Psychoanalytische Entlarvung des Glücks

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Ich bin ein Glückspilz. Daß ich das werden würde, wußte meine Mutter schon einige Wochen vor meiner Geburt. Deshalb bestand sie darauf, mich Fortunatus zu nennen (sie meinte wohl eher Felix, konnte jedoch kein Latein)…

Von Paul Parin

Das ist so gekommen. Gezeugt wurde ich, als mein Vater, der als Delegierter des Roten Kreuzes an den Fronten des k. und k. Heeres tätig war, 1915 auf Weihnachtsurlaub kam. Dann verschwand er wieder und verschaffte durch seine Abwesenheit meiner Mutter das einzige glückliche Jahr ihres 51jährigen Ehelebens. Der Vater hatte sie in sein Landgut verbannt, wo das altgediente Gesinde der Madame aus der Stadt feindselig begegnete. Im Kriegsjahr 1916 herrschte Hungersnot. Sie brachte es fertig, daß ihre Leute immer genug zu essen hatten, und man war bald viel freundlicher zu ihr. Gegen den Herbst gab es viel Regen, deshalb in den Wäldern reichlich Pilze. Meine Mutter entwickelte ein Talent, Pilze zu finden, wodurch die Verpflegung erfreulich angereichert wurde. Gerade als sie wieder einmal ein Nest prächtiger Steinpilze gefunden hatte, wußte sie plötzlich: »Ich bekomme einen Sohn, und der wird ein Glückspilz.« Sie ist der Überzeugung treu geblieben, als sich zwei Jahre später herausstellte, daß das Büblein mit einer Mißbildung zur Welt gekommen war, die es fraglich machte, ob nicht der Glückspilz lebenslänglich im Rollstuhl bleiben müßte.

Psychoanalytiker würden sich zunächst nicht über diese Geschichte wundern. Hat doch bereits Sigmund Freud festgestellt, daß die »menschliche Aggressionslust … den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen« bildet und vergiftet, »vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind«. ((Freud, S.: »Das Unbehagen in der Kultur« (1930), GW XIV, S.473.)) Bei genauerem Hinsehen ist dieses Lebensglück doch recht teuer erkauft: ein Weltkrieg, Hungersnot, eine tief unglückliche Frau, ein verregneter Sommer usw.

Um als Psychoanalytiker über Glück zu schreiben, muß ich mich schon an einen Fall erinnern, wo ich selber richtig Glück gehabt habe. Sogleich fällt mir etwas ein. Als ich die Neurologische Universitätspoliklinik Zürich nach vier Jahren verlassen wollte, sagte mir der Chefarzt Dr. Katzenstein, der mich wirklich gern hatte und den ich verehrte: »Eine bedeutende neurologische Arbeit sollten Sie uns doch noch liefern.« Eine wissenschaftlich wertvolle Arbeit aus seiner Klinik, das wäre ein Zeichen meiner Dankbarkeit und auch für meine Laufbahn nicht schlecht. Am nächsten Tag hatte ich Glück. Ein älterer Mann kam in die Sprechstunde, der am Erblinden war; weder Augenärzte noch Neurologen hatten herausfinden können, weshalb. An ihm entdeckte ich eine bisher unbekannte Krankheit und konnte sechs Monate später meinem Chef zum Abschied die Monographie »Opticus-atrophie bei Arteriosclerose der Carotis interna« überreichen.

Viel später, beim Lesen der Druckfahnen, klärte sich der Glücksfall auf. Diese Krankheit war schon im 19. Jahrhundert von einem Augenarzt beschrieben worden, der meinen Großvater behandelt hatte, und seither in Vergessenheit geraten. Das minderte den Wert meiner Arbeit nicht. Doch wurde mir plötzlich klar, daß die Entdeckung Ergebnis unbewußter Ängste war. Diese Form der Erblindung ist jener täuschend ähnlich, die bei chronischem Grünen Star (Glaukom) eintritt, einer Krankheit, an der zwei meiner Großeltern erblindet waren, an der auch mein Vater litt (und an der seither meine beiden Geschwister erkrankt sind). Gerade in jenem Lebensalter (ich war 34 !) mußte ich befürchten, ebenfalls zu erblinden. Aus dieser Angst heraus entstand das Bedürfnis, eine Krankheit zu entdecken, die nur bei alten Leuten vorkommt und die der gefürchteten lediglich ähnlich sieht.

