Frankreich nach der Parlamentswahl

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Die neofaschistische Gefahr bleibt aktuell, und sitzt im Parlament…

Von Bernard Schmid, Paris

Drei Generationen von Le Pens in der aktiven Politik, drei Abgeordnete der extremen Rechten im Parlament (trotz Mehrheitswahlrechts): Auf diese Weise lässt sich die aktuelle Situation des neofaschistischen Spektrums nach der französischen Parlamentswahl vom 10. und 17. Juni d.J. zusammenfassen. Anderswo kann das bei französischen Parlamentswahlen geltende Mehrheitswahlrecht, jedenfalls in diesem Jahr, ausgesprochen hohe Stimmenanteile der Rechtsextremen verdecken: Diese erhielten in mehreren Wahlkreisen Ergebnisse um 49 %, ohne dass sich dies in Sitzen niederschlug. Auf die Dauer wird es aber schwer sein, ob Mehrheitswahlrecht oder nicht, dieses Potenzial unter den Teppich zu kehren.

Drei Mandatsträger repräsentieren nunmehr die extreme Rechte in der französischen Nationalversammlung. Doch sie gehören zwei unterschiedlichen Parteien an: dem Front National (FN), aber auch der Regionalpartei Ligue du Sud, welche sich in ihrem Namen offen an die italienische Lega Nord anzulehnen versucht. Ersterer wird durch den medienträchtigen Anwalt Gilbert Collard und durch Marione Maréchal-Le Pen – eine 22jährige Enkelin Jean-Marie Le Pens – im Parlament vertreten, und die Letztgenannte durch den Bürgermeister von Orange, Jacques Bompard. Während die beiden FN-Abgeordneten jeweils mit relativer Mehrheit die Stichwahl in ihren Wahlkreisen gewannen (42,82 % für Collard im südfranzösischen Vauvert und 42,09 % für Marion Maréchal-Le Pen im südostfranzösischen Carpentras), siegte Bompard im Wahlkreis rund um Orange sogar mit einer absoluten Mehrheit. Er erhielt dort satte 58,77 % der abgegeben Stimmen.

Absolute Mehrheit für Jacques Bompard

Bompard gehörte bis im Herbst 2005 selbst dem Front National an; für ihn war er im Juni 1995 zum Bürgermeister von Orange gewählt worden. Bei den Kommunalwahlen waren damals drei Rathäuser an den FN gefallen (Toulon, Orange und Marignane), eine vierte Kommunalregierung folgte im Februar 1997 in Vitrolles infolge einer angefochtenen und wiederholten Rathauswahl. Als einzige rechtsextreme Rathausregierung blieb seitdem jene in Orange übrig, die übrigen gingen 2001 und 2002 wieder verloren. Bompard trat jedoch innerparteilich beim FN zunehmend in die Opposition. Keineswegs jedoch, weil er für die rechtsextreme Partei zu moderat geworden wäre, im Gegenteil: Ihn empörte, dass Jean-Marie Le Pen aus seiner Sicht zeitweilig inhaltlich zu viele Kompromisse machte – 1999 störte er sich etwa, zusammen mit Carl Lang u.a., an einer „Aufweichung“ der Positionen zur Immigration – und dass er die lokale Verankerung der Partei zugunsten eines zentralistischen Führungsstils vernachlässige. 2003 und 2004 führte Bompard, beispielsweise zeitgleich zur „Sommeruniversität“ des FN, eigene Veranstaltungen mit rechtsextremen Dissidenten durch, denen die Parteilinie zu „moderat“ war.

Am 03. November 2005 trat Bompard zur rechtskatholischen, rechtskonservativen Kleinpartei MPF („Bewegung für Frankreich“) des Grafen Philippe de Villiers über, welcher er jedoch ebenfalls alsbald wieder den Rücken kehrte. Am 17. und 18. Oktober 2009 fand dann in „seiner“ Stadt, Orange, die grenzübergreifende Convention identitaire der neofaschistischen Aktivistenbewegung des Bloc identitaire mit über 600 Teilnehmern statt. In der Folgezeit widmete Bompard seine Energien dem Aufbau der Regionalpartei Ligue du Sud in Südostfrankreich – einer Bündnisorganisation, der neben ausgetretenen und abgespaltenen früheren FN-Mitgliedern auch die Identitaires-Bewegung angehört. Bompard ist heute ihr Vorsitzender.

