Sich selbst überlassen

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In Israel gab es in den vergangenen Monaten Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge. Vor allem im Süden Tel Avivs, wo viele ­illegalisierte Migranten leben, wird die soziale Lage immer angespannter. Antirassistische Gruppen versuchen, die israelische Öffentlichkeit für das Problem des Rassismus zu sensibilisieren, aber die fremdenfeindliche Rhetorik in Politik und Medien verschärft sich…

Von Hannes Bode
Jungle World v. 16. Mai 2012

Viel war in Israel in den vergangenen Monaten von den »Eindringlingen« die Rede. So werden die etwa 60 000 afrikanischen Flüchtlinge, die in den vergangenen sechs Jahren illegal nach Israel eingewandert sind, von vielen Politikern, in den Medien und immer öfter auch in der Bevölkerung genannt. Fast alle stammen aus Eritrea oder dem Sudan. Sie haben Bürgerkriege und Stammesfehden, politische Repression und Armut hinter sich gelassen, um Arbeit und etwas mehr Wohlstand in der »Ersten Welt« zu finden. Die Flucht nach Israel, dem einzigen Flecken dieser »Ersten Welt«, den man von Afrika aus zu Fuß erreichen kann, ist eine gefährliche Angelegenheit.

In den vergangenen Jahren hat sich im ägyptischen Sinai nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen und der israelischen Polizei jenseits des üblichen Schleusersystems ein brutaler Kidnapping-Markt entwickelt. Tausende afrikanische Flüchtlinge wurden bereits auf ihrem Weg nach Israel von kriminellen Banden entführt und meistens erst gegen Lösegeld freigelassen, wobei von den Familien im Sudan und Eritrea bis zu 20 000 Dollar gefordert werden. Diejenigen, die die Schikanen überlebt haben, berichten oft von Folter und Vergewaltigung. Zahlreiche Flüchtlinge werden getötet – die Banden sind in den internationalen Organhandel verwickelt. Zudem eröffnen die ägyptischen Sicherheitskräfte meist scharfes Feuer auf Flüchtlinge, die die israelische Grenze überqueren, allein im Jahr 2010 wurden so Dutzende Menschen getötet.

Über die Probleme der Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern und die Strapazen ihrer Flucht weiß in Israel kaum jemand Bescheid. Laut Flüchtlingsorganisationen haben die Rhetorik der rechten Regierungskoalition und die kritik­lose Übernahme ihrer populistischen Aussagen durch weite Teile der Medien die Verbreitung von offenem Rassismus gefördert. »Die Eindringlinge überfluten unsere Städte«, behauptete etwa Ministerpräsident Netanyahu. Im April wurden von Flüchtlingen bewohnte Häuser im Süden Tel Avivs mit Brandsätzen angegriffen. Auch offene Anfeindungen auf der Straße werden häufiger. Dahinter stecken die Ängste von Teilen der Bevölkerung, die ihre Existenz unter anderem durch die Wirtschaftskrise bedroht sieht. Ängste, die von vielen Medien und rechten Populisten geschürt werden. Kürzlich berichtete etwa die Boulevardzeitung Maariv: »Seit langem bewacht die Tel Aviver Polizei den Levinsky-Park, der Arbeitsmigranten und Flüchtlingen als Zuhause dient und sich am Abend in einen Ort des Drogenhandels, der Prostitution und des Raubs verwandelt.«

Am Abend des 1. Mai sind in dieser Grünanlage, die neben dem Zentralen Busbahnhof liegt, ­weder Polizisten noch Räuber oder Prostituierte zu sehen. Stattdessen stehen Hunderte Flücht­linge in einer Schlange, um bei einer improvisierten Essensausgabe ihr Abendbrot zu bekommen. Die Helfer, so stellt sich heraus, gehören zu einer evangelikalen Organisation aus den USA und wollen missionieren. Einige der Flüchtlinge wollen nicht fotografiert werden, sie haben Angst, dass ihre Bilder im Internet veröffentlicht werden könnten, um gegen sie zu hetzen. »Mit der Mehrheit der Israelis haben wir aber kein Problem, sie sind in Ordnung«, betont Gomaa. Der junge Mann aus dem Sudan erzählt, warum er geflohen ist: »Man kann dort die eigene Meinung nicht sagen, wenn du es versuchst, kriegst du Probleme. Dort gibt es keine Möglichkeit für mich, nach dem Studium zu arbeiten und zu leben. Ich hatte genug.« In nur drei Monaten habe er es geschafft, über Ägypten nach Israel zu gelangen. Und die anderen? »Ein Jahr«, sagt ein anderer, ein weiterer Anwesender berichtet, er sei sieben Monate unterwegs gewesen. Einer der Missionare unterbricht das Gespräch und verteilt englischsprachige Bibeln und Bücher über das »heilige Jerusalem« an die jungen Männer, die auf ihr Essen warten.