Es erwies sich, daß dieser »Glücksfall« von unbewußten Bedeutungen und Gefühlen mitbestimmt war. Auch ist er von allerhand Unglück umgeben. Dem Zufall ist ein bescheidener Anteil zuzurechnen.

Psychoanalytiker denken nicht nur, daß man Unfälle oft unbewußt verursacht, sein Unglück selber »macht«. Sie haben eine Grundauffassung, eine für ihre Wissenschaft unentbehrliche Prämisse, die lautet: Alles Seelische ist determiniert; das Ereignis des Glücks, das eminent subjektiv, dem Seelischen zuzurechnen ist, demnach auch. Daß es glückliche Zufälle gibt, die unter dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit stehen, ist unbestritten. Zu erklären bleibt, daß Menschen Glück haben wollen, daß es manche auch wirklich haben (oder zu haben meinen) und andere nicht, und warum das Phänomen »Glück« so selten und zumeist in so sonderbaren Formen auftritt: als Wunsch, als Phantasie oder Traum, als Lohn für etwas Moralisches, und dann wieder kollektiv, als Versprechen einer anderen besseren Welt, am häufigsten unter bestimmten Bedingungen transzendent, im Jenseits.

Als typisches, wenn auch spätes Kind der Aufklärung ist die Psychoanalyse illusionsfeindlich. Psychoanalytikerlinnen sind der Glücksillusion jedoch ganz anders ausgesetzt als Philosophen. Ihre praktische Arbeit beruht darauf, daß jemand ihre Dienste in Anspruch nimmt, weil er oder sie unglücklich ist und glücklich werden will. Gleich zu Beginn seiner Entdeckungen hat der Meister festgestellt, die Psychoanalyse könne der Glückserwartung nicht entsprechen, sie sei lediglich geeignet, »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln«. ((Freud, S.: »Studien über Hysterie« (1895), GW I, S.312.)) Es gelingt jedoch nicht leicht, unsere Patienten davon zu überzeugen, daß ihr Streben nach Glück nicht zu erfüllen ist, daß sie sich mit einer Minderung ihres Unglücks begnügen müssen. Wir wissen, ihre Erwartung beruht auf einem Mißverständnis. Sie sind aber nur schwer davon abzubringen. Daran sind wir wenigstens teilweise selber schuld. Denn es gibt jene zweite theoretische Annahme, die wir unserem Tun zugrunde legen: das Lustprinzip. Der Mensch strebe im Grunde seiner Seele nach Lust und versuche, Unlust zu vermeiden. Wir Analytiker machen uns zum Anwalt, Helfer oder Komplizen dieses Strebens. Wie können wir das Mißverständnis vermeiden, wir glaubten, so wie unsere Patienten, an die Möglichkeit von Glück! Während der Kur verstärkt sich die Illusion. In oft mühevoller Arbeit gelingt es, dies oder das an inneren Hindernissen, Hemmungen, Blockierungen, Ängsten und Peinlichkeiten aufzudecken, Konflikte zu entschärfen, den Zwang zur Wiederholung schmerzlicher Erfahrungen aufzuheben und neue Möglichkeiten beglückenden Lebens und Liebens zu eröffnen. Dabei empfinden unsere Patienten einen Hauch von Glück, und wir mit ihnen.

Diese Erfahrungen wollen wir nicht verleugnen. Besseres Verstehen und mehr Verständnis für den Anderen, die Vertiefung und Intensivierung von liebevollen Gefühlen, die Möglichkeit zur Befriedigung längst gehegter Wünsche sind Vorgänge, die glücklich stimmen. Die Psychoanalyse kommt zu einem einigermaßen überraschenden Schluß. Glück, das man ganz allgemein von außen erwartet, als etwas, das einem passiert und das man als Zustand festhalten möchte, zeigt sich als Erfolg fortgesetzter aktiver Arbeit. Glück ist nicht ein Zustand, sondern ein Prozeß. Glück ist Bewegung, es beruht auf innerer Veränderung und erfordert eine ständige Auseinandersetzung, mit sich und den anderen.