Jacques Bompards kommunale Verwaltungsführung ist keineswegs „moderat“. 1996 machte seine damalige, frisch gebackene FN-Kommunalregierung frankreichweit auf sich aufmerksam, indem sie etwa Bücher zu „kosmopolitischen Geistes“ aus der Stadtbibliothek verbannte. Dazu zählten Kindermärchen aus Afrika, China und Haiti. Auch schraubte Bompard die Kulturförderung radikal zurück. Aufgrund kommunaler Steuersenkungen – die auch dadurch ermöglicht wurden, dass er soziale Ausgaben scharfen Kürzungen unterwarf – gewann er jedoch bei Geschäftsleuten und Innenstadtbewohnern eine erhebliche Popularität. Taktisch geschickt, trat er zudem auf lokaler Ebene mit der Listenbezeichnung Union des droites et du centre (ungefähr: Liste der vereinigten Rechten und der Mitte), der sehr nach einer bürgerlichen Rechten klingt, zur Parlamentswahl an. Örtlich ist Jacques Bompards Vergangenheit allerdings sehr wohl bekannt: Der Mann ist seit Jahrzehnten ununterbrochen auf der extremen Rechten aktiv. Er begann als Mitglied von Unterstützergruppen für die rechtsextreme Terrororganisation OAS („Organisation Geheimarmee“), die ab 1961/62 gegen den französischen Rückzug aus dem Kolonialkrieg in Algerien bombte und mordete, und der von 1964 bis 68 aktiven rechten, studentischen Schlägerorganisation Occident.

Jacques Bompards Regionalpartei erhielt in der Vergangenheit, insbesondere vor den Regionalparlamentswahlen im März 2010, in Südostfrankreich höchstwahrscheinlich finanzielle Unterstützung seitens der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP – um dem FN ein bisschen Konkurrenz in seinem Umfeld zu bereiten, und um ihn um ein paar Stimmen zu schwächen. Inzwischen hat Bompard sich jedoch wieder erheblich an den FN angenähert, und bei der Präsidentschaftswahl im April 2012 (erste Runde) zur Wahl seiner Kandidatin Marine Le Pen aufgerufen. Vor den Parlamentswahlen 2012 war Marine Le Pen im Gegenzug denn auch bereit, Bompard als Kandidaten ihres Wahlbündnisses unter dem Listennamen Rassemblement bleu marine („Marineblaue Sammlung“) antreten zu lassen. In dessen Rahmen hatte der FN in diesem Jahr sowohl parteieigene Kandidaten als auch parteilose Bewerber – wie den Anwalt Gilbert Collard, als prominentesten unter ihnen – und eine Handvoll Mitglieder rechtskonservativer verbündeter Kräfte aufgestellt. Doch ihr Vater, Jean-Marie Le Pen, hatte sich dem Vorhaben widersetzt: In seinen Augen ist und bleibt, wer ihn einmal zu „verraten“ wagte, für den Rest seiner Lebenszeit ein „Verräter“. Jacques Bompard hatte Jean-Marie Le Pen in der Vergangenheit wiederholt öffentlich herausgefordert, u.a. durch ein Interview in der Pariser Abendzeitung Le Monde vom 31. August 2004. ((Vgl. dazu http://www.trend.infopartisan.net/trd1004/t331004.html.))

