Das Hexeneinmaleins des Faschismus

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Drei Psychoanalytiker diskutieren als Zeitzeugen, als engagierte Gesellschaftskritiker und als psychoanalytisch denkende Menschen über politische, soziale und psychische Bedingungen, die zur Entstehung faschistischer Gesellschaftssysteme beitragen…

Podiumsdiskussion mit Johannes Cremerius, Paul Parin und Lutz Rosenkötter anlässlich der gleichnamigen Tagung des Psychoanalytischen Seminars Zürich, 28.-30.6.1996, Moderation: Emilio Modena

Modena: Ein Schlußpodium ist auch eine Art Trennungsritual, ich hoffe kein Pseudoritual, sondern ein echtes. Da wir dieses Podium öffentlich gemacht haben sind heute auch einige Nichtanalytikerinnen und -analytiker neu bei uns dabei, was mich sehr freut. Deswegen will ich kurz rekapitulieren, was wir gemacht haben seit dem Freitag: Wir sind von einer Diskussion über die Mitverantwortung von Müttern ausgegangen und haben uns diesen Film angeschaut, „Beruf Neonazi“, in welchem in einer sehr gelungenen dokumentarischen Art ein Portrait des Neonazi Althans, aber nicht nur von ihm selber, sondern auch von der ganzen Szene drumherum gezeigt worden ist. Wir haben dann anhand einer tiefenhermeneutischen Interpretation am Samstag versucht, diesen Film in seiner manifesten, aber auch latenten Bedeutung zu verstehen und sind dann, in die theoretischen Tiefen der Frage, wie die Affektlage zustandekommt, aus welcher faschistische Taten erwachsen, eingestiegen und haben anhand der Problematik der Adoleszenz im Zusammenhang mit Esoterik und Faschismus einen ersten Ansatz gefunden. Wir haben dann über Massenphänomene gesprochen, wobei eine Kollegin kritisiert hat, daß ihr z.B. die ganzen Gruppenphänomene, also nicht die Massenphänomene, sondern die Analyse der Gruppenphänomene gefehlt hätten. Schließlich sind wir in die Arbeitsgruppe gegangen, wo wir die verschiedenen Themen haben vertiefen können. Und heute mit dem Vortrag von Maja Nadig
haben wir noch speziell, einerseits von der ethnologischen, andererseits von der psychoanalytischen Warte aus die Fragen auch wiederum der Mitverantwortung und Beteiligung von Frauen genauer anschauen können.

Jetzt zu unserem Podium hier: Die Absicht war, daß Zeitzeugen, die die Ereignisse von Faschismus und Nationalsozialismus in Europa miterlebt haben, die Gelegenheit haben sollten, zunächst einmal aus ihrer persönlichen Betroffenheit den Jüngeren, uns Jüngeren, ihre Erfahrungen weiter zu vermitteln und aber anderseits auch uns mitteilen, wie sie, die ja nicht nur
Zeitzeugen waren, sondern sich in der ganzen Zeit bis zum heutigen Tag aktiv in die gesellschaftlichen Ereignisse eingemischt haben, wie sie das sehen mit dem neuen Rechtsextremismus in Europa. Ich darf ganz kurz, nur wirklich ultrakurz, sie vorstellen, oder Euch vorstellen: Also rechts von mir ist Herr Prof. Cremerius aus Freiburg, er hat an der Universität Freiburg lange Zeit gelehrt und ist, nachdem er emeritiert ist, in freier Praxis tätig. Ich muß ihn eigentlich gar nicht besonders vorstellen. Er hat viele Veröffentlichungen zur psychoanalytischen Theorie und auch zur psychoanalytischen Gesellschaft publiziert, die Sie alle kennen. Unmittelbar rechts von mir Dr. Rosenkötter, der in freier Praxis in Frankfurt arbeitet. Herr Rosenkötter war lange Zeit Mitherausgeber der „Psyche“, und er hat auch viel veröffentlicht, insbesondere zur Geschichte der Psychoanalyse, auch zur Geschichte der Psychoanalyse im Dritten Reich, aber auch zu Psychoanalyse und Gesellschaft und zur psychoanalytischen Theorie. Und links ist Paul Parin, unser, ja, das hat er nicht gern, wenn ich sage: Jubilar, aber es ist nun mal so. Wir haben Dir, Paul, diese Tagung gewidmet; und zwar eben deswegen, weil Du in Deinem ganzen Leben für uns nicht nur als psychoanalytischer und ethnopsychoanalytischer Lehrer ein Vorbild warst, sondern auch, weil Du Dich z.B. gegen den Krieg im Balkan, also in Ex-Jugoslawien immer wieder hast vernehmen lassen. Das ist für uns derart beispielhaft gewesen, daß wir diese Tagung, die sich speziell mit der Problematik des Faschismus beschäftigt, dir gewidmet haben. Ich muß Paul Parin auch nicht besonders
vorstellen. Sie wissen, er arbeitete in freier Praxis in Zürich, seit ca. 6 Jahren hast Du den Beruf des Psychoanalytikers aufgegeben und bist hauptberuflich oder aus Berufung als Schriftsteller tätig. Und nun wollte ich noch zum Ablauf sagen: Wir haben zwei Blöcke vorgesehen. In einem ersten Block werden die Kollegen am Tisch Gelegenheit haben, fünf bis zehn
Minuten lang aus ihrer Geschichte zu erzählen, und nachher wollen wir auf die Problematik des neuen und alten Faschismus eingehen. Bitte?

Nur eine kleine Zwischenfrage: Zeitzeuginnen haben Sie keine?

Modena: Wir wollten eigentlich Goldy Parin-Matthey bei uns am Tisch haben. Sie ist leider verunglückt. Paul, willst du anfangen? Wie hast Du damals in Graz, glaub‘ ich vor allem, das Aufkommen des Nationalsozia­lismus erlebt, und wie hast Du Dich dagegen verwahrt, wie bist du damit umgegangen?

Parin: Es ist natürlich, daß die Erinnerung nie die gleiche ist, die vergan­genen Tatsachen verändern ihr Gesicht. Das haben schon viele Schriftstel­ler gesagt, z.B. Italo Svevo: die Vergangenheit ist immer neu, sie evoziert dies und jenes, wird hervorgerufen, das andere versinkt wieder. Ich will ein paar Sachen hervorheben, die mir etwas allgemeiner wichtig zu sein scheinen. Es war zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus und des schon bestehenden Faschismus in Italien für junge Leute leicht, Stellung zu nehmen. Es ist Voraussetzung, daß ein Kind immer in irgendeiner At­mosphäre, die ideologisch durchsetzt ist, aufwächst. Ich bin aus einer Fa­milie, die eine sehr konservative Struktur hatte und ganz dem Geist des liberalen Bürgertums Mitteleuropas verschrieben war. So war es mir au­ßerordentlich leicht, sobald ich begriffen hatte, was die faschistischen, heute faschistisch genannten Bewegungen für Absichten haben, gegen die­se Stellung zu nehmen. Da muß ich meinem Elternhaus, mit dem ich auch ziemlich große Widersprüche hatte, danken, denn es herrschte dort dieser Geist, z.B. daß mein Vater, er ist 1899 Schweizer geworden, im Ersten Weltkrieg, als Delegierter des Internationa­len Komitees vom Roten Kreuz, ich glaub drei Jahre lang Sanitätsdienst geleistet hat in einem Hilfszug, den er damals als begüterter Mann selbst ausgerüstet hat. Also es ist eine Tradition. Die zweite Sache ist, daß diese

Zeitläufe bei mir, aus höchst persönlichen Gründen, auf Neugier gestoßen sind. Ich wollte wissen, was das ist, besonders wie ich die Reden von Mus­solini und von Hitler im Radio gehört hab‘, und da hatte ich das Glück, daß in der Adoleszenz, wo man immer etwas Neues sucht und auch gegen die Familie ist, ein junger Mann, der war damals Soziologiestudent in Berlin, der Sohn eines jüdischen Ophtalmologieprofessors in Breslau, bei uns zu Besuch war. Ich sagte, was, wie soll man das verstehen, da sagt er, lies dieses Buch, und er gab mir Hitlers „Mein Kampf“. Und als er nach 14 Tagen wegfuhr, hab‘ ich mir selbst so ein Exemplar angeschafft. Ich war 16 und er 22. Also ein großer Altersunterschied. Da hab‘ ich ihn nicht als Vorbild, aber als eine Leitfigur genommen. Man muß diese Dinge verste­hen und verstehen lernen. Und da die ganzen Bewegungen ja ohnehin sehr bedrohlich waren, schon aus Interesse der Selbstbewahrung bin ich ein Mensch gewesen, der immer versucht hat, die Dinge politisch zu durch­leuchten. Die große Enttäuschung vieler Linker am Hitler Stalin Pakt, ich hab‘ das gar nicht anders erwartet, es mußte so kommen. Meine Illusionen als Marxist, als Sozialist, waren schon längst enttäuscht worden, daß die­ses Modell, das heute der real existierende Sozialismus ist, einfach mit den Ideen von Marx, aber auch mit den Grundideen der Aufklärung, der fran­zösischen Revolution, nichts zu tun hat. Mein Resumee ist, man kann und soll, wenn man ausgestattet ist mit Bildungsmöglichkeiten, und auch einer gewissen ideologischen Basis, eines liberalen Bürgertums oder woher im­mer die kommen mag, kann und soll man politisch denken.

Modena: Aber könntest Du vielleicht noch ein konkretes Beispiel brin­gen? Wie ist Dir das dann in Graz als Du die Matura gemacht hast und Medizin studiert hast, wie ist Dir Dein Verstehen des aufkommenden Na­tionalsozialismus zustatten gekommen?

