Zwei Kontaktlinsen

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oder Was auf den Ramblas in Barcelona geschah…

Bericht der Ghostwriterin Jenny Hagedorn
(Bearbeiteter Auszug aus dem Roman Die Geisterschreiberin)

Kurz vor dem Hotel bemerkte ich, dass ich die Tasche mit den neuerworbenen Einkäufen stehengelassen hatte. Sofort kehrte ich um, in Panik und ohne Vertrauen in die Ehrlichkeit meiner Mitmenschen. Vor der Bank, auf der ich gesessen hatte, stand ein Paar. Der dunkle schnauzbärtige Mann zog aus meiner Tasche Hemdchen und Büstenhalter und hielt beides mitten auf den Ramblas hoch, wobei ihm die Frau einen leichten Klaps auf den Arm gab. Ein paar Leute hielten das offenbar für eine Nummer wie die Chopin-Dame und die Chaplins und blieben stehen. Ich hörte einen raschen Wortwechsel zwischen Frau und Mann, aus dem ich deutsche Wörter herauszufiltern glaubte, was ja aber nicht sein konnte, nicht an diesem Ort und bei diesem Paar. Ich ging zu den beiden, zeigte auf mich, dann auf die Tüte und suchte nach dem spanischen Wort für vergessen, aber es fiel mir nichts ein, und ich fluchte leise: „Verdammt.“

„Oh“, sagte der Mann, Sie kommen Deutschland?“ Er verbeugte sich. „Ramazan Finkelstein, und das meine Frau Ida.“

Während der bizarre Name in meinem Hirn kreiste, hielt er mir die Tüte hin, die meine Sachen wieder aufgenommen hatte.

„Danke“, sagte ich, „da bin ich aber froh, ich hatte mir die Sachen gerade erst gekauft.“ Ich nannte meinen Namen

„Schöne Sachen“, meinte die Frau namens Ida.

„Darf ich Sie zu irgendetwas einladen“, fragte ich, „in der Nähe gibt es ein gutes Bistro. Man kann drinnen und draussen sitzen.“

Ich schaute hoch. Es sah aus, als könne es gleich regnen.

„Es ist nicht weit“, schob ich nach. Mein Ghostwriter-Impuls hatte sich gemeldet mit dem Befehl: Halt sie fest! Die beiden sind eine Geschichte.

Wir gingen in Richtung Universität und erreichten das Café Sekunden, bevor der Regen losprasselte. Die Gäste, die, wiewohl überdacht, draussen gesessen hatten, liefen in den  Innenraum wie um ihr Leben, einige mit Tellern und Gläsern in den Händen, andere gefolgt von Kellnern, die ihnen ihre Bestellungen hinterher trugen. Das Ganze wirkte wie eine chaotische Filmsszene, eine Art Slapstick. Offenbar wurde bei Regen trotz Überdachung nicht draußen bedient, und so mussten auch wir im Innenraum Platz nehmen. Dort war es stickig, und wir setzten uns an den Tisch, der dem Bürgersteig am nächsten stand. Es goss wie aus Eimern, und Blitz und Donner folgten einander wie Dieb und Polizei.

Ich machte den Anfang.

„Sie leben in Deutschland?“

„Seit 1975“, sagte der Mann, „Ida seit 1990. Ida aus Kiew. Ich aus Ankara..“

„Und Sie haben sich in Deutschland kennengelernt?“

„In Wuppertal-Elberfeld. Ich Witwer. Sie ganz allein. Beide traurig.“

„Lieber zusammen traurig als allein traurig“, sagte die Frau.

„Finkelstein“, tastete ich mich vor, „ist sicher Ihr Name?“

Ich schaute die Frau an. Sie nickte. Der Mann fingerte seinen Reisepass aus der Brusttasche und hielt ihn mir hin. Ich las: Finkelstein geb . Sarikaya.

Dann las der Mann wie ein feierliches Gedicht: „Dieser Reisepass ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.“ Er lachte. Er hatte der Bundesrepublik ein Schnippchen geschlagen. „Kiew Ankara, Kiew Ankara“, wiederholte er seine Pointe und zeigte auf seine Frau und sich. „Sie deutsch, ich deutsch“, und hielt den Finger unter den Eintrag Staatsangehörigkeit. Mein Blick fiel auf Punkt 15, Kinder. Hier war zu lesen: Kein Eintrag.

„Keine Kinder“, sagte er, „sie nicht, ich nicht. Warum nicht Namen von Ida nehmen?“

„Warum nicht?“ Die Frau lächelte.

„Sarikaya“, sagte Ramazan Finkelstein, „ist Gelbstein. Gelbstein – Finkelstein. Ida und ich

jetzt Deutsche. Warum nicht nehmen schöne deutsche Namen Finkelstein?“

War Herr Finkelstein ein ironischer Mann? Hatte ihn jemand über die Herkunft des Namens Finkelstein aufgeklärt? War er ein heimlicher Provokateur? War die Frau als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen oder als Teil eines jüdischen Kontingents?

„Ida“, sagte der Mann, „hat russisches Diplom: Erzieherin. Aber sie muss deutsches Diplom nacharbeiten.“

Wieder tätschelte er ihre Hand.

„Haben wir im Lotto gewonnen“, sagte er, „nicht viel, aber genug für schöne Reise.“

„Rami ist krank“, sagte die Frau, „hat die Arbeit verloren. Rami ist Werkzeugmacher.“

„Wenn ich gesund bin und Arbeit habe, wird Ida Königin von Wuppertal. Schöne Kleider. Gold.“

„Ach Ramile“, sagte Ida mit einem Seufzer.

Ich sah den Ohrring am linken Ohr des Mannes und den gleichen am rechten Ohr der Frau. Sie merkten, dass ich das sah.

„Müssen wir immer ein Paar von etwas haben“, erklärte der Mann, „manchmal trägt sie linke Socke, ich rechte. Oder Handschuhe.“

„Sogar Kontaktlinsen.“ Die Frau kicherte.

Was für fade Typen hatte ich doch meist interviewt, was für mickrige kleine Leben aufgemotzt. Jeder eine Kontaktlinse, heiliger Strohsack!

„Wir gehen in Moschee, in Synagoge, in Kirche. Wir machen Ramadan, Pessach, Weihnachten.“

„Und Karneval“, fiel die Frau ein.

0Es verschlug mir die Sprache. Ihr Namens- und Nationalitätenspiel, Ihr Identitätswirrwarr – naiv oder gerissen? Zwei friedvolle Rebellen, der wahre Bodensatz unserer kommenden Gesellschaft. Da ziehen sich die Bildungsbürger noch den  Nathan  rein, während unter den Füßen der Studienräte und Steuerbeamtinnen mit Stadttheater-Abo längst die neuen kleinen Sprengsätze gezündet werden

Und ganz plötzlich hatte ich den Titel für einen Roman oder ein Theaterstück: Zwei Kontaktlinsen.

© Gertrud Seehaus

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