Extreme Rechte erstmals seit 1998 wieder im Parlament repräsentiert

Bompard war bereits zwischen 1986 und 88, als (unter dem damals geltenden Verhältniswahlrecht) 35 Abgeordnete den Front National in der Nationalversammlung vertraten und er dort Fraktionsstärke aufwies, Parlamentarier gewesen. Neben ihm zogen in diesem Jahr nun auch zwei neue Abgeordnete für den FN ein: Gilbert Collard und Marion Maréchal-Le Pen. Zuletzt war der FN unter dem Mehrheitswahlrecht, das seit 1988 gilt, zwei mal mehr oder minder kurzfristig mit einzelnen Abgeordneten im Parlament vertreten gewesen. Bei der Parlamentswahl im Juni 1988 hatte es eine FN-Abgeordnete mit Mehrheit in ihrem Wahlkreis ins Parlament geschafft: Yann Piat, gewählt in Südostfrankreich. Doch sie innerhalb weniger Monate infolge antisemitischer Aussprüche Jean-Marie Le Pens aus dem FN aus, und zu einer rechtsliberalen Partei unter. (1989 wurde sie, vor dem Hintergrund von Konflikten mit Mafiainteressen an der Côte d’Azur, durch Schüsse ermordet.) Im Dezember 1989 zog für die verbleibende gute Hälfte der Legislaturperiode eine neue FN-Abgeordnete, Marie-France Stirbois, über einen Wahlkreis in Dreux ins französische Parlament ein. Dort hatte eine Parlamentswahl im einzelnen Wahlkreis nachgeholt werden müssen, weil der Inhaber des Sitzes verstorben war; Stirbois erhielt in einer damaligen politischen Ausnahmesituation über 61 % der Stimmen. Bei der darauffolgenden Wahl verschwand sie wieder aus der Nationalversammlung. Bei der übernächsten Wahl zum französischen Parlament, Ende Mai und Anfang Juni 1997, wurde der damalige FN-Bürgermeister von Toulon – Jean-Marie Le Chevallier – als einziger Vertreter der extremen Rechten unter dem Mehrheitswahlrecht gewählt. Doch seine Wahl wurde 1998 wegen Verletzung der Regeln des Wahlkampfgesetzes annulliert. 1999 trat er ferner aus dem Front National aus. Seitdem war die rechtsextreme Partei, seit nunmehr vierzehn Jahren, gar nicht im nationalen Parlament vertreten.

Jean-Marie Le Pens Enkelin

Symbolisch bedeutungsvoll für den Front National ist insbesondere sein Wahlerfolg im südostfranzösischen Carpentras. Dort wurde die 22jährige Jurastudentin Marion Maréchal-Le Pen zur jüngsten Abgeordneten, die das französische Parlament unter der Fünften Republik jemals aufwies, gewählt. Nach der „Enkelin des Duce“, Alessandra Mussolini – neofaschistische italienische Abgeordnete für den Raum Neapel, in der aktiven Politik seit 1993/94 – ist nun auch die Enkelin Jean-Marie Le Pens auf der politischen Bühne präsent. Also die dritte Generation an Le Pens. In den Augen des alternden Jean-Marie Le Pen (er wird am morgigen Mittwoch 84jährig) übrigens ein Nachweis dafür, dass seine Familie – so wörtlich – „von guter Rasse“ sei. ((Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2012/06/03/jean-marie-le-pen-juge-sa-famille-de-bonne-race_1711995_823448.html und http://actu.orange.fr/legislatives2012/news/vaucluse-pour-jean-marie-le-pen-sa-famille-est-de-bonne-race-afp_627196.html))

Marion Maréchal-Le Pen ist nicht die Tochter der Parteivorsitzenden Marine Le Pen, sondern ihre Nichte. Die Mutter ist Jean-Marie Le Pens mittlere Tochter Yann, eine der beiden älteren Schwestern der jetzigen Parteichefin. Ihr Vater ist der frühere Chef des FN-Jugendverbands FNJ (1995 Erfinder des Slogans „Nicht rechts, nicht links, sondern französisch“) und inzwischen aus der Politik zurückgezogen sowie von Yann Le Pen wieder geschieden.

