Identität, speziell: „Jüdische Identität“

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Der 1923 in Berlin geborene, heute in der Schweiz lebende jüdische Psychoanalytiker Arno Gruen, Verfasser zahlreicher psychoanalytischer Grundlagenwerke (Der Verlust des Mitgefühls; Der Fremde in uns; Der Kampf um die Demokratie; „Ich will eine Welt ohne Kriege“), hat soeben einen lesenswerten autobiografisch getönten Beitrag vorgelegt, betitelt mit Identität, speziell: „Jüdische Identität“. Wir publizieren einige Auszüge hieraus. Publiziert wurde sie in dem Themenschwerpunktheft Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust…

Von Arno Gruen

„Was ist Identität? Im Allgemeinen glauben wir, dass Identität eine Folge der Identifikation mit Personen ist, die wichtig waren in frühen grundsätzlichen Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt. Jedoch steigt die Frage auf: Wenn Identifikation die Grundlage für Identität ist, was ist dann eine eigene Identität?(…)

Was ist nun jüdische Identität? Was bedeutet es, Jude zu sein, sich jüdisch zu fühlen? Hier haben wir es sofort mit Zugehörigkeit zu tun, mit einer Notwendigkeit, sich von anderen Gruppierungen zu differenzieren, mit einer Identifikation mit einer Gruppe von Menschen, die einem ein Gefühl der Besonderheit, des Anderssein, vielleicht auch des Mehr-Seins geben, wodurch man sich gestärkt fühlt. Der Identifikation liegt also letztlich ein Gefühl der Schwäche zugrunde, gegen das man sich durch Zuflucht zu einer Gruppe, die größer erscheint als das eigene Ich, verteidigen muss.(…)

Ich war etwa sechs Jahre alt und ging in eine Berliner Volksschule, als die Lehrerin mich und einen anderen Schüler nach Hause schickte, da der Rest der Klasse zum ersten Mal in den Religionsunterricht eingeführt werden sollte. Vor der Tür unseres Hauses traf ich eine Nachbarin, die mich fragte, warum ich so früh nach Hause komme. Ich hatte keine Ahnung, was Religion ist, und antwortete ihr, meine Klasse habe so was wie Re-Relion. Mein Vater, der die Geschichte am Abend hörte, kündigte mir an, dass wir am Wochenende darüber ein Gespräch führen würden. Am Samstag erklärte er mir, dass wir jüdisch seien und dass es auch andere Religionen gäbe. Ich wunderte mich sehr, weil, wie ich ihm sagte, ich dachte, dass wir alle Menschen wären.(…)

Mein Vater, der ein Atheist war, politisch progressiv und international ausgerichtet, entschied, dass ich etwas über mich als Jude lernen sollte, um gegen die Voreingenommenheiten, denen ich ausgesetzt sein würde, gewappnet zu sein. So fing ich an mit einem Universitätsstudenten jüdische Geschichte zu studieren. Ein Gefühl, dass andere mich als nicht zugehörig sahen und mich als Juden für minderwertig hielten oder als Bedrohung erlebten, kam erst später und verstärkte sich mit Hitlers Machtergreifung.

1933 war auch das Jahr, in dem ich ins Gymnasium kam, das Fichte Gymnasium in Berlin Wilmersdorf. Gleich am ersten Tag wurden die sozialdemokratischen Lehrer aus der Schule geworfen. Unser Klassenlehrer, ein Professor Löschhorn, der Deutsch unterrichtete, las aus Hitlers „Mein Kampf“ vor und sprach davon, wie ihn im ersten Weltkrieg die Franzosen dauernd beschummelt hätten. Als wir Nazi-Lieder lernen mussten, die vom tropfenden Blut der Juden handelten, sagte ich zu meinem Vater, dass ich nicht mehr in diese Schule zurückgehen wollte. So kam ich auf eine zionistische Schule. Der Aufenthalt dort und die Tatsache, dass wir alle hebräisch lernten, um uns für die Jugend-Allija vorzubereiten, vermittelten uns ein positives Gefühl der Zugehörigkeit. Es war unser Ziel, am Aufbau einer neuen gerechten Welt mitzuwirken.(…)