Parin: Das ist mir sehr zustatten gekommen. Zuerst hab‘ ich einen Blödsinn gemacht. Ich bin bis dahin zuhause von Hauslehrern unterrichtet worden und hab‘ an diesem Realgymnasium, das war eine Wahl, die war vorbe­stimmt, weil ich in der Schweiz studieren wollte, und die Schweiz war ja so außerordentlich klug, daß sie nur vier oder fünf Gymnasien in Öster­reich überhaupt anerkannt hat, damals, als Matura. Und ich wollte zur Schule gehen, kam in diese Schulklasse, der ich angehört hatte durch je­weils zwei

 

Semesterprüfungen, aber die ich nicht kannte, und das waren halt alle Na­zis, und die waren sehr aggressiv zu mir, und in diesem gleichen Jahr hab‘ ich, glaub‘ ich, in einer völlig pragmatisch aggressiven Weise für mich die Psychologie entdeckt. Nach dem Aufstand der Arbeiter im Februar 1934, das war also mein Maturajahr, haben Schüler an dem gleichen Gymnasium drei jüdische Mitschüler, nicht aus meiner Klasse, aus anderen Klassen, getötet: einen vom Flachdach geworfen, einen zu Tode gejagt, beide Sa­chen hab ich mitangesehen und mir ist nie was passiert. Am ersten Tag in der Schule hab‘ ich zuerst Angst gekriegt, als ich diese aggressiven und auch sehr obszönen Anrempelungen gesehen hab. Durch einen glücklichen Zufall traf ich auf der Straße einen Kollegen, einen jüdischen Gutsbesit­zersohn aus Slowenien, mit dem ich die ganze Nacht gesprochen hab. Soll ich meinen Eltern sagen, daß es so hergeht, dann hätten sie gesagt, ich soll‘ halt in der Schweiz das Maturajahr machen, und er hat gesagt, nein, diese Nazis sind doch alles feige Hunde, da wirst doch nicht davonlaufen. Er war fast zwei Meter groß und ein großer Sportler. Und ich hab‘ das dann auch so gemacht, daß ich völlig bösartige, mir damals sehr unanständig vorkommende Gegenaktionen gemacht hab‘. Das erste will ich erzählen und damit Schluß machen: In der ersten großen Pause haben mich so unge­fähr 15 Buben umringt gehabt und das erste Mal gesagt „zeig deinen Schwanz, Jude“ und so in dieser Art, es ist aber nicht dazu gekommmen. Dann ging die Schule weiter. Am nächsten Tag waren sie wieder herum, und wie der Anführer sagt, jetzt werden sie mich zusammenschlagen, hab ich gemerkt, der Hauptsprecher war nicht der Führer. Was ich früher zum Vortrag von der Maja gesagt hab‘, die hatten zwei transitionelle Führer. Einer war so der Siegfried-Typ und der andere der Goebbels -Typ, das war der beste Schüler. Und dem Siegfried-Typ hab‘ ich gesagt, ja, wenn ihr mich zusammenschlagt, das ist ja leicht, so viele gegen einen, vielleicht wird dann der Typ, der Siegfried-Typ, wieder den Arm um Dich legen, und Du wirst so angenehm rot werden. Das hab‘ ich beobachtet, die haben so kurz geschnittene Haare gehabt, das war dazu noch flachsblond, und der ist rot geworden. Offensichtlich hab‘ ich gemerkt, das ist eine homoeroti­sche Bindung, und wie ich das gesagt hab‘, ist er natürlich puterrot gewor­den, und alle haben gelacht, und ich war einmal entlassen. Da hab‘ ich gesagt, aha, das ist gemein von mir, aber diese Gemeinheiten hab‘ ich mit jedem Einzelnen fortgesetzt, so daß sie mich überhaupt nie angerührt ha­ben physisch, und dann einen nach dem andern erledigt, und ich hatte auch nicht Angst, daß sie mich umbringen werden, ich bin sehr gut Velo gefah­ren. Aber was ich daraus für eine allgemeine Lehre ziehen möchte für ein ganz anderes Gebiet: Wenn

Sie heute hier in der Schweiz oder auch in Deutschland rassistische Äußerun­gen sehen, jeder einzelnen widersprechen und aufstehen, auch wenn’s völlig unwichtig erscheint, in der Tram oder im Bad oder im lieben Familienkreis. Ich glaub‘, das schafft eine Atmosphäre, nicht wo es keine Neonazigefahr gibt, aber die sehr wichtig ist für eine Basis, daß es auch gegen das Neonazitum et­was geben könnte.

Modena: Johannes Cremerius, Du stammst geographisch gesehen, im Ge­gensatz zu Paul Parin, aus dem Norden Deutschlands. Wie hast Du die Zeit des Nationalsozialismus und auch unmittelbar danach, nach der Befreiung erlebt?

Cremerius: Ich war 1933 15 Jahre alt, lebte in einer betont strengen, protestan­tischen Familie. Mein Vater war Pazifist. Ich ging in ein Gymnasium in eine mittelgroße Stadt am linken Niederrhein. Als die Nazis die Macht übernah­men, las ich – mein Vater auch – Hitlers „Mein Kampf“, und mein Vater sagte dazu, alles, was dort steht, wird auch verwirklicht werden. Und er hatte recht damit. Sehr bald traten die Dinge ein. Sie erinnern sich, bereits am 1. April 33 waren die ersten öffentlichen Boykotte jüdischer Geschäfte. Im Mai brannten die Bücher. Dann kam die Aufhebung der Pressefreiheit, dann kam das Er­mächtigungsgesetz. Das muß ich vielleicht interpretieren: das heißt, die Polizei konnte in Häuser eintreten und dort verhaften ohne richterlichen Beschluß. Dann kam der Reichstagsbrand, den die Nazis dazu benutzten, Leute zu ver­folgen. Dann hörte man zum ersten Mal von der Einrichtung von KZ’s, und dann im Mai/Juni wurden die ersten Massenerschießungen bekannt, die unter dem Namen „Röhm Putsch“ vielleicht Ihnen noch erinnerlich sind. Von den KZ’s erfuhren wir zum ersten Mal dadurch, daß der Nachbarssohn im Herbst 33 aus dem KZ Dachau mit zertrümmerten Beinen an Krücken zurückkam. Seitdem herrschte in der Stadt unter denen, die nicht Mitglieder der NSDAP geworden waren und denen, die wie meine Familie eine Sonderstellung ein­nahmen, weil mein Vater bei der bekennenden Kirche war, einer Organisation, die gegen die Kirchenpolitik des NS-Systems protestierte, Angst und Unsi­cherheit. Dazu müssen Sie sich vorstellen, daß eine totale Informationssperre herrschte: keine ausländischen Zeitungen, das Abhören ausländischer Sender war mit dem Konzentrationslager bedroht. In dieser Situation klammerte man sich an Hoffnungen. Hoffnungen z.B. auf die Reichswehr. Hitler ließ 1935 den General Schleicher erschießen. Das ging durch die Presse, war eine der Groß­taten, die er sich zuschrieb, und wir hofften nun, die Armee würde gegen dies System protestieren. Nichts pas­sierte. Dann trat Hitler aus dem Völkerbund aus, führte die allgemeine Wehr­pflicht ein, besetzte das linke Rheinufer, alles Brüche des Versailler Vertrages, dann kam die Bombardierung von Guernica, wie Sie sich erinnern und dann die Annektion Böhmens und Mährens. Sie erinnern sich, daß die späteren Sie­germächte damals nur schwache verbale Einsprüche erhoben. Alles funktio­nierte blendend. Als Hitler mit Papiermache-Panzerwagen über die Rheinbrücken auf das linke Rheinufer übersetzte, fiel kein Schuß. Unsere Hoffnungen wurden nicht nur enttäuscht, sondern die Gegenseite bekam glän­zende Bestätigungen. Der Papst schloß ein Konkordat mit Hitler ab, Hitler wurde dadurch salonfähig. Die olympischen Spiele im Jahre 36 erzeugten ein Weltecho, in dem man nur so jubelte über den Ordnungsstaat und was

Hitler aus diesem verkommenen Staat der Weimarer Republik gemacht hätte. Die Amerikaner waren besonders groß im Feiern dieses Staates. Bestätigt wurde das System, und das war besonders eindrucksvoll, vor allen Dingen durch die Kirchen beider Konfessionen. Die Bischöfe konnten nicht genug tun, also z. B. im bischöflichen Ornat mit erhobenem Arm zu grüßen. Priester bei­der Konfessionen schlossen am Sonntag „unseren Führer“ in das Gebet ein. Vom Ausland kamen weitere Hilfen, SA-Einheiten bildeten sich in England, in Frankreich, die Hitler bestätigten, und Hitler konnte bereits die Achse bilden mit Italien und Japan. Das führte natürlich zu einer ungeheuer schwierigen Si­tuation in der Familie, wir wurden immer isolierter, und die

Hoffnung auf irgendeine Hilfe von außen schwand. Dann kam das, was Sie wissen, der Blitzkrieg, der ungeheure Sieg über Frankreich. Und nun trat das ein, daß auch noch die Mitglieder der bekennenden Kirche umfielen. Ich erinnere mich, wie viele Christen damals sagten, das ist doch nun das Zeichen dafür, daß Gott mit Hitler ist.

Modena: Wie ist es, wurdest Du dann nicht zur Armee eingezogen?

Cremerius: Ich verließ 1937 das Elternhaus und entzog mich jahrelang dem Eingezogenwerden zur Armee, weil ich das natürlich nicht wollte, ich wollte ja nicht mitmachen. Mir gelang es dann, einen Teil dieser Zeit in Italien zu verbringen. Aber eines Tages war damit Schluß und ich wurde dann in eine Studentenkompanie gesteckt, wo Ärzte ausgebildet wurden und kam dann im Oktober 1944 als Truppenarzt zum Einsatz. Dort hatte ich ein ungeheures Glück, zunächst mal schrieb ein Freund von mir, der die Verteilung in der Hand hatte, einen Einsatzbefehl an die italienische Front, und da ich in Italien gelebt hatte, wäre ich gerne dorthin gegangen und wär‘ dort übergelaufen. In der Nacht aber vor dem Einsatz brach die Front im Osten zusammen und ich wurde dann Truppenarzt in einem In­fanterieregiment an der Ostfront. Ich kam dann nach dem Kriege zurück. Die Eltern haben, trotz aller Behelligungen, die Jahre lebend überstanden. Und nun möchte ich noch anfügen, daß dann eine Zeit folgte, die beson­ders schwierig für uns war. Zunächst begrüßten wir die Siegermächte als Befreier. Natürlich waren sie das für uns. Dann aber stellte sich heraus, daß die Siegermächte lieber mit den Ex-Faschisten paktierten als mit de­nen, die damals nicht in der Partei gewesen waren.

Modena: Und wie hast Du das erlebt?