Auch Jean-Marie Le Pen selbst war dereinst, am 02. Januar 1956, im Alter von 27 Jahren zum damals jüngsten Abgeordneten der Nationalversammlung – noch unter der Vierten Republik – gewählt worden. Der junge Le Pen zählte zur damaligen Parlamentarier-Riege der kleinbürgerlichen Anti-Steuer-Protestpartei der „Poujadisten“.

Aber noch ein anderer Aspekt, neben der weiteren Absicherung der dynastischen Erbfolge Jean-Marie Le Pens (nachdem seine Tochter Marine Le Pen im Januar 2011 den Parteivorsitz von ihm übernahm), spielt eine wichtige symbolische Rolle für den Front National. In der Nacht vom 08. zum 09. Mai 1990 war der jüdische Friedhof der südostfranzösischen Stadt auf spektakuläre Weise geschändet: Der Leichnam eines wenige Tage zuvor beerdigten 83Jährigen, Félix Germon, wurde auf dem Stil eines Sonnenschirms gepfählt oder aufgespießt. Die Nachricht von der antisemitisch motivierten Schändung löste größere Proteste aus, und in Paris eine Demonstration mit 200.000 Menschen (und Staatspräsident François Mitterrand persönlich vorneweg). In breiten Kreisen wurde der Front National angeprangert. Dieser behauptete stets, die „nationale Rechte“ werde völlig zu Unrecht mit der Tat in Verbindung gebracht, die Schändung habe vielmehr andere Hintergründe – Satanisten, generelle Religionsfeinde, Mutproben oder Provokation des Mossad – und die Denunzierung der Partei sei ein „staatliches Komplott gegen den Front National“. Die Täter wurden Ende Juli 1996 identifiziert, nachdem einer von ihnen sich bei der Polizei gestellt hatte, und später verurteilt: Es handelte sich um rechtsextreme Skinheads (wenngleich ohne Parteibuch des FN). Zuvor, vor der Dingfestmachung der Täter, hatte der FN allerdings am 11. 11. 1995 noch eine große „Wahrheitsdemonstration“ in Carpentras mit frankreichweiter Mobilisierung veranstaltet.

Nunmehr betrachtet und präsentiert der FN offen die Wahl seiner Kandidatin „ausgerechnet“ in Carpentras als eine symbolische „Wiedergutmachung“. Die frisch gewählte Abgeordnete, Marion Maréchal-Le Pen, selbst erklärte der Presse, ihr Opa habe sie zum Antreten gerade in dieser Stadt gedrängt, „weil unser (Familien-)Name dort in den Schmutz gezogen worden ist“. Nunmehr stellt die extreme Rechte es so hin, als sei „der Schandfleck gereinigt“ und sie selbst moralisch rehabilitiert.

Die Wahl ihrer jungen Abgeordneten verdankt die extreme Rechte dort einer Dreieckskonstellation: Entgegen den Anordnungen der „sozialistischen“ Parteiführung in Paris – welche ihre Kandidatin Catherine Arkilovitch dringend zum Rückzug nach dem ersten Wahlgang aufforderte – hielt diese Bewerberin an ihrer Kandidatur für die Stichwahl fest. Arkilovitch hatte in der ersten Runde als drittplatzierte Kandidatin abgeschnitten. Laut den Regeln ihrer Parteiführung hätte sie deswegen zwischen den beiden Durchgängen den Weg für ihren konservativen Gegenkandidaten frei machen, und zur Wahl der bürgerlichen Rechten gegen den FN aufrufen sollen. Dies verweigerte Arkilovitch jedoch, die deswegen umgehend aus der Partei ausgeschlossen wurde.