»Es gibt keinerlei staatliche Versorgung der Flüchtlinge«, erzählt Yohannes Bayu, der Gründer und Leiter des African Refugee Development Centre (ARDC). »Keine Nahrungsmittel, keine Sanitäranlagen, keine Unterkünfte.« Auch das ARDC kann aufgrund mangelnder Kapazitäten oft nicht helfen. Neben Unterstützung bei Visa-Angelegenheiten und Bildungsarbeit bietet das Zentrum ein Notasyl für einige Hundert Frauen und Kinder. In Israel leben bis zu 60 000 Flüchtlinge, mehr als die Hälfte von ihnen im Großraum Tel Aviv, vor allem im Süden der Stadt.

»Ich verstehe teilweise die Ängste der Bevölkerung«, sagt Bayu, »man muss aber die tatsächlichen Verantwortlichen für die Wirtschaftsmisere kritisieren, und nicht ihre ersten Opfer.« Die Politik habe darin versagt, die Migrationsfrage in ihrem Zusammenhang betrachten, meint der Ak­tivist.

Schaffen Flüchtlinge es, die israelisch-ägyptische Grenze zu überqueren, ergeben sie sich meist dem israelischen Militär. Zunächst werden sie im Gefängnis Ketziot interniert und verhört. Der Internierungszeitraum ist nicht festgelegt. Da die Kapazitäten des Gefängnisses jedoch schon lange überschritten sind, werden die meisten nach einigen Wochen oder Monaten nach Tel Aviv transportiert, vor dem zentralen Busbahnhof abgesetzt und sich selbst überlassen. Für Flüchtlinge aus Eritrea und dem Sudan gilt ein »Gruppenschutz«, da sie aufgrund internationaler Gesetze nicht in ihre als unsicher geltenden Herkunftsländer abgeschoben werden dürfen. Sie müssen alle drei Monate ihre Aufenthaltsgenehmigung erneuern lassen. »Conditional release – pending deportation«, heißt dann der Aufenthaltstitel, der jederzeit widerrufbar ist und ausdrücklich erwerbsmäßige Beschäftigung verbietet.

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Busse mit neuen Flüchtlingen am Busbahnhof ankommen. Kaum jemand von ihnen will in Israel bleiben. Auch Gomaa nicht, er möchte in die USA, aber er kann kein Englisch, und in Israel hat er keinerlei Möglichkeit, sich weiterzubilden oder die Weiterreise vorzubereiten. Würde er zurückkehren, würde er sofort verhaftet werden: »Sie werden fragen, warum ich abgehauen bin und was ich in Israel wollte. Unsere Diktatoren hassen Israel.« Trotz der materiellen Not, in der die meisten leben müssen, nimmt kaum jemand die 1 000 Dollar an, die Israel »freiwilligen« Rückkehrern bietet. Israel hat keine Quotenregelung, noch nie wurde eine Entscheidung getroffen, wie viele legalisierte Flüchtlinge der Staat aufnehmen könnte.