Cremerius: Das war eine Zeit wirklicher Verzweiflung. Denn Sie müssen sich vorstellen: meine Eltern hatten ein Haus in einer Straße, rechts und links waren die Nachbarn, damals gab es noch einen Milchwagen, der durch die Straßen fuhr, man holte dort morgens die Milch, die man für den Tag brauchte. Da haben die Nachbarfrauen gesagt, es stünde uns keine Milch zu, also all diese kleinen täglichen Querelen und Unannehmlichkei­ten. Und mit diesen Leuten mußte man nach 1945 weiter zusammenleben, die jetzt wieder in Amt und Würden waren als Bürgermeister, im Straße­namt, im Verkehrsamt. Sie waren wieder bei der Polizei. Es war eine schreckliche Zeit. Meine Frau und ich lebten später in München. In einer Parallelstraße lebte die Witwe von Hermann Göring und die amerikani­schen Offiziere hatten nichts Eiligeres und Besseres zu tun, als sich zum Tee einzuladen und der gnädigen Frau die Hand zu küssen. Also die Adenauer-Epoche, die dann mit der Wieder­bewaffnung kam, war für uns eigentlich verzweiflungsvoll.

Modena: Danke, Johannes Cremerius. Herr Rosenkötter, Sie hatten ein ganz anderes Schicksal, glaub‘ ich. Wenn Herr Cremerius uns jetzt erzählt hat, daß er sich eine Zeitlang wenigstens entziehen konnte, indem er nach Italien gegangen ist, wenn Paul Parin andererseits in die Schweiz sich ret­ten konnte, als es doch zu brenzlig war auch in Österreich, nach dem Anschluß. Sie blieben in Deutschland und Sie waren ja auch mit dem „Makel“ des Judentums behaftet. Wie haben Sie das überlebt?

Rosenkötter: Ja also, ich stamme aus einer Familie des gehobenen Mit­telstands. Mein Vater war Wirtschaftsprüfer, meine Mutter war eben jüdi­scher Herkunft, und ich war also nach der damaligen Terminologie ein jüdischer Mischling ersten Grades. Ich erinnere mich noch, ich war noch nicht sechs Jahre. Am l.April 1933 wollte meine Mutter mit mir einkau­fen, wollte in ein Geschäft gehen. Da stand ein SA-Mann in der Tür und ließ sie nicht rein. Meine Mutter versuchte mit ihm zu diskutieren, aber das half überhaupt nicht. Meine Mutter war dann sehr deprimiert, sie ging mit mir nach Hause und weinte, und ich verstand eigentlich nicht recht, was vorgefallen war. Aber ich wußte, daß irgend etwas Schlimmes passiert war. Dann hat sich mein Leben zunächst einigermaßen normal abgespielt. Nach der Pogromnacht 1938 kam mein Onkel, ein Bruder meiner Mutter, nach Buchenwald, kam nach seiner Entlassung Anfang 1939 zu meinen Eltern und berichtete, was ihm dort geschehen war. Sie waren in dürftigen Baracken ohne Kälteschutz untergebracht, bekamen kaum zu essen; die SS-Leute schlugen sie und hetzten Hunde auf sie. Meine Eltern erzählten mir das. Und ich wußte von da ab ziemlich genau, was von diesem System zu erwarten war. Ich besuchte eine Schule, das französische Gymnasium in Berlin, wo ich sehr gerne hinging, wo ich auch eigentlich keinerlei Dis­kriminierung erfahren habe. Allerdings mußte ich Ostern 1943 aufgrund eines Regierungserlasses die Schule verlassen, nach der mittleren Reife, und mußte dann erst mal arbeiten. Und dann, 1943, im November, wurde die Wohnung, unsere Wohnung, ausgebombt. Bei diesem Angriff kam meine Mutter ums Leben. Mein Vater zog dann mit mir nach Dresden. Der Zirkus Sarrsani dort war ein Mandant von ihm, und der bot uns eine Woh­nung an, also bot ihm eine Wohnung an, und ich konnte dort arbeiten. Was ich an sich gerne tat, denn vorher hatte ich eine ziemlich geisttötende Tä­tigkeit machen müssen, während es beim Zirkus ab­wechslungsreicher, interessant war. Eigentlich hätte ich dort nicht arbeiten dür­fen, denn der Zirkus unterstand ja der sogenannten Reichskulturkammer und dort durften nur reine „Arier“ arbeiten. Aber so ganz bis in die unteren Ränge, als Bürohelfer oder dergleichen wurde das nicht so genau kontrolliert. Im Ja­nuar 1945 wurden mein Vater und ich von der Gestapo verhaftet. Mein Vater, weil er ausländische Sender gehört und darüber geredet hatte. Mir machte man zum Vorwurf, daß ich in Dresden in ein möbliertes Zimmer gezogen war. Als ich da reinzog, hing ein Hitlerbild an der Wand, das hab‘ ich runtergenommen. Da sagte die Wirtin zu mir: „Sie wollen wohl den Führer nicht im Zimmer ha­ben“, darauf hab‘ ich gesagt, „nein“. Und das hat die Frau, sie hat mich nicht selbst denunziert, sie hat es in ihrer Dussligkeit rumerzählt, und das ist dann über Umwege an die Gestapo gelangt. Verächtlichmachung des Führers, gab’s damals einen Paragraphen. Weiter machte man mir zum Vorwurf, daß ich Zei­chen der Freude gezeigt hätte, als im Sommer 44 die Amerikaner, die Alliier­ten, in der Normandie gelandet waren. Mein Vater und ich wurden getrennt. Ich wurde dann erstmal von diesem Gestapo

kommissar zu dem Gestapohauptquartier gebracht, dort waren also ungefähr fünf, sechs SS-Männer, denen wurde ich mit den Worten „hier, Herr Ober­sturmbannführer, ein Judenbengel“, vorgeführt. Dann bildeten diese SS-Männer einen Kreis, da mußte ich herumlaufen, und alle paar Sekunden hob einer einen Fuß. Wenn ich dann stolperte, kriegte ich einen Kinnhaken. Das ging so ungefähr 5 Minuten lang, dann ließen sie mich in Ruhe. Ich kam dann zurück ins Gestapohauptquartier, mußte eine Zeitlang warten, wurde dann verhört, es wurde ein Protokoll aufgenommen, was ich dann auch unter­schrieben habe, und dann kam ich eben ins SS- und Polizeigefängnis Dresden. Und dann passierte merkwürdigerweise nichts mehr. Das heißt, etwas passierte noch, der Gestapokommissar kam am Abend zu mir und sagte, „ich muß Ihnen leider mitteilen, daß Ihr Vater sich das Leben ge­nommen hat“. Und sagte dann noch zu meinem Zellengenossen, „küm­mern Sie sich um ihn“. Was der auch tat. Ich hatte da mal überwiegend sympathische Zellengenossen. Das waren alles Leute, die aus einer ganz bestimmten Widerstandsgruppe in Riesa in Sachsen kamen, Sozialdemo­kraten und Kommunisten, die also außerordentlich solidarisch waren. Dann im Februar 1945 gab es diesen großen Luftangriff auf Dresden, und dabei ging auch das Gefängnis kaputt, es brannte teilweise aus, aber nicht ganz. Ich saß im ersten Stock, und so weit kam das Feuer nicht, also einige von uns überlebten das. Wir wurden dann von einigen wenigen noch vor­handenen Wachleuten rausgeführt an die Elbwiesen. Die Elbwiesen waren eigentlich der einzige Ort in Dresden, wo man noch laufen konnte, sonst war die Stadt von Trümmern übersät. Und da saßen wir dann, und die Stadt war auch voller Qualm. Jeder hielt sich so die Augen, und diese Ge­legenheit habe ich benutzt, um mich unter die vorüberziehende Menge zu mischen. Ich bin dann rübergegangen zum Zirkus Sarrsani, der auch aus­gebombt war. Ich traf dort aber noch einen tschechischen Sattler, der dort in seinem Wohnwagen war und der mich aufnahm. Dann fielen immer weiter Bomben, obwohl es keinen Alarm mehr gab. Dann sagte er, das ist hier zu gefährlich, wir müssen hier weg. Dann griff er zwei Maultiere vom Zirkus, die da herumliefen. Er lud dann seine Habe auf diese Maultiere. Dann nahm er eins an der Trense und ich eins an der Trense und dann zo­gen wir los und sind zu Fuß in die sächsische Schweiz gegangen, wo der Zirkus so eine Art Notunterkunft hatte in einem Gut, in einem Landgut, und dort blieb ich dann erstmal ungefähr eine Woche. Ich war dann auch erstmal ziemlich kaputt, wurde aber auch von den ausländischen Arbeitern, die beim Zirkus waren, sehr gut gepflegt. Dann, als es mir wieder gut ging, meinte die Direktorin des Zirkus, es wäre vielleicht doch gefährlich, wenn ich da bliebe, denn wenn sie mich suchen würden, würden sie mich sicher da suchen. Ich gab ihr recht. Sie gab mir tausend Mark und einen ganzen Packen Reisemarken und ließ mich dann nach Radebeul bringen, einen Vorort von Dresden, von wo aus Züge nach Berlin fuhren. Man mußte da­mals eine besondere Reisegenehmigung haben. Ich bin dann zur NSV ge­gangen, nationalsozialistische Volkswohlfahrt, die hatte extra eine Stelle dort am Bahnhof aufgemacht, da es natürlich sehr viele Ausgebombte gab. Aus­gebombte bekamen einen Reiseausweis. Ich bin dann da reingegangen, hab‘ gesagt „Heil Hitler, ich bin ausgebombt und hab‘ alle Papiere verloren“. Dar­aufhin wurde mir anstandslos so ein Ausweis ausgestellt, mit dem konnte ich dann ne Fahrkarte kaufen und nach Berlin fahren. Und in Berlin kam ich dann bei den Eltern eines Schulfreundes unter, mit dem ich heut‘ noch in Verbindung stehe, mit dem Schulfreund. Der Vater war Leiter eines Kaiser­Wilhelm-Instituts für Genetik, ein sehr mutiger Mann, der viele Verfolgte bei sich aufgenommen hatte und in seiner Abteilung beschäftigte, und da konnte ich dann auch erstmal bis Kriegsende bleiben. Ich suchte dann einen ehema­ligen Lehrer auf von mir, der auch wegen kritischer Äußerungen aus dem Schuldienst entfernt worden war und fragte ihn, ob er vielleicht noch Zeug­nisformulare hätte, ich hätte gern mein Mittleres-Reife-Zeugnis wieder. „Ja“, sagte er, „das hab‘ ich noch“, hat eins hergeholt, und hat mich immer gefragt, welche Zensuren ich hatte. Das hab‘ ich ihm jeweils gesagt, und er hat immer jeweils eine Nummer besser hingeschrieben. Da hatte ich also wieder ein Zeugnis…

Modena: Ja also eine, eine ganze Reihe von Widerstandsakten, denen sie Ihr Leben zu verdanken haben.