Dabei handelte Arkilovitch jedoch nicht unbedingt oder überwiegend aus persönlichem Größenwahn, sie wurde vielmehr stark durch die örtliche Parteibasis in diesem Sinne bedrängt. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Da war die Weigerung der zentralen Parteiführung der UMP, in ähnlicher Weise ihre Kandidaten zugunsten von besserplatzierten sozialdemokratischen Bewerber/inne/n zurückzuziehen, wo es aussichtsreichen rechtsextremen Kandidaturen den Weg zu versperren gält. (Im Namen einer Linie „weder Linke noch Front National“ hielt die UMP ihre Kandidaten überall aufrecht, wo sie konnte.) Da war aber auch das Profil des örtlichen Kandidaten der UMP, Jean-Michel Ferrand, welcher selbst dem Rechtsaußenflügel seiner Partei – der Abgeordnetengruppe Droite populaire – angehörte. (Die Droite populaire firmierte als eine Art Brücke der Konservativen zum FN, wurde jedoch durch die jüngste Parlamentswahl ramponiert: 19 ihrer 39 Parlamentsabgeordneten und Kandidaten auf ihre Wiederwahl fielen dieses Mal durch.) Da war zum Dritten der Wunsch der Sozialdemokratie, „endlich“ in diesem traditionell konservativ geprägten Bezirk politisch zu existieren, und nicht sofort nach dem ersten Wahlgang wieder quasi spurlos von der Bildfläche zu verschwinden.

Im Gegensatz zur örtlichen Kandidatin der Sozialdemokratie riefen jedoch ihr eigener Ersatzkandidat, Roland Davau, und das links neben der Sozialdemokratie angesiedelte Linksbündnis Front de gauche gleichermaßen zur Wahl des UMP-Bewerbers auf. „Um den Einzug der Kandidatin des FN ins Parlament zu verhindern.“ Catherine Arkilovitchs Stimmenanteil zwischen den beiden Wahlgängen blieb weitgehend gleich (21,98 % in der ersten Runde und 22,08 % in der Stichwahl), während der UMP-Kandidat nach dem Wegfall der kleineren Kandidat/inn/en aus der ersten Runde von gut 30 auf gut 35 Prozent zulegen konnte. Doch Marion Maréchal-Le Pen ihrerseits kletterte zwischen den beiden Wahlgängen von knapp 35 Prozent auf über 42 Prozent. Möglicherweise konnte sie dabei auch bisherige Nichtwähler/innen aus der ersten Runde zu ihren Gunsten mobilisieren.

Aus Sicht Arkilovitchs kann man eher von einer gewissen persönlich-politischen Tragik sprechen: Die Kandidatin, die selbst aus einer jüdischen Familie kommt, erlebte sehr schwere Tage. Sie war sich der Verantwortung, dass „ausgerechnet sie“ – infolge ihrer Aufrechterhaltung in der Stichwahl – für die Wahl einer FN-Kandidatin verantwortlich gemacht werden könnte, durchaus bewusst. Da sie Morddrohungen erhalten habe, so ihre Angaben, floh sie momentan aus der Stadt.

Gilbert Collard, aufmerksamkeitssüchtiger Anwalt & Abgeordneter

Im Zusammenhang mit der o.g. Carpentras-Affäre spielte auch der kamera- und mikrophongeile Marseiller Anwalt Gilbert Collard eine wichtige Rolle. Damals, in den frühen 1990er Jahren und auf dem Höhepunkt der Affäre, vertrat er eine der Nebenklägerparteien, die als Zivilkläger gegen die unbekannten Urheber der Friedhofschändung auftraten. Er warf dabei wiederholt mit wüsten Behauptungen auf sich, die darauf hinausliefen, dass die in den meisten Fällen vermutete Urheberschaft der Friedhofsschändung (rechte Antisemiten) eine „falsche Spur“ sei und dass die Tat andere Hintergründe habe: Es handele sich um „Rollenspiele“, eine Art Mutprobe für Sprösslinge aus der örtlichen „besseren Gesellschaft“, die aus genau diesem Grunde vertuscht würde. 1995 wedelte er im französischen Fernsehen mit einem verschlossenen DIN4-Umschlag und behauptete, darin befänden sich unwiderlegbare Beweise, und „die Wahrheit“ würde nun „innerhalb weniger Wochen“ definitiv bekannt werden. Dadurch half er dem FN damals beträchtlich, obwohl dies seinerzeit nicht seine hauptsächliche Absicht war.