Man muss also differenzieren, was genau sich hinter dem Begriff „Jüdische Identität“ verbirgt. Für meinen Vater zum Beispiel bedeutete jüdische Identität Verachtung für Nichtjuden. Er wuchs in extremer Armut auf und musste schon als Achtjähriger in einem Klima des Antisemitismus in Polen für seine Mutter und Geschwister sorgen. Seine Verachtung war gemischt mit einer unbändigen Kraft, die sich in körperlichem Mut gegenüber allen ausdrückte. Er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann in Deutschland, und sein Erfolg beruhte zum Teil darauf, dass er, genau wie Hitler in „Mein Kampf“, wusste, wie man mit Verachtung umgeht. Die Deutschen, auch Nazis, liebten es, so herablassend behandelt zu werden. Mein Vater war der starke Mann, dem sie sich ergaben. In den USA, wohin wir 1936 emigrierten, war er weniger erfolgreich. Ich nehme an, der Grund lag darin, dass die meisten Amerikaner nicht wie die Deutschen damals auf verachtendes Verhalten mit Unterwerfung eingingen.(…)

Arno Gruen: Identität, speziell: „Jüdische Identität“, in: Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung. Nr. 1/2012, Schwerpunktthema: Jüdische Identitäten in Deutschland nach dem Holocaust, Gast-Herausgeber: Roland Kaufhold, Bernd Nitzschke, Euro 12,00, Weitere Informationen und Bestellung

Linktipp:
„Hören und verstehen mit dem dritten Ohr“ – der Psychoanalytiker Arno Gruen

3 Kommentare

  1. Zitat haGalil.com ‎in Facebook:
    …“ die Russen sind unser Unglück“, also so etwas habe ich noch in keiner Gemeinde gehört. Ganz bestimmt nicht in diesem Slogan. So salonfähig, wie Sie es darstellen, ist die lingua tertii imperii in jüdischen Gemeinden nämlich nicht.
    10:45am

    Antwort:
    Verbatim hört man es nicht, natürlich. Aber sinngemäß schon: die „Alteingesessenen“ Mitglieder von Gemeinden beklagen die Ãœbernahme/Besetzung der ehemals kulturell und religiös mittel- und westeuropäisch geprägten Gemeinden und Synagogen durch „Russen“, fühlen sich oft unwohl, wechseln manchmal Synagogen oder hören ganz einfach auf, am Gemeindeleben aktiv teilzunehmen. Schweigende, emotionale Segregation und unsichtbare Mauer wachsen mitten in den communities, nicht zuletzt durch immer öfters zu hörenden Russisch statt Deutsch.
    Und – gerade in Berlin und Umgebung, wo russische Chassidim und Neo-Ultraorthodoxe und andere aus Geschichtsbüchern herausgesprungenen „Ostjuden“ anfangen, das Straßenbild pittoresker zu machen, – fühlen sich die meisten anderen hiesigen Juden nicht nur verlegen, sondern befürchten unterschwellig – wie in Weimarer Zeiten – dass diese Haredim Antisemitismus entfachen könnten. In Israel haben die Haredim es eh schon geschaffen, Israelis zu „Antisemiten“ zu machen …
    1:09pm

  2. Manches erinnert mich an die Perspektive deutscher Juden auf die zuströmenden polnischen und russischen Juden in der Weimarer Republik. Damals hiess es unter der vorgehaltener Hand in jüdischen Berliner Salons „Die Polen sind unser Unglück“. Heute heisst es – nicht zu selten – „die Russen sind unser Unglück“.
    Und dazwischen hiess es – aus fremden Mündern – … na ja, lassen wir es …

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