Rosenkötter: Ja, das stimmt. Also das muß ich überhaupt rückblickend sa­gen, es ist ja jetzt grade das Gespräch über dieses Buch von diesem amerika­nischen Historiker Goldhagen, der den genuinen Judenhaß der Deutschen für die Nazizeit verantwortlich macht. Das kann ich aufgrund meiner Erfahrung nicht bestätigen. Ich hab‘ eigentlich persönlichen Haß und Sadismus nur bei diesen SS-Leuten kennengelernt. Sonst hab‘ ich immer auch Leute gefunden, die mir geholfen haben, und im großen ganzen denk‘ ich, war das größere Problem eigentlich die Inaktivität und Autoritätshörigkeit der Bevölkerung, nicht die Gehässigkeit.

Modena: Danke, Lutz Rosenkötter. Das Wort Autoritätshörigkeit könnte jetzt als Überleitung zu einer mehr theoretischen Auseinandersetzung mit un­serer Materie dienen. Wir sind ja alle Psychoanalytiker, und ich wollte Dich, Paul Parin, eigentlich fragen, was denkst Du, was wir jetzt als Psychoanalyti­ker zu dieser Thematik des Faschismus, also des alten, aber auch des neuen Faschismus beitragen können?

Parin: Ja, das ist ein weites Feld. Ich möchte statt einer Antwort eine Art Warnung vor psychoanalytischen Deutungen, seien sie nun richtig oder falsch, aussprechen. Wir sind von Beruf – und viele von Berufung – ge­zwungen, uns mit unserem Instrument der Psychoanalyse um gesellschaft­liche Prozesse, um geschichtliche und insbesondere jetzt um den Wiederbeginn oder die Fortsetzung faschistischer Dinge zu kümmern. So­bald wir aber mit psychoanalytischen Deutungen an die Öffentlichkeit kommen, ich wiederhole, seien sie richtig oder wahrscheinlich oder auch grundfalsch, erzeugen wir ein falsches Bewußtsein. Und zwar, als ob diese Dinge, nicht unter uns AnalytikerInnen, sondern in der Öffentlichkeit, psy­chologisch erklärbar und psychologisch deshalb auch behebbar wären, als ob man mit psychologischen Mitteln etwas tun könnte. Nun reicht die Psy­chologie bis heute nicht dahin, eine gültige politische Psychologie zu kon­stituieren. Insbesondere über die psychologische Wirkung der Macht auf die Machthaber und auf die Beherrschten, die offenbar eine starke narziß­tische Emotion bewegt, gibt es sehr wenig. Und dann entsteht so eine merkwürdige Verschiebung, die man jeden Tag in der Presse, wenn sie sich überhaupt darum kümmert, lesen kann, mit psychologischen, tiefen­psychologischen, psychoanalytischen Mitteln der Sache auf den Grund zu gehen und Instrumente zu finden, wie man etwas gegen diese eindeutig unheilvollen Entwicklungen tun könne. Und das stimmt nun einfach nicht. Selbst wenn wir die Phänomene als Einzel-, Gruppen- und Großgruppen-phänomene begreifen, entsteht ein Mißverständnis, als ob das kausale Er­klärungen wären. Es sind immer viele ineinander wirkende, multikausale Tendenzen, worunter die psychologische Erklärung sicher wichtig, aber nie kausal, ursprünglich begründend ist.

Modena: Könnte man mit Freud von einer Ergänzungsreihe sprechen, von psychologischen und gesellschaftlichen Aspekten?

Parin: Man kann nach dem Ausdruck von Freud von einer Ergänzungsrei­he sprechen, aber das ist noch ein zu neutraler Ausdruck. Es entsteht dann nämlich, unter dem verständlichen Bedürfnis, dort, wo man sich machtlos fühlt und politisch machtlos ist, unsere wohlfundierten psychologischen Dinge zum besten zu geben, die gewaltige Täuschung, man könnte da ge­gen den aufkommenden Faschismus mit psychologischen Mitteln vorge­hen. Und das ist nicht möglich. Es sind nicht nur die altbekannten großen Interessengruppen, es sind sehr starke Gruppen- und Massenphänomene, die da vielleicht verstehbar werden, aber nicht kausal, also auch nicht an­gegangen, umgekehrt, bekämpft werden können. Das ist die Warnung, die ich geben möchte. Wenn wir psychologisch vordringen, z.B. in ein Gebiet, wo es sicher sehr wichtig ist, wie die autoritäre Persönlichkeit, wie sie A­dorno und Mitarbeiter beschrieben haben, umschlägt in eine faschistische, das ist, das mag stimmen. Aber sobald jemand kommt und sagt, ja die Mütter sind schuld, sie müssen das anders machen, oder in der Familie, auch in der Schule müssen wir se­hen, daß die Kinder nicht dieser Verfälschung der gesellschaftlichen Ideolo­gien ausgesetzt sind. Dann machen wir wirklich eine Verdunkelung, erzeugen wir falsches Bewußtsein. Diese Warnung möchte ich aussprechen, weil wir mehrheitlich hier Analytikerinnen und Analytiker sind. Und man muß das immer in den Kontext der größeren politischen und gesellschaftli­chen Verhältnisse stellen. Es ist nicht nur eine Ergänzungsreihe, es ist eine dialektische Beziehung. Und die Psychologie, die ja jeder in sich trägt, wirkt dann emotional so überzeugend, statt daß wir eine politisch wirksame und umsetzbare Aufklärung betreiben, betreiben wir das Gegenteil, wir liefern damit Material für öffentliches falsches Bewußtsein.

Modena: Johannes Cremerius, teilen Sie diese Ansicht von Paul Parin? Wie groß ist die Gefahr der Erzeugung falschen Bewußtseins, und wie not­wendig ist vielleicht doch, daß Psychoanalytiker, Psychoanalytikerinnen sich mit ihrem Wissen gesellschaftlich engagieren, politisch engagieren?

Cremerius: Ich möchte zunächst auf der Linie von Paul Parin sagen, wir haben ja 1933 den Bankrott der Aufklärung erlebt. Und die Essenz der Psy­choanalyse ist Aufklärung. Und man kann sagen, über Nacht brach die große Aufklärung zusammen, die die Weimarer Republik gebracht hatte, über Lite­ratur, Thomas Mann, Musil, Theater, Kino usw., brach zusammen an etwas, was eigentlich zu erwarten war: nämlich an den Versprechungen einer Lust­welt, die Hitler der Bevölkerung machte. Es ist eigentlich so, auf der Linie von Paul Parin, daß die Theorien der Aufklärung zusammenbrechen, wenn die Verhältnisse so gestaltet werden, daß jemand den Leuten verspricht, sie bekommen das, was sie sich wünschen, vor allen Dingen im Triebsektor. Ich habe eine Erinnerung aus meiner Klasse im Jahre 1936. Wir lasen damals „Iphigenie“ und schrieben einen Aufsatz „Alle menschlichen Gebrechen, oh­ne treibende Menschlichkeit“. Am selben Tag stellte ein Lehrer, auch aus dieser Welt der Weimarer Zeit, die vier jüdischen Klassenkameraden vor die Klasse und demonstrierte an ihrem Körper die Merkmale der minderwertigen Rasse. Also ich habe in der Schule, in einem Gymnasium, das so ganz aus dem Geiste der Aufklärung und der europäischen Kultur kam, erlebt, wie das total und von heute auf morgen zusammenbrechen konnte. Mal so weit. Modena: Die Frage stellt sich vielleicht, wie nun die psychoanalytischen Er­kenntnisse auch in die Tat, also auch in die politische Tat, mit politischen

Mitteln übersetzt werden können. Aber zunächst möchte ich Sie fragen, aus Ihrer persönlichen Erfahrung heraus, aber auch aus Ihrem Wissen heraus: Welche Eigenschaften braucht jemand, um eine Führerpersönlichkeit zu wer­den im Sinne der Rechten, im Sinne zum Beispiel jetzt des neuen Neonazis­mus, der rund um uns, also um uns Schweizer, in Österreich, wenn ich an den Haider erinnern darf, in Frankreich, wenn ich an den Le Pen erinnern darf, der ja komfortabel 15% Zustimmung bei demokratischen Wahlen erhält, wenn ich auch an den Fini in Italien erinnern darf, der jetzt glücklicherweise nicht mehr in der Regierung ist, aber der es doch geschafft hatte, sich als alter Führer zu modernisieren und regierungsfähig zu werden. Was sind die Eigen­schaften eines Führers? Herr Rosenkötter.

Rosenkötter: Ja, wenn wir diese Führer ansehen, dann stellen wir immer fest, es sind immer Männer, die ein ziemlich machistisches Gehabe haben und meistens auch ältere Männer, die geschickt verstehen, auf dem Instru­mentarium der Affekte zu spielen und somit also Leute, die da wenig Kritik haben, für sich gewinnen können. Soviel fällt mir dazu ein.

Modena: Paul Parin, willst Du da noch etwas dazu sagen? Du hast ja ge­sagt, vorhin in Deinem Diskussionsvotum, daß alle diese Gruppen, die dann faschistoid oder faschistisch agieren, einen Führer haben.