Der medienträchtige Gilbert Collard war in seinem Leben schon alles Mögliche und Erdankbare gewesen: Trotzkist in seiner Jugend, später Sozialdemokrat, nebenbei auch Antirassist (die antirassistische Bewegung MRAP schloss ihn 1990 aus, weil er einen Holocaustleugner gerichtlich verteidigte und sich dabei fälschlich ein Amt als Marseiller Vorsitzender – das er nicht innehatte – andichtete). Dann auch Rechtsliberaler, Kommunalparlamentarier in Vichy, Freund des Law & Order-Innenministers Charles Pasqua. Und er unterstützte im Laufe seines politischen Lebens u.a. den „sozialistischen“ Präsidenten François Mitterrand, den bürgerlichen Präsidenten Jacques Chirac, den linksnationalistischen früheren Innenminister und Präsidentschaftskandidat (2002) Jean-Pierre Chevènement, zuletzt auch Präsident Nicolas Sarkozy bei seiner Wahl 2007. Noch später, im Juni 2011, fand man ihn als Vorsitzenden des Unterstützungskomitees Marine Le Pens für die Präsidentschaftswahl wieder.

Nun ist er Abgeordneter des Front National, der zweite neben Marion Maréchal-Le Pen. Er wurde in einer Stichwahl zu dritt gewählt, wobei der UMP-Kandidat Etienne Mourut nach dem ersten Wahlgang zu Wochenanfang tagelang in aller Öffentlichkeit gezögert hatte, ob er nicht seine Beerbung zurückziehen und Collard unterstützen solle. (Er trat letztendlich an, doch nach diesem tagelang inszenierten Zögern fiel er in der Stichwahl auf nur noch 15,63 %, nachdem er zuvor 23,89 % in der ersten Runde holte.)

Bislang besitzt Collard jedoch offiziell kein Parteibuch des FN. Am Wahlabend am vorgestrigen Sonntag kündigte er an, er wollte als Abgeordneter (des südfranzösischen Bezirks Gard) einen ständigen „demokratischen Störenfried“ abgeben. Er wolle aber auch in seinem publicityträchtigen Anwaltsberuf weiterarbeiten – weil er, wie er vor den TV-Kameras erklärte, dadurch „finanziell unabhängig bleibe und es mir leisten kann, von den Sitzungen ausgeschlossen zu werden und meine Bezüge zu verlieren“, falls er den Etablierten etwa unangenehm auffalle. Dabei dürfte auch die Parteiführung an Gilbert Collard wohl zukünftig nicht nur ihren Gefallen haben.

Sonstige FN-Kandidaturen

Auffällig bei der diesjährigen Parlamentswahl ist, dass auch sonstige Kandidaturen aus der extremen Rechten – neben den bisher genannten – zumindest vom Stimmenanteil her höchst erfolgreich waren, und zum Teil noch höhere Ergebnisse erhielten als jene der letztendlich gewählten Abgeordneten. Nur hatten es Abgeordnete, die nicht in einer Dreierkonstellation in die Stichwahl einzogen, sondern in einem „Duell“ mit nur einem/r weiteren Bewerber/in, es eben schwerer, weil sie eine absolute Mehrheit (statt nur einer relativen) benötigt hätten. Deshalb konnte das Mehrheitswahlrecht in diesem Jahr die zum Teil außerordentlich hohen Wahlergebnisse der Rechtsextremen oftmals verschleiern, zumindest dort, wo sie sich nicht in Parlamentsmandaten niederschlugen.