Natürlich kann und will die Psychoanalyse die Bedeutung der Illusion nicht wegdiskutieren. Einigermaßen bitter schreibt Freud: »Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.« ((Freud, S.: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (1915), GW X, S.331.)) Das »Glück« der Illusion steht einer »Wirklichkeit« gegenüber, die auf Dauer kein Glück zuläßt. Leicht fügt sich an, was Freud viel später einmal geschrieben hat: »… man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch >glücklich< sei, ist im Plan der >Schöpfung< nicht enthalten.« ((Freud, S.: »Das Unbehagen in der Kultur« ( 1930 ), GW XIV, S. 434.)) Dieser Satz ist oft zitiert worden. Man nahm ihn als Zeichen für die pessimistische Weltsicht Freuds, die sein Werk durchzieht, und man war verwundert, daß der atheistische Alte sich auf eine »Schöpfung« berief, wenn auch nur in Anführungszeichen. Liest man weiter, erübrigt sich das Staunen: »Was man im strengen Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich.« Da reduziert er Glück auf jene paradigmatischen Manifestationen des Lustprinzips, den Orgasmus oder das Hochgefühl des Siegers im Moment seines Triumphes. Das glückliche Gefühl bei der Befriedigung eines Triebwunsches wird von der Psychoanalyse anerkannt; es ist eine psychische Realität. Solche Gefühle dauern »ihrer Natur nach« nur kurz. In der Erinnerung festgehalten, können sie eine gewisse Dauerhaftigkeit erlangen. Einen glücklichen Zustand kann es jedoch nicht geben, sosehr wir ihn auch herbeiwünschen. Die Vorstellung dauerhaften Glücks beruht auf einer Illusion. Am Auseinanderklaffen der Ansprüche aus dem Lustprinzip und der Unmöglichkeit von Glück entwickelt Freud jene umfassende Kritik der Kulturentwicklung, in der sich seine radikale Menschenliebe durchsetzt: »Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näher zu bringen, nicht aufgeben.« ((Ibid. S.442.)) Noch heute, beinahe sechzig Jahre später, sind so manche Psychoanalytiker/innen – zu denen ich mich zähle – daran, das ihnen erschließbar scheinende Wirrsal menschlicher Leidenschaften und verderbenbringender Verhältnisse mit ihrem besonderen Instrument kritisch zu durchleuchten, gewiß mit dem Ziel, die böse und blöde »Vorsehung« zugunsten besserer Verhältnisse zu entthronen. Die Entlarvung der Illusion ist geleistet; sehen wir zu, was wir tun können. Wenn man sich damit abfindet, daß jedes Glück von mannigfachem Unglück begleitet ist, bleibt doch der Widerspruch bestehen, daß das Glück jeder Triebbefriedigung nur von kurzer Dauer sein kann, wir aber nach einem Glückszustand streben. Der Widerspruch kann scheinbar umgangen werden. Wenn es auch kein dauerhaftes Glück gibt, so sind »Momente des Glücks« doch nicht zu verachten. So hieß eine Kunstausstellung, die der Kulturbeauftragte der Stadt Zürich in diesem Jahr veranstaltet hat. Neben zahlreichen Darstellungen von Tragik und Elend gibt es ja auch andere, in denen die bleibende Kraft des Kunstwerks dem glücklichen Augenblick Dauer verleiht. Ein schlauer Kunstgriff vielleicht, um uns über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen, oder aber ein Bekenntnis zum Sieg der Kunst über die Schattenseiten des Lebens. Ich bekam zuerst den schön illustrierten Katalog der Ausstellung zu sehen. Unter vielen anderen Werken war »Der Kuß« von Auguste Rodin ausgestellt, als reinste Darstellung des Liebesglücks. Das letzte Bild des Katalogs zeigt eine Schar Menschen auf einem öffentlichen Platz einer österreichischen Stadt, die im März 1938 mit glücklich-verzückten Mienen dem Einzug ihres Führers Adolf Hitler beiwohnen. Nein, mußte ich mir sagen, so geht es nicht. Weder die Intensität eines Gefühls noch die ästhetische Verführung sind imstande, Glück zutreffend darzustellen, geschweige denn zu erzeugen. Vom Besuch der Ausstellung habe ich abgesehen. Eine andere menschliche Erfindung, um dem kurzen Moment des Glücks Dauer zu verleihen, schildert der holländische Missionar und Ethnologe J. Winthuis. In den kultischen Gesängen melanesischer Stämme, der Aranda und Loritja, kommt »die glühende Sehnsucht« zum Ausdruck, »immerfort in dieser Heimat der geschlechtlichen Liebe (…) gleich den wandernden Totemgöttern, in immer wiederholter Kopula fortzuleben«. ((Winthuis, J.: Das Zweigeschlechterwesen, Leipzig 1928, S.73.)) Die Gottheit wird in kultischen Inkantationen als »Wurm in der Rinde« (eigentlich tangatja-Larve) besungen. So wie der Holzwurm beständig bohrt, ist dieser Gott andauernd in orgastischem Geschlechtsverkehr begriffen. Diese einigermaßen kapriziöse Lösung des Glücksproblems stieß auf das größte Interesse der psychoanalytischen Wissenschaft. Noch heute lassen wir Psychoanalytiker nicht davon ab, dem menschlichen Glücksstreben nachzuspüren. »So sehr« bewegt es uns. Unter den mannigfachen Äußerungen, denen Psychoanalytiker zur Ergründung der unbewußten Triebkräfte auf der Suche nach Glück nachforschten, nimmt die Spielsucht einen bevorzugten Platz ein. Während das Streben nach Besitz, nach Macht, nach sexueller Lust noch einigermaßen vernünftig erscheint und kaum einer weiteren Begründung bedarf, verspricht die Verwendung von Drogen, die auf toxischem Weg Glücksgefühle erzeugen, wegen des Ineinandergreifens physiologischer und psychologischer Prozesse keine klar verständliche Auskunft über die tieferen Motive zur Glückssuche zu liefern. Die Leidenschaft des Glücksspielers hingegen, die sich rational kaum begründen läßt, ist offensichtlich frei von toxischen Beimischungen.