Diese Planlosigkeit in der Flüchtlingspolitik hat vor allem in den ärmeren Vierteln Tel Avivs zu ­einer angespannten Situation geführt, wie in den vergangenen Monaten immer deutlicher wurde. Was geschieht, wenn sich Zehntausende Flüchtlinge ohne Betreuung, ohne Versorgung und ohne Arbeitserlaubnis in einigen Stadtvierteln konzentrieren? Weil in Tel Aviv immer weniger bezahlbarer Wohnraum vorhanden ist, sind Tausende Flüchtlinge gezwungen, in billigen Wohngebieten zu wohnen. Da sie oft Wohnungen in größeren Gruppen anmieten, sind sie bereit, die auch in diesen Gegenden immer höheren Mieten zu bezahlen, und verdrängen damit die israelische Unterschicht.

Viele leisten zudem unterbezahlt und rechtlos Schwarzarbeit – und konkurrieren so mit israelischen Niedriglöhnern um Arbeitsplätze. Überall in Tel Aviv sah man in den vergangenen Jahren immer mehr solcher »Schattenarbeiter«, die den Müll aus dem Hintereingang tragen, Zementsäcke schleppen oder die Küchen und Terrassen putzen. Neben Tel Aviv sind es vor allem die Wüstenstadt Arad und der am Roten Meer liegende Küstenort Eilat, in denen Tausende Flüchtlinge illegal im Hotelgewerbe arbeiten.

Im Tel Aviver Viertel Shapira erzählt ein junger Flüchtling aus Eritrea, er habe die Lieferung für einen Kiosk entladen und dafür einen Sandwich und zwei Zigaretten bekommen.

Die Anwohner Süd-Tel-Avivs sehen sich nun selbst als Opfer der Misere. Sie sind fast ausschließlich Sephardim oder Mizrachim, also »orientalische« Juden. Nach der Gründung Israels wurden rund 900 000 Juden infolge von Pogromen in den arabischen Ländern oder von durch die dortigen Regierungen organisierten Vertreibungen zu Flüchtlingen. Die meisten fanden Zuflucht in Israel. Dort wurden sie in den fünfziger Jahren in Zeltlager gesteckt, um dann in regelrechten Umschulungen zu »kultivierten Menschen« erzogen zu werden. Dieser Umgang war geprägt von den chauvinistischen und eurozentrischen Vorstellungen der Aschkenasim – der Juden europäischer Abstammung, die meist zionistische Einwanderer waren.

Das linksgerichtete aschkenasische Establishment – noch heute besetzen aschkenasische Männer mehr als 80 Prozent der akademischen Führungspositionen – siedelte die neuen Einwanderer am Rande der Städte an, in Vierteln, die sie mit aufbauten. Andere bewohnten die Altbauviertel der Städte, die niedrigere Wohnstandards hatten. Das ist die Vorgeschichte, angesichts derer die Anwohner des Viertels Shapira nun bei einer an­tirassistischen Kundgebung durch ihren Stadtteil die Demonstranten anschreien: »Wohnen sie bei euch in Nord-Tel-Aviv?« oder: »Nehmt doch ein paar mit in eure Wohnungen!«

Es ist nicht das erste Mal, dass sich in Teilen der israelischen Gesellschaft eine fremdenfeindliche Stimmung breitmacht. Mitte der achtziger und Anfang der neunziger Jahre waren Zehntausende äthiopische Juden im Rahmen zweier großangelegter Evakuierungsaktionen nach Israel geholt worden. Die Beta Israel, wie sich die äthiopischen Juden nennen, und insbesondere die kleinere Rekonvertitengruppe der Falashmura wurden aber auch in Israel zum Ziel diskriminierender Maßnahmen, unter denen schon die Mizrachim zu leiden hatten. Die Ethiopim, wie sie heute genannt werden, wurden zunächst als problematische Einwanderergruppe stigmatisiert. Sie wurden in geschlossenen, dann in offenen Heimen untergebracht, schließlich wurden sie in den armen Gemeinden Israels angesiedelt – in wiederum größtenteils von Mizrachim bewohnten, infrastrukturell benachteiligten Städten wie Ashdod, Beer Sheva, Ashkelon, Rehovot, Petah Tikva oder Ramle.