Parin: Ja, das Phänomen des Führers ist an der Biographie und an der Per­son Hitlers vielfach analysiert worden. Ich möchte noch an Helm Stierlins Studie erinnern, die also ganz psychoanalytisch aufgebaut ist, und das ist meiner Ansicht nach nichts anderes als die Erzeugung eines hochdifferenzier­ten falschen Bewußtseins. Man kann die Persönlichkeit des Führers zwar für eine Untersuchung einmal isolieren, aber daß er ein Führer wird, gehören ein paar Faktoren ganz sicher dazu, die auch einer Untersuchung zugänglich sind: soziologische Faktoren, daß eine Schicht da ist, die einen Bedarf hat nach einem solchen Führer, z.B. in Deutschland das deklassierte Kleinbürger­tum, in Serbien z.B. der städtische Mittelstand, und dann gehört dazu, daß dieser Führer eben auf Emotionen spielen kann. In älteren Zeiten war es so, daß er einen Parteiapparat zu organisieren vermag, heute braucht er nur die Medien richtig unter seine Fittiche zu bringen, und drittens muß er entweder einen repressiven Apparat schaffen, wie es Hitler mit der SA und dann mit der SS gemacht hat, oder wie in den postkommunistischen Ländern z.B. Mi­losevic fähig war, die bestehende Geheimpolizei, die OSNA, für seine Zwe­cke einzuspannen. Ohne diese Faktoren sind noch so große Führungsqualitäten nichts wert. Dann gibt’s natürlich sehr verschiedene Ty­pen, wenn man rein biographisch den Franco und den Hitler vergleicht, das sind vollständig verschiedene Sachen, eine katholische Karriere, Offizier in der spanischen Armee, die Karriere hat er schon im Königreich gemacht, und dann in der Republik, und ein Mensch wie der Hitler, ein deklassierter Klein­bürger. Diese psychologischen, aus der sozialen und Familienbiographie ab­leitbaren Faktoren haben nichts Spezifisches für sich. Ohne die Konstellation einer anormischen Gesellschaft und eines entsprechenden Fehlens einer Op­position, teils, weil es sie nicht gibt, teils weil sie zum Schweigen gebracht ist durch den repressiven Apparat, sind die biographischen Untersuchungen von Adolf Hitler völlig unspezifisch. Ich habe den Eindruck bekommen, ich er­wähne nur Stierlin, aber andere Analysen auch, daß Hunderttausende, wenn nicht Millionen Deutscher so fehlerzogen worden sind. Also wenn wir da weitergehen, eine autoritäre Gesellschaft, das hat gestimmt, aber es ist nicht alles.

Cremerius: Nur ein Wort dazu. Man machte natürlich Witze, um sich zu erleichtern. Einer der Witze, den wir machten, war: Hitler gibt es gar nicht. Es gibt nur die Projektion.

Modena: Ja, aber es gab ihn doch und die Frage ist schon, ob neben diesen gesellschaftlichen Faktoren, ob neben diesen organisatorischen Faktoren, daß man einen Parteiapparat zur Verfügung hat, daß man in der Lage ist, Ter­ror auszuüben, es nicht auch Persönlichkeitsfaktoren gibt, die bei aller kultu­rellen Verschiedenheit, also von Franco, von Hitler oder von Mussolini oder von wem immer, wirksam sind. Wir haben darüber diskutiert, wie das pri­märprozeßhafte Denken wirken muß. Die Frage wäre, muß ein guter Führer nicht in der Lage sein, in einer Art primärprozeßhaften Denkens und in einer Art primärprozeßhafter Sprache, wo die Zeit und die Logik aufgehoben sind, sich massenwirksam zu vermitteln? Was denken Sie darüber, Johannes Cre-merius?

Cremerius: Ja, ganz ohne Zweifel, wenn man sieht, was er alles verspro­chen hat. Das waren wirklich alles primäre Wünsche, die latent bereit waren. Seit dem Versailler Vertrag, Versprechen der Aufhebung der Arbeitslosig­keit, Versprechen der Größe, dann narzißtische Versprechungen, die größte Rasse, die ein Recht darauf hat, die minderwertigen Rassen im Osten zu er­setzen und den Lebensraum im Osten zu erobern, also von einer Primitivität, die ist unvorstellbar, aber sie funktionierte.

Modena: Herr Rosenkötter, wie denken Sie, daß nun Großgruppen, Mas­sen, in die Lage kommen, solche Versprechungen, solche unlogischen Mittei­lungen von führenden Persönlichkeiten zu glauben. Wie soll man das verstehen?

Rosenkötter: Also, ich möchte mich auf die Untersuchung von Adorno und Mitarbeitern zur autoritären Persönlichkeit berufen. Also der Führer alleine, der kann ja gar nichts ausrichten, wenn er nicht eine Gefolgschaft hat. Es muß also eine größere Zahl von Menschen geben, die eine solche Führerper­sönlichkeit erst zu dem machen, was sie eigentlich ist. Und ich denke, es gibt eben relativ viel, oder gab’s jedenfalls zu der Zeit in Deutschland, relativ vie­le Menschen, die diesen Merkmalen des autoritären Charakters, der autoritä­ren Persönlichkeit, entsprochen haben, und die daher bereit waren, sich so einer Scheinautorität zu unterwerfen und zuzujubeln. Es gab ja durchaus Bei­spiele dafür, daß Widerstand schon etwas bewirken konnte. Also z.B. wur­den, ich glaube im März oder April 1943, in Berlin die jüdischen Männer nichtjüdischer Ehefrauen abgeholt. Daraufhin haben sich rund 1000 Frauen vor dieser Stelle versammelt, wo die Männer festgehalten wurden und haben nur gerufen: „Wir wollen unsere Männer wieder haben“. Daraufhin wurden die auch freigelassen. Also das war nun schon ziemlich spät im Krieg, die Nazis wollten keinerlei Unruhe, und wenn da 1000 Frauen zusammenkom­men, dann wollten sie kein Schauspiel bieten, und haben einfach die Männer wieder rausgelassen. Man sieht aber an diesem Beispiel, daß Widerstand et­was bewirken kann, aber er kam natürlich generell in Deutschland allgemein viel zu spät und viel zu wenig. Ich denke, es hätte also viel früher sehr viel mehr passieren müssen. Man muß in diesem Zusammenhang auch sagen, daß die psychoanalytischen Gesellschaften in dieser Zeit ein eher klägliches Bild geboten haben und daß wir in dieser Hinsicht auf unseren Berufsstand nicht stolz sein können.

Modena: Ja, also die Frage wäre, ob diese massenpsychologischen Faktoren, Sie haben diese autoritäre Persönlichkeit erwähnt, ob das denn ein spezifisch deutsches Phänomen gewesen ist, vielleicht auch ein historisches, das heute nicht mehr der Fall wäre. Aber dann stellt sich doch auch die Frage, warum konnten ganz ähnliche Regimes, konnten ganz ähnliche Phänomene in ganz anderen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen wie in Italien oder in Spanien oder an anderen Orten realisiert werden? Paul Parin…

Parin: Ja, ich will das ergänzen. Ich war auch sehr, bin sehr beeindruckt von der Studie von Adorno über die autoritäre Persönlichkeit. Ich mach‘ eine hypothetische Erweiterung. In der Praxis in Zürich hab‘ ich nahezu 40 Jahre lang immer wieder Männer und Frauen, da handelt’s sich um Männer, aus typisch autoritär strukturierten Familien in Analyse gehabt. Es waren eine ganze Anzahl. Es waren Schweizer, Süddeutsche, einige Norddeutsche, Hol­länder, Franzosen, Italiener. Bei denjenigen, die mir am anfälligsten schienen gegenüber diesen irrationalen Versprechungen nach narzißtischer Reparatur und triebgetragener Größe, schien eine weitere psychologische Bedingung dazu zu kommen. Das waren alles Leute, die aus der Frühkindheit ein schlechtes oder brüchiges Selbstgefühl mitgebracht haben. Mir schien das sehr wahrscheinlich, daß zur autoritären Persönlichkeit ein schlechtes Selbst­gefühl dazukommt, wenn diese Struktur nicht einhergeht mit einer sehr guten Selbstbesetzung, die z.B. in vielen italienischen oder französischen autoritä­ren Familien dem Kind vermittelt wurde. Wenn nicht ein schlechtes Selbstge­fühl dazukommt, daß diese von der Propaganda oder einem Führer gebotene Kompensation viel mehr braucht. Andererseits ist die Verführung mit diesen narzißtischen Prämien, die geboten werden, so groß, daß ich persönlich trotz meiner Hypothese glaube, es gibt kaum einen, sagen wir einmal, im abend­ländischen Kulturkreis, kaum eine Nation, die nicht anfällig wäre wie z.B. die Norweger – der Ausdruck Quisling – Quisling war ein norwegischer Nazi­führer, der dann auf Hitler umgeschwenkt ist.

Vielleicht ist diese Propaganda viel wirksamer in Großgruppen, wo das Selbstgefühl vom Alltag her, von wirtschaftlichen und anderen Faktoren wie Werteverlust, erschüttert ist. In der Verführbarkeit spielt meiner An­sicht nach psychologisch nicht nur die autoritäre Persönlichkeit, sondern ein erschüttertes oder mangelhaftes Selbstgefühl eine Rolle. Von den gro­ßen fortschrittlichen Geistern, den Sozialisten, ist bekannt, daß viele von ihnen eben aus diesen wohlbehüteten, großbürgerlichen Milieus kamen, die dann den Klassensprung für eine Solidarität mit der Menschheit auch in ihrem Leben und in ihrem Denken herbringen konnten. Ich wiederhole, das ist eine Hypothese, daß zur autoritären Persönlichkeit ein von der Kindheit her mitgebrachtes, brüchiges oder mangelhaftes Selbstgefühl, ei­ne mangelhafte Selbstbesetzung dazugehört. Sonst bin ich völlig einver­standen, daß da die autoritäre Erziehung, autoritäre Persönlichkeit, eine schrecklich günstige Matrix für die faschistischen Verheißungen darstellt.

Modena: Nun scheint es aber, daß diese autoritären Persönlichkeiten ei­nerseits, aber auch diese Persönlichkeiten mit schweren narzißtischen Stö­rungen offenbar in allen Industriegesellschaften massenhaft vorhanden sind. Heißt das, Johannes Cremerius, daß wir eigentlich damit rechnen müssen, daß jederzeit, wenn die notwendigen Gesellschaftsbedingungen und, wie wir gehört haben, auch die notwendigen Apparate, zur Verfügung stehen, ein neuer Faschismus entstehen kann?