Die einfachste Überlegung zeigt, daß Glück auf diese Weise nicht zu erlangen ist, und die breiteste Erfahrung beweist, daß Spieler und Spielerinnen über die Erregung des Augenblicks hinaus nichts zur Stillung ihres Glücksverlangens erreichen. Im Gegenteil, sie verlieren, sie müssen verlieren, versuchen aber, solange sie irgend können, dieses Wissen abzuhalten und die Illusion zu bewahren, das Glück doch noch zu erhaschen, zu erzwingen, zu beschwören. In Dostojewskis autobiographischem Roman Der Spieler und in Stefan Zweigs Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau fand Freud die überzeugendsten Hinweise für seine Deutung der Spielleidenschaft. ((Freud, S.: »Dostojewski und die Vatertötung« (1928), GW XIV.)) Es würde den Umfang dieses Aufsatzes bei weitem sprengen, wenn ich nur eine der Deutungen, die die Psychoanalyse immer wieder versucht hat, verständlich ableiten wollte. Statt dessen will ich die verschiedenen Ansätze kurz zusammenstellen. Das, was ihnen gemeinsam ist und worauf sie schließlich hinauslaufen, sagt viel über die psychoanalytische Auffassung der Glückssuche aus. Die Aufgabe wird mir dadurch erleichtert, daß in Zürich in den letzten Jahren eine Epidemie von Spielsucht ausgebrochen ist, ausgelöst von der Einrichtung zahlreicher Spielsalons, und daß Mario Gmür, ein Züricher Psychoanalytiker, der Untersuchung von Glücksspielern mehrere Studien gewidmet hat, in denen er auf die psychoanalytischen Erklärungen eingeht, die es bisher gibt. ((Gmür, M.: »Die Glücksspielsucht«, in: Drogalkohol, Lausanne 1988, 12, 2, S.75-88. Gmür, M. und Halbheer, B.: »Geldspielautomaten als Auslöser süchtigen Verhaltens«, ibid. S.89-97. -Gmür, M.: »Die Psychodynamik der Glücksspielsucht«, MS (1988).)) Von Hattingberg (1914) bezeichnete das Erleben der sexuell getönten »Angstlust« oder Spannungslust als das entscheidende Motiv des Spielers. J. Neufeld (1923) deutete das zwanghafte Spielen als ausweglosen Versuch, Schuldgefühle zu stillen, die dem unbewußten Wunsch entspringen, den Vater zu töten.

