neue Fragen und Probleme entstehen, z. B. ob das jetzige Standardmodell (eine Art Baukasten für das Universum) durch andere Aspekte (zum Beispiel die Supersymetrie) erweitert werden muss.

Unsere persönliche Suche nach der Klarheit und Sicherheit bringt mit den neuen Antworten immer neue Fragen. Dadurch setzt sich unsere Suche fort. Trotz der Indirektheit und der Unsicherheit wollen wir die Hoffnung für den Sinn und die Kontinuität behalten.

Diese Hoffnung soll uns am Anfang des neuen jüdischen Jahres begleiten. Für uns persönlich, aber auch für unsere Gemeinde. Als ich zum ersten Mal den Artikel unseres Vorsitzenden im neuen Rundbrief gelesen und die Aufzählung unserer Aktivitäten gesehen hatte, war ich selbst überrascht, dass wir eine ziemlich aktive Gemeinde sind. Diese Überraschung mag eigentlich ein Mangel an der Fähigkeit sein, zurückzuschauen, nicht nur eine Veranstaltung nach einer anderen zu planen, sondern sich auch umzudrehen und das Vergangene anzuschauen. Rosch haschana lädt uns alle ein, uns umzudrehen und anzuschauen, was und wie wir alles geleistet haben. War es genug? Die Union für das Reformjudentum, die amerikanische Version der Europäischen Union des progressiven Judentums, hat seit Juni 2012 einen neuen Präsidenten, Rabbiner Richard Jacobs. Von seinem Interview habe ich folgende Sätze ausgewählt: “Die Synagogen müssen sich transformieren, damit sie zur menschlichen Seele sprechen. … Sie müssen auf der Suche nach den neuen Wegen sein, wie sie ihre heilige Arbeit machen sollen. …. Sie müssen sich selbst auf der Leiter erheben, von in Ordnung zu gut, von gut zu wunderbar, von wunderbar zu phänomenal. Nur dann werden unsere Synagogen Zentren für moderne Juden sein, die ihr jüdisches Leben ernähren wollen.” Was denken wir von diesen Worten? Sind sie zu viel oder doch inspirierend? Auf alle Fälle ist jede Transformation ein langfristiger Prozess, der möglicherweise nie abgeschlossen wird.

Viele Statistiken sprechen von der Reduzierung der Synagogenmitgliedschaft und davon, dass sich sogar unsere Bewegung des progressiven Judentums in den nächsten 100 Jahren wesentlich reduzieren wird. Unsere Gemeinde Beth Shalom ist klein, zum Glück immer noch mit einem gewissen jährlichen Anstieg der Mitgliedschaft.

Unabhängig davon, ob die Tendenz sinkend oder wachsend ist, sollen wir über den Unterschied zwischen einer Mitgliedschaft und einem Dazu-Gehören nachdenken. Eine Mitgliedschaft kann man schnell aufgeben. Dagegen hängt man an einem Dazu-Gehören, weil es uns tief mit dem Gegenteil, der Meinungslosigkeit, verbindet und uns wesentlich belebt. Aus einer menschlichen Gruppe ausgeschlossen zu sein, bedeutete in der Geschichte immer sowohl eine physische Bedrohung als auch einen emotionalen Niederschlag. Die Tora selbst kennt die Strafe des Ausgeschlossenseins (karet), auch wenn keine genauere Umstände definiert werden.

Das Dazu-Gehören ist kein Aufruf der sentimentalen Ethik, sondern eine Bedingung der richtigen Hirnfunktion und der mentalen Gesundheit. Die meisten Beweise dafür werden im Kontext der Kinder und der Familien gebracht. Kinder ohne eine stabile Verbindung, ohne ein stabiles Dazu-Gehören, zeigen in aufregenden Situationen sogar Kreislaufprobleme und Unfähigkeit, sich zu erholen, sich zu beruhigen und Hoffnung und Selbstvertrauen zu behalten. Diese Studien wurden im Krankenhaus Herzog in Jerusalem in 2009 durchgeführt. Die Psychologie spricht von der Resilienz, der Widerstandsfähigkeit, zu der wesentlich ein Gefühl des Dazu-Gehörens beiträgt. Konkrete soziale Netzwerke unterstützen die Resilienz. Sie geben dem Leben eine Bedeutung, weil man sowohl ermutigt und inspiriert, als auch gebraucht und anerkannt wird. Das Internet mit allen modernen Möglichkeiten scheint dieses Bedürfnis nicht zu erfüllen. Viele Studien zeigen sogar eine Vertiefung der Einsamkeit, nachdem man aktiv in der virtuellen Welt des Chatrooms und Facebooks keine Nachhaltigkeit erfahren hatte. Wir sind ständig auf der Suche nach einem Dazu-Gehören. Wenn wir es nicht hier bekommen, suchen wir woanders. Irgendjemand sagte, das Judentum sei heutzutage weniger ein ausgewähltes Volk, sondern ein auswählendes Volk, das sogar Buddhismus, Sufi oder Yoga auswählt, um sich ein Dazu-Gehören zu schaffen, das unsere Hirnstruktur inhärent braucht. Wenn wir gehört, gebraucht und anerkannt werden, entwickeln wir ein Gefühl des Dazu-Gehörens. Was können wir tun, damit wir ungezwungen und spontan dieses Dazu-Gehören erreichen, das über die Mitgliedschaft hinausgeht? Als eine der möglichen Antworten auf diese Frage habe ich eine sehr kurze Umfrage vorbereitet, um festzustellen, wo es langgehen könnte. Sie werden gebeten, diese Umfrage (die Sie zusammen mit diesem Text im anderen Anhang bekommen) zurückzuschicken. Als Nächstes ist nach dem Brainstorming im Vorstand die Idee von einer neuen Veranstaltung in unserer Gemeinde entstanden, die wir „Freitag um halb sechs“ nennen wollen. Es ist als eine informelle Diskussionsrunde geplant, sowohl zu den spontanen Themen, die die Teilnehmer selbst an dem Abend entscheiden können, als auch zu den aktuellen Problemen unserer Welt.

Auf einen anderen Wunsch in der Gemeinde wird nächstes Jahr eine Erwachsenbildung für Mütter und alle interessierten Frauen und Männer sein, sie sich während der Woche an einem Vormittag treffen wollen, um sowohl die Ereignisse des jüdischen Kalenders besser kennenzulernen, als auch sich das Hebräischlesen anzueignen.

Vor einem Jahr haben wir unsere neuen Räumlichkeiten bezogen. Es war das Jahr von extrem vielen strukturellen und inhaltlichen Arbeiten. Jetzt beginnt unser zweites Jahr in der Steinerstraße. Bevor ich mein zweites Jahr an der Jeschiwa Pardes in Jerusalem begann, wurde uns gesagt: Das erste Jahr habt ihr geschuftet, das zweite Jahr werdet ihr schweben. Ich wünsche mir nichts anderes, als dass es uns allen gelingt, dieses Gefühl in Beth Shalom im nächsten Jahr 5773 zu haben.

Tom Kucera ist Rabbiner der Münchner jüdischen Gemeinde Beth Shalom.

1 Kommentar

  1. Der Artikel erschien am 19.September, meinem Geburtstag. Also darf ich etwas dazu schreiben: Wir hatten das Vergnügen und die Ehre, den 1.Tischri in Prag in der Josefsstadt zu begehen- Mit dem Besuch der Alt-Neu-Synagoge, der Jerusalem-Synagoge, natürlich dem Friedhof und dem Anblick der beiden Rathausuhren.
    Wenn auch ein bisschen zu spät: Schanna Tova umetuka!

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