Cremerius: Also ich weiß nicht, ob ich sagen würde ‚Faschismus‘, ich kann nur sagen, 1950 hab‘ ich in Amerika den McCarthyismus erlebt. Ich ging nach Amerika mit der Kenntnis des Adornobuches und dachte, es ist eine bestimmte autoritäre Struktur usw. und sah dort, daß in einer alten demo­kratischen Struktur, die wir von Deutschland her etwas bewunderten, ver­herrlichten, der Zusammenbruch total war, und die Methoden, die der Faschismus angewandt hatte – Terror, Inquisition, Observierung und Ras­senbewunderung – fabelhaft funktionierten und für einige Jahre einen tota­len Zusammenbruch der demokratischen Ordnung herstellten. Dann hab‘ ich eine andere Erfahrung, die aus den Jahren, in denen ich in Italien ge­lebt habe, stammt: die Italiener lösten das Problem mit einem Spaltungs­mechanismus, während in Deutschland die Bevölkerung überzeugt war. Es gab gar keine reflektierende Einstellung dazu. Die Italiener machten zwar mit beim Trupp der Schwarzhemden, aber wenn man mit der Bevölkerung sprach und fragte, wie ist denn das, wie stehen Sie denn dazu, dann gab es eine Antwort, und das war die Übersetzung des Namens der Partei, das hieß partito nazionale fascista‘, PNF, und das wurde übersetzt in ‚per nutrimento familiare‘: für die Ernährung der Familie. Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Deutsch­land auch nur ein Intellektueller diesen Abstand gehabt hätte, um diesen Witz zu machen. Also in Italien waren die Verhältnisse aufgrund der Familienstruktur ganz anders und die konnten diese intellektuelle Distanz herstellen.

Modena: Paul Parin, kannst Du Dir vorstellen, daß in der Schweiz auch in den nächsten zwei, drei Jahrzehnten ein faschistisches Regime zustan­dekommen könnte?

Parin: Mein Vorstellungsvermögen als Schriftsteller ist natürlich sehr weit. Ich hab‘ aber die Erfahrung gemacht, und zwar merkwürdigerweise im Mi­litärdienst, in den Jahren 1940 – 44 in der Schweiz, daß es tatsächlich, ich war immer Hilfsdienstarzt bei Truppen, meistens Gebirgstruppen, deren Mannschaft aus dem Zürcher Oberland stammte, und das Offizierskorps aus der Stadt Zürich und aus der Gegend von Schaffhausen, daß dort sehr, ich will nicht sagen, faschistische, sagen wir auf einen Sieg Hitlers hoffen­de und davon Begeisterte waren. Ich schätze, daß unterm Offizierskorps, nicht nur dem blauen, also dem Sanitätskorps, drei Viertel das gewünscht hätten in diesen Jahren 40 bis Anfang 44. Ich war dann kurz bei einer Ein­heit aus dem Waadtland, dort war’s ebenso. Unter den Soldaten, also Zür­cher Oberland, landwirtschaftlich, aber mehrheitlich Industriearbeiter, höchstens ein Viertel.

Und die Erfahrung, daß ich keine Besorgnis für die von damals aus gese­hene Zukunft hatte, ich war fast sicher, daß es keine Invasion mehr geben wird, weil die Schweiz so nützlich war für das Dritte Reich. Zweitens habe ich gesehen, daß die traditionelle Kraft der verschiedenen Gruppierungen und Verbände, die hier ja auch politisch angelegt ist durch die große Be­deutung, die die Gemeinde, die Kantone, die Föderation haben, die sich die Waage hielten, daß diese Kräfte, die die für den Hitler hoffenden Gruppen so gegeneinander aufgebracht hat, daß ich mir dachte, ja wahr­scheinlich, bis dieser Streit beigelegt wird – der wurde nie beigelegt -, wird es mit dem Nationalsozialismus zu Ende sein. Und so ist es auch gekom­men. So daß meine Vorstellung für die Schweiz die ist: die psychologi­schen Grundlagen sind hier im großen Teil der Bevölkerung gegeben. Damals hab‘ ich den Eindruck gehabt, es war mehr das städtische Bürger­tum und kleinstädtische Kleinbürgertum, das dazu neigt. Die Vorausset­zung, die psychologischen, wären gegeben, aber in bezug auf die traditionellen und doch sehr institutionell gefestigten Traditionen der Schweiz in den einzelnen Interessengruppen und Verbänden, die viel mehr zusammenhielten als die Bindung an die Nation oder das Land, wären ein günstiges Gegengewicht. Das hat sich hier auch wirklich so erwiesen. Die Nazigruppen, die ja von der Regierung keineswegs energisch unterdrückt oder bekämpft oder denunziert worden wären, im Gegenteil, die haben sich nie auch nur zu einer einheitlichen Nazibewegung, wie sie z.B. der Le Pen in Frankreich jetzt hat, zusammengeschlossen.

Modena: Der Vorsteher des Eidgenössischen Polizei- und Justizdeparte-mentes, Bundesrat Koller, ist weniger optimistisch. Er hat in diesem Rechtsextremismusbericht in seinem Vorwort geschrieben, ich zitiere: „Der Rechtsextremismus stellt im ausgehenden 20. Jahrhundert ein Gefah­renpotential für die demokratische Gesellschaft dar, ein Gefahrenpotential, das in Umbruch- und Krisenzeiten plötzlich aufbrechen kann“. Und er meint damit die Schweiz, also er spricht da für die Schweiz. Aber selbst wenn in der Schweiz diese gesamteuropäischen Verhältnisse der, wie das Bundesrat Koller genannt hat, Modernisierung – ein Wort das man überset­zen muß, Modernisierung heißt ja Zwangssparen, heißt Abbau der sozialen Rechte, heißt Lohnraub etc. – also wenn diese gesamteuropäischen Ver­hältnisse der Modernisierung nun in der Schweiz vielleicht weniger – bis jetzt noch – zum Zug kommen, so sehen wir sie aber in andern Ländern Europas sehr stark ausgeprägt: die Arbeitslosigkeit steigt, und damit steigt auch der Zulauf zu den rechtsextremen Gruppen. Wie sehen Sie die aktuel­le Gefahr,

Herr Rosenkötter? Müssen wir eigentlich uns darauf gefaßt machen, daß, ja, wenn solche Krisensituationen dazu kommen, und wenn doch die rechtsex­tremen Organisationen, wenn auch minoritär, so doch eigentlich Gewehr bei Fuß dastehen, müssen wir uns darauf gefaßt machen, in den nächsten 20 Jah­ren, daß…

Rosenkötter: Das kann ich natürlich nicht vorhersehen, sehe aber diese Ge­fahr als nicht so groß an. In Deutschland ist es so, wenn irgendwo die NPD oder sonst rechte Gruppierungen mal 15% Wählerstimmen bekommen, dann findet man das schon sehr viel und ist besorgt, das heißt aber doch auch, daß 85% sie nicht gewählt haben. Ich denke, die Gefahr sehe ich heute eher an­derswo, daß nämlich, also z.B. rassistisches Denken sehr weit verbreitet ist in der Gesellschaft und auch von Regierungsseite gefördert wird. Also ich den­ke in Deutschland insbesondere an die Staatsbürger- und Ausländergesetzge­bung. Was da also läuft, wie man das Asylrecht geändert und praktisch aufgehoben hat, wie man also mit Ausländern umgeht in Deutschland, nicht nur von irgendwelchen Jugendlichen, sondern z.B. auch von Behörden, Poli­zei, Ausländerämtern usw., da sehe ich doch echten Rassismus am Werke, und dazu braucht es gar keine faschistische Partei, das findet bis in die bür­gerliche Mitte hinein statt.

Modena: Johannes Cremerius, teilst Du auch diesen vorsichtigen Opti­mismus?

Cremerius: Ja, ich würde etwas differenzieren, und zwar in der Warumfrage. Die Neonazigruppen haben deshalb so wenig Potenz und sind deshalb so we­nig gefährlich, weil die jungen Leute der Verwestlichung, wie der Terminus heißt, anheimgefallen sind. Die möchten gerne Nazi-Idole vertreten, aber gleichzeitig Blue Jeans, T-Shirt, amerikanische Jazzmusik und Auflösung der bürgerlichen Ordnung, sexuelle Freiheiten, also alles das, was eigentlich fa­schistische Ideologien korrumpiert. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gibt es, versteckt hinter den Randalen der jungen Nazigruppen und ver­steckt hinter der offiziellen Politik der Regierung Kohl, die ja für Europa, Eu­ropäische Gemeinschaft usw., für alle hohen Ideale ist, versteckt gibt es eine bürgerliche neue Rechte. Und die ist etwas sehr Interessantes: die setzt näm­lich im Gegensatz zu Italien nicht den Faschismus fort, sondern die haben keine Väter im Faschismus, auch nicht in der Weimarer Rechten, weil das alles Versager waren. Die haben die Ideale nicht vertreten. Deren Väter sind die Großväter, das heißt, die bürgerlich-konservative adelige Gesellschaft des 18. des 19. Jahrhunderts, die sich herleitete aus der

Gegnerschaft gegen die Aufklärung und gegen den Kapitalismus. Da wa­ren die Gefahren. Denn das waren alles auflösende Mechanismen, Entwur­zelung. Während sie die Rasse, das Vaterland und Begriffe wie Deutschland pflegten. Die kommen jetzt wieder auf. Das sind mehr Intel­lektuelle, also Schüler von Karl Schmitt und von Ernst Jünger. Das ist noch sehr verdeckt, aber man darf nicht vergessen, daß sie 1928 die Steig­bügelhalter für Hitler waren. Also akute Gefahr besteht nicht, aber wenn man die Zeitungen genau liest, also vor allen Dingen die Zeitungen der bürgerlichen Mitte, da tauchen überall jetzt bereits Erinnerungen an Karl Schmitt auf, an die große Zeit der Auflehnung gegen die Aufklärung. Se­xualität, bürgerliche Freiheit, und natürlich die Psychoanalyse, Schriftstel­ler wie Thomas Mann, das sind die Feinde.

Modena: Lenin hat einmal gesagt, der Faschismus sei lediglich ein Kapitalismus, welcher nicht mehr vor der offenen Gewalt zurückschrecke. Paul Parin, gibt es Deiner Meinung nach außer diesem, wie soll ich sagen, kommunistischen oder klassischen Verständnis von Faschismus auch so etwas wie einen linken Faschismus?