Auch Sigmund Freud (1928) sah Dostojewskis Spielsucht als Ausdruck einer masochistischen Schuldverarbeitung und Selbstbestrafungstendenz und in der Spielleidenschaft den symbolischen Ersatz für den Masturbationszwang, der von diesen Phantasien ausgeht. Auf die Lust der höchsten Anspannung folgt Ruhe und der Vorsatz, der Versuchung beim nächsten Mal zu widerstehen. Es kommt zu einem Ringen mit der Impulskontrolle, wobei zuletzt das Gefühl obsiegt, daß dem Impuls nachgegeben werden dürfe. Th. Reik sah darin ein symbolisches Fragen des Spielers, adressiert an »Fortuna«, ob er für Masturbation verurteilt oder freigesprochen wird. Seit W. Stekel, der auf das Omnipotenzdenken des Spielers verwies, und E. Simmel (1920), der den narzißtischen Drang zur autoerotischen Befriedigung als Ersatz für konflikthaftere Regungen hervorhob, verweisen die Erklärungen auf das unbewußte Streben, die verlorene Allmacht der Kindheit wiederherzustellen. Diese Möglichkeit, das Schicksal zu kontrollieren, verfolgt, je nach den Erfahrungen und Theorien der Autoren, wohl auch nach der gerade vorherrschenden »Mode« psychoanalytischen Denkens, die verschiedensten Ziele. Nach R. Greenson (1947) soll die glückliche symbiotische Einheit von Mutter und Kind wiederhergestellt werden, laut R. Lindner (1950) soll die Angst, die vom Wiederauftauchen inzestuöser Wünsche ausgelöst wird, bekämpft, nach E. Bergler (1936, 1943, 1970), der sich eingehend mit dem Thema befaßt hat, soll das Schicksal beliebig kontrolliert werden, womit eine unbewußte Aggression gegen die Eltern zum Ausdruck kommt. Spieler könnten »nicht aufhören«, bis der Verlust ihr unbewußtes Strafbedürfnis befriedigt.

Die Reihe der Autoren ließe sich fortsetzen. Ich schließe mich der Deutung von M. Gmür (1988) an, der »das Wesen der >klassischen neurotischen Spielsucht< … nicht als nicht-substanzgebundene Sucht, sondern … als eine nicht-sexualitätsgebundene Perversion« bezeichnet. »Die Spielsucht stellt im Sinne von Fritz Morgenthaler ((Morgenthaler, F.: Homosexualität, Heterosexualität, Perversion, Frankfurt 1984.)) eine >Plombe< dar, mit welcher eine narzißtische Lücke ausgefüllt wird. Der Spieler besetzt im Spiel libidinös und narzißtisch die Dynamik, die Abfolge von Glanz und Elend, von Euphorie und Depression, von Sieg und Niederlage.« Manipulativ erlebe er die Dialektik »in einer Art von alloplastischer Autoerotik«. Eine »Kluft zwischen Ich-Ideal und Ich«, zwischen Wunschbild und realem konflikthaften Sein, ist eine Folge früh erfahrener Verletzungen und Traumen, die Lücken und Narben der Ichentwicklung hinterlassen haben.

Allen Erklärungen ist gemeinsam, daß der Glücksspieler ein Mittel gefunden hat, sonst schwer erträgliche Spannungen, innere Konflikte, schmerzhafte seelische Verletzungen zu überwinden. Das Mittel ist die Allmacht der Phantasie. Omnipotenz ist eine normale Phase kindlichen Erlebens, die sich neben einer realistischen Erfassung der Umwelt erhält, unabhängig von Alter und Geschlecht und, wie ich hinzufügen kann, auch mehr oder weniger unabhängig von der kulturspezifischen Sozialisation. (Es gibt kaum eine Kultur, in der bei gegebener Gelegenheit keine Spielsüchtigen entstehen, wenn auch die Bereitschaft dazu bei einzelnen Völkern wie den indonesischen Malayen besonders groß ist.)

Man kann die Deutungen der Spielleidenschaft auch so zusammenfassen: Ihre Energie speist sich aus der autoerotischen Spannung. Die mitgebrachten Konflikte und Schmerzen verlieren vorübergehend ihre Bedeutung. Allmacht ist das Mittel, das aus der Kindheit stammt und die kindliche Illusion eines Glücks herstellt.

Die allgemeine Erfahrung, daß die Kindheit keine glückliche Zeit ist und auch unter günstigen Umständen nicht sein kann, scheint dieser Deutung zu widersprechen. Die »glückliche Kindheit« ist eine Mystifikation, die besonders die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts aufrechterhalten hat, indem die schlimmen Erfahrungen der Kindheit verdrängt und umgedeutet wurden. Wir wissen aber auch, daß das magische Denken des Kindes den glücklichen Zustand der Geborgenheit, die Vermeidung unerträglicher Frustrationen, die Lösung unlösbarer Konflikte ein Stück weit ermöglicht.