Da die erste Generation äthiopischer Juden einen vergleichsweise niedrigen Bildungsstand hatte, kaum Hebräisch konnte und kaum Arbeit fand, und weil das unterentwickelte Bildungs- und Sozialsystem in diesen Städten überlastet war, festigte sich ihr Status als schlecht inte­grierbare Minderheit. »Wir fördern spezielle Projekte, die Immigranten darin bestärken, sich in Entwicklungsstädten anzusiedeln, und lösen die Probleme außergewöhnlicher Immigrantengruppen (Äthiopier, Alte, Behinderte)«, beschreibt das Integrationsministerium euphemistisch seine Politik gegenüber den äthiopischen Juden. Viele Kinder wurden in Sonderschulen geschickt, von denen heute noch immer 20 existieren.

Und so verdienen Ethiopim heute durchschnittlich 30 Prozent weniger als arabische Israelis, die früher die am stärksten benachteiligte Personengruppe waren. Der langsame gesellschaft­liche Aufstieg der Mizrachim hinterließ ihnen schlecht bezahlte Arbeitsplätze.

Doch viele äthiopische Israelis der zweiten Generation haben genug und wollen auf die soziale Benachteiligung und institutionelle Diskriminierung aufmerksam machen. Einige von ihnen haben ein Protestzelt vor dem Sitz der Regierung in Jerusalem aufgestellt.

Yaron ist einer der Aktivisten im Zelt, seine Freundin Alamitu hat die Protestaktion initiiert: »Unsere Eltern kamen zu Fuß durch die Wüste, viele sind gestorben, und woran dachten sie? Jerusalem! Als sie hier waren, bekamen sie nur Ohrfeigen, und nahmen das hin«, empört er sich. »Aber ich bin hier geboren, aufgewachsen und zur Armee gegangen. Wenn mich jemand ins ­Gesicht schlägt, werde ich mich wehren!«

Seit fast drei Monaten protestieren Yaron und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter gegen Diskriminierung und Rassismus. Tariqu zeigt einen Spendenaufruf israelischer Gemeinden an jüdische Organisationen in Nordamerika, der mit der »erbärmlichen Lage« der Äthiopier hausieren geht. »Wir werden zum Problemfall erklärt, um Geld zu bekommen, welches nicht dazu beiträgt, unsere Probleme zu lösen.«

Trotz der Schikanen der Stadtverwaltung und des Desinteresses der Medien an ihrem Protest sind Yaron, Tariqu und die anderen Aktivisten entschlossen, weiterzumachen. Sie machen Basis­arbeit, informieren die Klassen der umliegenden Schulen, die zu Besuch kommen, über ihre Community und wollen Druck auf die Politiker ausüben.

Die Situation der illegalisierten Flüchtlinge sprechen sie bewusst nicht an. Sie beschäftigen sich vielmehr mit den wachsenden Ressentiments der israelischen Mehrheitsgesellschaft – die schlicht »Schwarz« von »Weiß« unterscheidet. Und was ist mit der Linken? »Ich war bei einem Treffen der Sozialaktivisten«, erzählt Yaron. Zu den Anhängerinnen und Anhängern der sozialen Bewegung vom vergangenen Sommer hat er offenbar ein zwiespältiges Verhältnis: »Sie reden viel von so­zialer Gerechtigkeit, und dem ›Protestsommer‹. Ich sagte: ›Hey, wir protestieren schon seit dem Winter!‹ Fängt soziale Gerechtigkeit denn nicht mit dem Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung an?«

Einer der antirassistischen Aktivisten sprach in Jerusalem am 1. Mai auf der Demonstration von linken Gruppen und der sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair. Seine Rede zur sozialen Diskriminierung der Ethiopim in der israelischen Gesellschaft fand bei den Demonstrierenden viel Zuspruch. Im Protestzelt habe sich seitdem jedoch niemand von ihnen blicken lassen, erzählen die Aktivisten.

Yaron ist trotzdem voller Hoffnung. »Wir werden kämpfen, man kann diese Situation nicht einfach hinnehmen.« Yohannes sieht es ähnlich. »Es gibt weltweit kein anderes Beispiel für eine derartige Integrationsleistung, trotz aller Probleme«, sagt er im Hinblick auf den historischen Hintergrund und die Konflikte in der israelischen Gesellschaft. »Israel ist ein entwickeltes, modernes Land. Es muss eine Lösung für diese Probleme gefunden werden.«

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