Parin: Ja, da ist man in Versuchung, eben Definitionen anzugleichen. Ich hab‘ eben den Eindruck, daß da die faschistische Tendenz, die sich si­cher auch, wie es eben gesagt worden ist, versteckt in bürgerlichen und mittelbürgerlichen Ideen und Handlungsabläufen, daß die sehr, sehr im Kommen ist. Selbst in diesem kurzen Zitat, das Du von Bundesrat Koller gesagt hast, ist eingeflossen, es gibt natürliche Bedürfnisse, die da ange­sprochen werden, z.B. der Rasse, ja, wieso merkt der das nicht, der ist doch seit Jahren befaßt mit diesen Problemen. Es gibt dieses völlige Hin­weggehen über die eigene Gesetzgebung in der Behandlung der Ausländer. Statt ein Ausländergesetz rechtzeitig zu machen, wie ich es z.B. vor 10 Jahren empfohlen hab‘, einfach das Asylgesetz, das national und internati­onal durch Gesetze gesichert ist, mit Füßen getreten haben, das nicht zu­rückschicken dürfen, Nonrefoulement, das ist schon längst weg. Also da gibt es sicher die Frage, ob…

Modena: Ja, ich stelle Dir die Frage deswegen, weil Du in unserem Zyk­lus im Wintersemester in Deinem Beitrag über die Verhältnisse in Ex­Jugoslawien den Titel gewählt hast „Vom Nationalkommunismus zum ‚Nationalsozialismus‘. Und ich glaube mich zu erinnern, daß Du darin die These vertreten hast, daß das, was in Serbien zeitgenössisch vor sich ge­gangen ist, so etwas wie ein Faschismus wäre.

Parin: Ja ja, durchaus. Das ist noch interessant, weil die Persönlichkeit von dem Slobodan Milosevic sehr bekannt ist durch eine sehr gute Biogra­phie, die ein Belgrader Philosophieprofessor, der übrigens ein Roma ist und jetzt in Berlin lebt, geschildert hat, daß dies jetzt gar kein charismati­scher Führer mit einem besonderen Einfühlungsvermögen ist, sondern ein kalter Rechner. Der Politologe Zarko Bukowski hat gesagt, er ist leider der einzige wirklich moderne, rational handelnde Politiker, den wir im ehema­ligen Jugoslawien haben. Und er konnte auch damit umgehen. Es ist das möglich, wenn die verschiedenen, sagen wir, des… (Bandende)

…das möglich, wenn die verschiedenen Vorbedingungen für eine Ethni­sierung der Politik d.h. für eine Umformung der Nation in eine Kampfge­meinschaft gegeben sind. Dann kann auch ein Politiker ohne charismatische Eigenschaften zum faschistischen Führer werden.

Ob es auch in der Schweiz dazu kommen könnte? Was es weniger wahr­scheinlich macht, ich hab‘ so eine optimistisch klingende Hypothese, daß es hier weniger wahrscheinlich ist, daß es sich durchsetzt, aber möglich ist es durchaus. Und die langzeitige Methode insbesondere in Elternhaus und Schule macht es aber möglich dagegen aufzutreten. Ich war zufällig in Berlin, als der Krieg gegen den Irak aufkam und diese Riesendemonstrati­on von anscheinend etwa 350.000 Deutschen stattfand. Diese Leute wur­den sichtlich von andern Lehren erzogen als dies der deutschen Tradition entsprach. Sie waren ehemalige 68er mehr oder weniger, und die haben Antikriegsparolen gehabt und eine sehr kraftvolle und sehr fröhliche De­monstration verursacht mit Parolen, die nicht antiamerikanisch waren. Es waren wohl einige, und ich glaube, daß diese langzeit-währende andere Erziehung der jungen Leute keine Gewähr ist dagegen. Aber es wäre ein Mittel, daß es mit der Zeit eine geringere Gefahr gibt. Aber praktisch kommt es eben darauf an, daß die Konstellation das begünstigt und man kann wieder damit rechnen, mit sicher anderen Vorzeichen, daß die Welt, die über das Kapital verfügt, das ja heute die Tendenz hat, ein Weltkapital zu werden, wenn sie dort ihre Interessen sieht, wird sie auch in den ver­schiedenen Ländern genügend wirtschaftliche und logistische Unterstüt­zung jenen Kreisen leihen, die ihnen kurzfristigen Anstieg der Profitrate zu versprechen scheint.

Modena: Ein häufig gehörtes Argument ist, daß linke und rechte Gewalt im Grunde genommen identisch seien. Damit verbunden auch die Vorstel­lung, daß linke und rechte Täterpersönlichkeiten im Grunde genommen iden­tisch seien. Herr Rosenkötter, Sie haben sich ja intensiv z.B. mit der RAF in Deutschland auseinandergesetzt. Wie sehen Sie das Problem von linker und rechter Gewalt?

Rosenkötter: Also wenn wir das genau betrachten, müssen wir doch fest­ellen, daß es da Unterschiede gibt. Ich will also Gewalt nicht in irgendeiner Weise rechtfertigen, aber es ist so, daß wenn Linke Gewalt ausüben, wie z.B. die RAF, die suchen sich ganz bestimmte Personen aus, die sie als Symbole eines Systems ansehen und die auch so angesehen werden können, wie z.B. Schleyer, und die werden dann eben getötet, was ich aber damit nicht rechtfertigen will. Während z.B. rechte Gewalt, das sind dann Explo­sionen eines Eisenbahnzuges in einem Tunnel oder einem Bahnhof, also wo immer wahllos viele Menschen getroffen werden. So etwas würden Linke nicht machen. Denn ich würde überhaupt sagen, bei allen Fehlern, die Kommunisten in diesem Jahrhundert auch gemacht haben, auch schreckli­che Irrtümer, kann man sie doch mit den Faschisten nicht gleichsetzen, weil ihr Endziel, ihr Ideal letztlich ein anderes ist. Denn auch Kommunisten ha­ben als Endziel, als Idealvorstellung letztlich die Gleichheit aller Menschen, während Faschisten immer von der Ungleichheit der Menschen ausgehen. Und diesen Unterschied, find‘ ich, darf man nicht verwischen.

Modena: Also die Frage wäre, inwiefern, sozialpsychologisch gesehen, diese Bereitschaft zur Gewaltanwendung durch die Ideologie, die damit verbunden ist, eine verschiedene Qualität setzt. Also wir haben in der Dis­kussion mit diesem ehemaligen jungen Neonaziführer, Ingo Hasselbach, gesehen, daß auf der einen Seite eine latente Gewaltbereitschaft in jugendli­chen Gruppen besteht, daß aber erst, wenn eine Ideologie dazu kommt, und er, Hasselbach, hat dann von einer Sektenbildung gesprochen, also wenn diese Sektenbildung zustandekommt, wirklich auch dieses Gewaltpotential kanalisiert werden kann und sich nach außen richten kann. Und die Frage wäre schon, ob nun diese verschiedenen Sekten, ja, also linke oder rechte Sekten, die dieses Gewaltpotential in sich tragen, gesellschaftlich gesehen, sozialpsychologisch gesehen, grundsätzlich etwas Verschiedenes sind. Was denken Sie? Oder was denkst Du, Johannes Cremerius?

Cremerius: Das ist eine schwierige Frage. Ich weiß nicht, ob ich dazu was sagen kann. Also im Gegensatz zu Dir, Lutz, denke ich, gilt das wirklich für den Stalinismus, was Du gesagt hast.

Modena: Nein, ich habe eigentlich von Sektenbildungen gesprochen, also das wäre eine weitere Frage..

 

Cremerius: Ach so, dann muß ich mal auf ihn antworten, ob er, ob die Krite­rien…

 

Modena: … wenn du vom Stalinismus sprichst, das wäre für mich schon die Kirche, also die Frage, eine weitere Frage wäre ja, wie kommt, wie schafft es eine Sekte, zur Kirche zu werden, nicht?

Rosenkötter: Also ist das jetzt eine Frage an mich gewesen, nicht? Cremerius: Ja, zunächst mal Ja.

 

Rosenkötter: Ich würde sagen, ich habe den Stalinismus auch in schrecklicher Weise erlebt, und der hat mich also schon bewogen, so 1945 aus Ostberlin nach Westberlin zu gehen, und trotzdem würde ich aber diese Differenzie­rung aufrecht erhalten. Daß auch bürokratische und unterdrückende Kommu­nisten nicht gleichzusetzen sind mit Faschisten, obwohl ich also diese Kritik durchaus auch übe und teile, würde ich sagen, man kann sie mit Faschisten nicht gleichsetzen, weil letztlich ihre Ideologie eine andere ist.

Modena: Paul Parin, wie denkst Du in dieser Frage?

 

Parin: Ja, ich, bei aller großen Hochachtung, die ich für Hannah Arendt habe, glaube ich, daß auf dem Niveau der Philosophie, der politischen Philosophie, diese Totalitarismustheorie vielleicht stimmt, daß sie aber auf dem Niveau der Realität unrichtig ist, falsch ist. Sie summiert, vergleicht Phänomene. Diese Phänomene sind zum Teil die gleichen, z.B. Grausamkeit, massenhaft organisierte Grausamkeit. Das ist, ich fürchte, die menschliche Natur. Der Mensch ist ja nicht nur als gutes, sondern auch als böses Wesen geboren, wenn man so denken will, sind sie gleich. Die Philosophie kann es sich dort leisten, anscheinend, auf eine politische Analyse zu verzichten. Und darauf verzichte ich nicht, und da sehe ich einen Grundunterschied in dem, was be­reits gesagt worden ist: Wenn man rückblickend historisch die faschistischen Bewegungen, die zur Macht gekommen sind in Spanien, in Italien, in Deutschland, die wir faschistisch nennen, und ich würde sie nicht faschistoid nennen, sondern faschistisch nennen. Und dann sind sie alle so, daß die Ideo­logie imstande war, mit Hilfe des Führers und der entsprechenden Umstände eine Kampfgemeinschaft, nicht nur eine Sekte, sondern eine Kampfgemein­schaft zu formieren, die meist einen erheblichen Teil, aber nicht unbedingt die Mehrheit einer Nation transformiert hat. Dem Sozialismus ist das nicht gelungen. Glücklicherweise. Ich weiß nicht, wie’s in Zukunft sein wird. Die Führung der Partei hat sich aus dieser Avantgardetheorie vorbe­halten, das Land zu führen, und da haben die Menschen mehr oder minder begeistert mitgemacht aber sind nie zu einer geschlossenen Sekte geworden. Es gab wenigstens auch Stachanovisten, aber der Führungsanspruch der Partei mit