Wenn es, wie in der Spielleidenschaft, gelingt, die Allmacht der Magie wiederherzustellen, wird das in Wirklichkeit nie ungestörte Glück der Kindheit greifbar.

Auf das allgemeine Streben nach Glück angewandt, ergibt sich aus diesen Betrachtungen, daß es nicht allein die Konfrontation mit den Widrigkeiten des Lebens oder dem Plan der »Schöpfung« ist, die Glück als Illusion erweist. Bereits die Vorstellung eines glücklichen Zustands kann nicht anders als magisch, illusionär, jenseits der Erfahrung gefaßt werden. Daß ein phantasiertes, vor jeder Unbill gesichertes Kindheitsglück gemeint ist, dafür gibt es untrügliche Beweise. In zahlreichen Religionen finden sich festgefügte Vorstellungen von dauerndem Glück, als Paradies im Jenseits, das nach dem Tod unter jeweils wechselnden Bedingungen zu erreichen ist.

Sosehr sie sich nach den einzelnen Glücksbedingungen unterscheiden, ist ihnen zuerst einmal die Tendenz zur Dauer des glücklichen Zustands gemeinsam. Nachdem die entsprechenden Stufen durchlaufen sind, bleibt der Glückszustand erhalten. Nicht nur die christlichen und islamischen Paradiese verheißen ein dauerndes Glück. Auch das Aufgehen der Seele ins Nichts der östlichen Religionen verspricht einen glücklichen Zustand. Die Kränkung, daß das Leben endlich ist, wird durch die Glückseligkeit des unendlichen Seins kompensiert.

Es ist bekannt, wie verführerisch solche Vorstellungen sind. Kirchen und die mit ihnen verbündeten Machthaber dürfen damit rechnen, daß ihre Anhänger die größten Opfer bringen werden, um ihren Eintritt in das Paradies zu erreichen. Wir sind sogar gewohnt, weltliche Systeme, politische und philosophische Vorschläge zur Herstellung eines irdischen Glückszustandes als religiös zu bezeichnen, so sicher sind wir, daß Glück nur in der Transzendenz und nicht auf dieser Welt möglich ist.

Andererseits sind die Bedingungen, ein Paradies zu erreichen, leicht zu durchschauen. Man muß daran glauben. Allein schon die Unmöglichkeit der Nachprüfung, einer Realitätskontrolle, wirkt kindlich. Die Vorbedingung des Glaubens ist der Verzicht auf intellektuelle Kritik. Den können wir als Erwachsene nur leisten, wenn wir uns wie unmündige Kinder einem höheren Wissen oder dem, was von den Verkündern und weisen Trägern des Glaubens dafür ausgegeben wird, anvertrauen. Manche Paradiesesvorstellungen enthalten in der Unmittelbarkeit der dort winkenden Glücksmöglichkeiten kindliche Elemente, andere entsprechen mehr dem Bild, das sich die Träger des Glaubens von einer glücklichen Kindheit machen, als irgendeiner Wirklichkeit. Es gibt jedoch Ausnahmen.

Das Leben der Dogon, eines kleinen Volkes von Pflanzern in der Republik Mali ((Parin, P., Morgenthaler, F., Parin-Matthey, G.: Die Weißen denken zu viel (1963), Fischer TB, Frankfurt 1983, S.108.)), ist mit dem Tode nicht zu Ende. Die Toten leben in neuen Generationen. Sie nehmen teil an neuer Fruchtbarkeit. Das Jenseits braucht keinen Ausgleich zu bringen für die Unordnung auf dieser Welt. Bosheit und Güte finden ihren Lohn schon hier. Das Paradies der Dogon, in dem die Verstorbenen wohnen, sieht aus wie das Dogonland selbst. Die Dörfer sind wie die, in denen die Lebenden wohnen. Die Reichen sind reich, die Armen arm. Alle leben mit den Ihren und pflanzen Hirse und Zwiebeln, wie sie es taten, als sie noch auf der Erde waren. Im trockenen Busch stehen die gleichen Bäume. Aber die Früchte der Bäume haben schönere Farben, die heller leuchten. Das ist so, damit die Seligen erkennen können, daß sie im Paradies sind und nicht mehr im Dogonland. Sollen wir das Paradies der Dogon überhaupt als eine Darstellung des Glücks gelten lassen? Außer der Vorstellung, »daß es weitergeht«, daß das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist, ist in der Schilderung des Paradieses nichts Kindliches zu erkennen.