Dazu trug auch bei, dass die Stimmbeteiligung in diesem Jahr derart niedrig war (fast 43 % der Stimmberechtigten enthielten sich in der ersten Runde der Parlamentswahl, fast 44 % in der zweiten). Denn die Frage, welche Kandidat/inn/en in die Stichwahl einziehen konnten, entscheidet sich an der Frage ihres Stimmenanteils im ersten Wahlgang. Der notwendige Anteil von 12,5 %, um in die Stichwahl gehen zu können, bemisst sich an der Gesamtzahl der in die Wähler/innen/listen eingetragenen Wahlberechtigten, nicht der tatsächlich abgegebenen Stimmen – beträgt also die Wahlbeteiligung nur die Hälfte, dann steigt die erforderliche Stimmenzahl dafür auf einen Anteil von 25 %. Aus diesem Grund war in diesem Jahr, aufgrund des Kontextes einer insgesamt niedrigen Stimmbeteiligung, der Einzug in die Stichwahl dem FN vielerorts versperrt. Denn meistens hätte er dafür über 20 Prozent der Stimmen benötigt. Er schaffte diesen Einzug letztlich in 61 Wahlkreisen (von insgesamt 577), und verpasste ihn anderswo. Ein beachtliches Potenzial wurde dadurch in diesem Jahr „unsichtbar“ gehalten.

Einige ausgewählte Ergebnisse: Im lothringischen Forbach erhielt der 30jährige FN-Kandidat und Berater Marine Le Pens, der Elitehochschulen-Absolvent Florian Philippot (bei manchen in der Partei als „Technokrat“ unbeliebt), in der Stichwahl mit einem Sozialdemokraten 46,3 %. Im dritten Wahlkreis von Marseille – der einen Teil der Nord-Stadtteile umfasst – holte der dortige FN-Bewerber Stéphane Ravier sogar 49,01 %. Er verfehlte damit den Wahlkreis, der an die Sozialdemokratie ging, nur knapp.

In der Regel wuchs der Anteil des FN vor allem dort, wo er sich im zweiten Wahlgang sozialistischen Bewerber/inne/n gegenüber sah, auf ein sehr hohes Niveau (auch wenn er nicht gewann). Dies deutet daraufhin, dass sich in diesen Fällen ein doch beträchtlicher Anteil des bürgerliche und konservativen Wählerpotenzials hinter die Kandidaturen der extremen Rechten stellte. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in einer Umfrage in den Tagen zwischen den beiden Durchgängen der Parlamentswahl stattliche 66 Prozent der befragten Wähler/innen der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP erklärten, sie träten für örtliche Wahlbündnisse der politischen Rechten unter Einschluss des FN ein. Also zwei Drittel.

Allerdings verloren jene UMP-Kandidat/inn/en, die sich am stärksten und offensten in Richtung Front National aus dem Fenster hängten – wie Nadine Morano im lothringischen Toul, Brigitte Barèges in Südwestfrankreich, oder die berüchtigte Bürgermeisterin von Aix-en-Provence: Maryse Joissains – in der Regel in ihren Wahlkreisen. Ihnen liefen die Wähler/innen der moderaten Rechten und der „Mitte“ oft davon.

Im nordostfranzösischen Wahlkreis um Hénin-Beaumont scheiterte Parteichefin Marine Le Pen mit 49,89 Prozent der Stimmen nur knapp gegen den sozialdemokratischen Bewerber Philippe Kemel mit 50,11 Prozent. Nur 114 Stimmen trennen die beiden Kontrahenten. Eine durch Marine Le Pen geforderte, erneute Auszählung der Stimmen unterblieb und wurde im Laufe des Abends vom Präfekten (Vertreter des Zentralstaats im Département) unterbunden. Der Front National möchte nun das Verfassungsgericht zu Kontrollzwecken anrufen. Unterdessen setzte Marine Le Pen am Wahlabends bereits die Segel auf die Vorbereitung Kommunalwahlen in gut anderthalb Jahren, die im März 2014 stattfinden. Dafür macht sie sich ausnehmend gute Hoffnungen, nunmehr „endlich“ Hénin-Beaumont einzunehmen: In der Stadt selbst (die bei der Umbildung des Parlaments-Wahlkreises 2009 mit zwei eher sozialdemokratisch dominierten Kommunen zusammengelegt worden) erhielt Marine Le Pen am vergangenen Sonntag eine deutlich Mehrheit. Über 55 Prozent.