ihrer Organisation war so stark, daß diese unbewußte Identifikation mit den Zielen der Diktatur bisher in keiner linken Bewegung zustandegekommen ist. Es ist in kleinen Gruppen auch immer wieder gescheitert, wie soll man sagen, am ideologischen Grundkonsens eben, der Gleichheit des Menschen, dem Solidaritätsgedanken und vielen anderen. Es war untrennbar damit ver­bunden. Also die linken sektiererischen Bewegungen, die es gegeben hat, und auch dort, wo sie mit großer polizeilicher und militärischer Macht durchgesetzt waren, haben nie einer politischen Analyse standgehalten. Die Phänomene sind gleich. Das ist natürlich schon so. Man kann in jeder Nati­on solche Menschen finden, die nicht nur Mitläufer, sondern auch Täter sind, durchaus. Aber daß man diese Organisation auf einem philosophischen Ni­veau überspringt und sagt, totalitär ist totalitär, es sieht genau gleich aus. Dann kommt man in der Tat zur menschlichen Natur und da muß ich den psychoanalytischen Kollegen, manchen, einen Vorwurf machen. Das hab‘ ich besonders meinem Freund, Alexander Mitscherlich, immer gemacht, der hat gesagt, ja, es gibt eine natürliche gekonnte Aggression, und es gibt die destruktive Aggression. Wenn man die menschliche Geschichte, angefangen von unserer Geschichte, vom alten Testament, sieht, so sind die Greueltaten viel häufiger als die guten Taten. Inklusive der Empfehlungen, die Gott, der Herr, seiner bevorzugten Nation gegeben hat. Also daß es dann gleich he­rauskommt, daß es gleich aussieht, daß das Phänomen gleich ist, das würde die Totalitarismustheorie, es sind alle gleich, stützen. Wenn man eine politi­sche Analyse unternimmt, bleibt dieser grundlegende Unterschied, und das hat Rosenkötter schon gesagt, und das führt zu weit, das im einzelnen, das muß man auch soziologisch organisieren, denn jede Ideologie wirkt ja nicht wie eine Art, wie soll man sagen, wie eine automatische Gehirnwäsche, sie wird akzeptiert und man folgt ihr, es gibt Emotionen und Gegenemotionen, das ist sicher einer politischen Analyse bedürftig, und diese Gleichsetzung, die propagandistisch praktisch sein mag, stimmt einfach nicht.

Modena: Die Zeit läuft uns davon, ich glaube, wir kommen langsam zum Schluß. Ich erinnere Sie daran, daß diese Tagung unter dem Titel gestanden hat „Vom Affekt zum Gedanken zur Tat“, und das war ja durchaus so ge­meint, daß wir untersuchen wollten, wie innerhalb der alten und neuen Rechten diese Affektlage zustandekommt, die eben zu der entsprechenden Ideologie und dann auch zur faschistischen Gewalt führt. Aber es ist im Verlauf der Tagung auch klar geworden, daß wir dieses Motto auch anders lesen können, nämlich auf uns selbst bezogen, also von unseren Affekten der Betroffenheit, der Verunsicherung, der Angst gegenüber dem Phänomen der neuen Rechten zum Gedanken – dazu wäre diese Tagung ja ein Beitrag gewesen – zu zukünftigen Taten. Und das wär‘ jetzt meine letzte Frage an Sie drei hier am Podium: Was können Sie uns Jüngeren aus Ihrer Warte, aus Ihrer Lebenserfahrung heraus, psychologisch und politisch, politpsycholo-gisch, raten. Wie kann man gegen diese, wir waren uns zwar einig, daß die Gefahr einer Faschisierung in Europa nicht unmittelbar ist, aber doch, wenn eine Krise dazukommt, wenn große Interessengruppen vielleicht dazukom­men, die auf diese Karte setzen würden, also etwas weiter, aber doch, die Gefahr ist da. Wie würden Sie uns raten? Wie kann man da vorgehen? Wie kann man rechtzeitig vielleicht noch, ja, gewitzigt durch die historische Erfah­rung, rechtzeitig vielleicht noch, handeln? Herr Rosenkötter zuerst.

Rosenkötter: Ja, ich denke, es ist natürlich sehr schwer, so einen allge­meinen Rat zu geben, aber ich meine, wir sind ja nicht nur Analytiker, wir sind auch Staatsbürger. Und einfach Menschen, Mitmenschen, und als sol­che sind wir aufgerufen zu handeln, also etwa, wenn unmenschliche Gesetze erlassen werden, müssen wir dagegen protestieren. In Deutschland gibt es diesen Verein Pro Asyl z.B., der also öffentlich dagegen angeht. Es gibt auch Einzelpersonen, die da Arbeit leisten. Wenn wir also irgendwo sehen, daß eben Unmenschlichkeit sich anbahnt oder passiert, müssen wir dazu Stellung nehmen, also soweit kann ich den Rat nur geben allgemein, wir dürfen uns nicht zurückhalten.

Cremerius: Ja, ich schließe mich dem an und würde noch auf folgendes hinweisen: Die Psychoanalyse hat geschichtlich in den letzten 50 Jahren immer erst reagiert, wenn das Kind in den Brunnen gefallen war. Denken Sie an den Vietnamkrieg, denken Sie an alles andere. Also ich glaube, wir müssen aus dieser Haltung heraus und sehr früh Stellung nehmen zu den Dingen. Wenn man zu spät kommt wie 1933 oder beim Vietnamkrieg, dann bekommen die Dinge eine gewisse Automatik, und die ist dann nicht mehr aufhaltbar. Und deshalb schließe ich mich Rosenkötter an und meine, wir müssen als Staatsbürger reagieren; als Analytiker nun, da habe ich ein ganz bestimmtes persönliches Problem. Ich finde, wir haben versagt und versa­gen immer noch, und zwar, weil wir ein Ausbildungssystem haben, wo­durch das, was eigentlich die Psychoanalyse will, nämlich Selbstaufklärung derer, die diese Ausbildungen machen, durch die Ausbildung verhindert wird. Das Ergebnis: Ich habe mir die Curricula der deutschen psychoanaly-tischen Institute angesehen. In keinem derselben gibt es noch Vorlesungen, systematische, folgerichtige, über Freuds Kulturtheorie, über Freuds Gesell­schaftskritik. Niemand weiß auch mehr darüber Bescheid. Und wenn man sieht, wie die Institute, wie die Institutsausbildungen enden: Sie enden in hierarchisch autoritären Vorstellungen, was man z.B. an der Rolle der Frau in der Psychoanalyse hervorragend studieren kann. In hundert, in 90 Jahren psychoanalytischer Geschichte hat es erst ein einziges Mal eine Frau gege­ben, die Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung war. In Deutschland gab es 1988 keine Frau, die ein DPV Institut leitete. Dann hab‘ ich untersucht, wie ist denn die Struktur. Wir haben in Deutschland bei den

Zugängern 50% Männer, 50% Frauen. Schon bei den ordentlichen Mitglie­dern verschiebt es sich von 50 zu 75, bei den Lehranalytikern von 80/85 zu 15 und bei den Funktionären sind Frauen ganz selten. Also Sie sehen, die Aufklärungsfunktion der Psychoanalyse ist gleich Null. Denn wenn Sie das vergleichen mit dem Aufklärungsgrad in anderen gesellschafltichen Grup­pen, wie weit da Frauen bereits um ihre Rechte kämpfen und sie formulie­ren können. Als ich die Zahlen auf den Tisch legte, und das war eigentlich die tiefste Enttäuschung, also die weiblichen Mitglieder der Vereinigung nun wußten, was los war, gab es kein Echo. So schlecht ist die Funktion der Ausbildung, die wir anbieten. Also wenn wir keine Gesellschaftskritik ma­chen und nicht mehr Freuds Texte lesen, wie sind wir denn überhaupt dann vorbereitet auf das Eintreten in eine gesellschaftskritische Situation, z.B. Analyse des Faschismus, oder oder…? Und deshalb bin ich so gerne der Einladung von Emilio Modena gefolgt, weil ich dieses Institut, an dem ich einmal drei Jahre zwischen 1960 und 1963 eine andere Psychoanalyse erler­nen durfte, bei Herrn Parin, bei Herrn Morgenthaler. Deshalb bin ich so gerne gekommen, weil das eigentlich meine geistige Heimat ist.

Modena: Ja, Paul, Du hast uns zwar eigentlich schon einiges gesagt, also vor allem, wie Du in Graz mit den verschiedenen Antisemiten umgegangen bist. Ich glaube, das ist ja schon eine Antwort und ein Beispiel, aber ich will Dir trotzdem noch ein Schlußwort geben. Was denkst Du, was nötig ist, was für Taten sollen von psychoanalytischer Seite und von staatsbürgerlicher Seite folgen?

Parin: Ich kann nur unterstreichen: Von psychoanalytischer Seite könnte ich es nicht besser und nicht anders sagen als Cremerius das jetzt gesagt hat. Von staatsbürgerlicher Seite bin ich ganz 100% einverstanden mit dem, was Rosenkötter gesagt hat. Wir haben uns also nicht abgesprochen. Ich will et­was Schweizerisches hinzufügen: Vor einigen Jahren, der Krieg im ehema­ligen Jugoslawien tobte schon, hat unser Bundesrat Ogi, nicht ganz bedacht, sich im österreichischen Fernsehen gegenüber den Bosniern, die damals mit einem Vernichtungskrieg überzogen waren, geäußert, ja, das ist bei diesen Stämmen nicht anders, die schlagen sich die Schädel ein, und das muß man einfach lassen, wir selbst können höchstens später doch noch dafür bezah­len. Seitdem er das gesagt hat, obzwar ich ihn sonst nicht gerne zitiere, zi­tiere ich ihn immer wieder für uns Schweizer. Wenn wir in ruhigen und friedlichen Zeiten uns Politiker anschaffen, mit einem wie immer fragwür­digen, aber doch einem Wahlsystem, die so denken, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Verhältnisse einmal schlecht oder gar schlimm werden, daß wir es dann erleben, daß es so ähnlich geht, wie es in den fa­schistischen Diktaturen ist. Wir sollen halt andere Politiker vorziehen.

Modena: So, herzlichen Dank Ihnen am Podium, Herr Cremerius, Herr Rosenkötter, Paul Parin, und Ihnen allen, daß Sie gekommen sind, daß Sie beigetragen haben, und damit ist die Tagung geschlossen.

Für die Mühe der Transkription des Tonbandes bedanken wir uns bei Anita Osterwalder-Dietrich (Zürich).

Quelle: Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik, Nr. 36, 1/1996
Paul Parin (2005): Psychoanalyse, Ethnopsychoanalyse, Kulturkritik. Paul Parins Schriften auf CD, herausgegeben von Johannes Reichmayr, 19,90 Euro, Psychosozial-Verlag, Gießen, Bestellen?