Ich wage zu behaupten, daß es sich um eine Glücksphantasie, um ein »echtes« Paradies handelt. Doch fehlt dabei der Hauch von Kindlichkeit und auch weitgehend der Charakter des Illusionären, an dem die psychoanalytische Entlarvung des Glücks anzusetzen pflegt. Im Zusammenleben der Dogon in ihren Dörfern und Familien, im Gang ihrer traditionellen Sozialisation ebenso wie in ihrem Liebesleben sind so wirksame Prozesse vorgesehen, um Konflikte zu lösen, Not und seelische Wunden zu heilen, daß sie eine Glücksillusion gar nicht auszubilden brauchen, dazu vielleicht auch gar nicht imstande sind. Dafür spricht der Umstand, daß sie gegenüber Versuchen zur Missionierung durch die benachbarten islamitischen Völker und diversen christlichen Missionsunternehmen gleichgültig geblieben waren. ((Dieser Satz bezieht sich auf Beobachtungen im Jahr 1960.))

Wir brauchen die Lebens- und Gesellschaftsordnung der Dogon nicht zu idealisieren. Als Psychoanalytiker haben wir ein gutes Argument anzunehmen, daß sie kein Glück nötig haben, weil es ihre Einrichtungen ermöglichen, Konflikte und Frustrationen fortweg aktiv zu bearbeiten. Eingangs habe ich die Vermutung ausgesprochen, die aktive Bearbeitung realer und seelischer Schwierigkeiten sei das größtmögliche Äquivalent von Glück. Daß dies bei den Dogon zutrifft, dafür gibt es einen deutlichen Hinweis. Die Angst vor dem Tod kommt bei den Dogon kaum vor. Als seltene krankhafte Abweichung mag sie auftreten. Auch für sie stellt das Ende des Lebens ein Problem dar. Sie haben sogar eine Fülle ritueller und spiritueller Einrichtungen, um die Tatsache des Sterbens, des Abschieds, des Aufhörens in ihr Leben einzubauen und ihr den Stachel des Schmerzes und der Angst zu nehmen. Dazu gehört, daß alternde Leute, die längst noch gesund und munter sind, beginnen, sich aktiv mit ihrem Sterben zu beschäftigen und das eigene Todesritual vorzubereiten. Das ist ein Teil des Lebens, erfolgt im Austausch mit den näheren Verwandten und Freunden und wird von der Gemeinschaft gebilligt. Der aktiven Bearbeitung dieser und anderer unvermeidlicher Unbill schreibe ich es zu, daß ihre Möglichkeiten von Glück zunehmen und Illusionen von Glück auch dort zurücktreten, wo sie bei uns Anlaß sind, die Angst vor dem Tod mit einer kindlichen Paradiesesvorstellung zu mildern.

Nicht ohne Vorbehalte habe ich mitgeteilt, daß ich ein »Glückspilz« bin, ich gebe zu, daß meine Mutter mit ihrem magischen Befund einigermaßen recht behalten hat. Andererseits muß ich als Psychoanalytiker darauf bestehen, Glück als Illusion zu entlarven. Ich kann erklären, wieso ich das nicht als Widerspruch erlebe. Ich verspüre trotz meines fortgeschrittenen Alters keine Angst vor dem Tod. Damit stehe ich nicht allein da. Ich vermute, daß dies ein Zeichen für ein relativ glückliches Leben ist und bei Menschen auftritt, die Ängste, Frustrationen, Konflikte und dergleichen einer aktiven Bearbeitung unterziehen können. Ihnen mag es in genügendem Ausmaß gelingen, ihre Wünsche auf den wichtigsten Gebieten des Lebens zu erfüllen, vorab in der Liebe, in der Auseinandersetzung mit den Mitmenschen und in den von Freud angemahnten »Bemühungen«, das Glücksstreben der Menschen irgendwie der Erfüllung näher zu bringen.

Quelle: Paul Parin, Psychoanalytische Entlarvung des Glücks. In: Kursbuch 95 (Berlin).
Paul Parin (2005): Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Paul Parins Schriften auf CD, herausgegeben von Johannes Reichmayr, 19,90 Euro, Psychosozial-Verlag, Gießen, Bestellen?