Für Peter Finkelgruen

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Zum 70. Geburtstag…

Von Ralph Giordano

Lieber Peter,

als Du am 9. März 1942 geboren wurdest, befand sich der Feind, der dein Leben bestimmen wird, das nationalsozialistische Deutschland, auf der Höhe seiner militärischen Macht – vom Nordkap bis zur Sahara, vom Atlantik bis zur Wolga… Und Du im japanisch besetzten Shanghai, in Hongcew – ein Ghetto für staatenlose Ausländer, vorwiegend Juden. Welch ein Ort für ein Kind, dessen Vater die erzwungene Emigration nicht überleben und dessen Großvater von einem SS-Mann in Theresienstadt ermordet wird…

Heimatloser, unbehauster als dieses Hongcew konnte es wohl keinen Topos auf der Erde geben, so viel Platz auch immer sie zu vergeben hätten. Und doch wirst Du es viel später, voll von Erinnerungen, noch einmal besuchen.

Bleiben konntest Du da nicht, und so begann die große Wanderung, nachdem das kriminelle Imperium des Tenno unter den Schlägen der US-Armee zusammengebrochen war. Inzwischen hast Du sieben Dekaden hinter Dich gebracht.

Das Unbeheimatetsein sei das Charakteristische in Deinem Leben, habe ich gelesen, ohne noch zu wissen, ob es von Dir oder aus dem Munde oder der Feder eines andern kam. So beginnt eine Odysee – mit Stationen wie Prag, Haifa, Freiburg, Köln, Bonn. Studium der Politischen Wissenschaften, der Soziologie, Geschichte. Und alles durchwirkt vom Bewusstwerden des Jüdischen in Dir, die Seele Deines Daseins – und seine Tragik.

Die große Verschattung hat einen Namen: Anton Malloth, Mörder von Martin Finkelgrün, Deinem Großvater. Als Du dem damaligen SS-Mann auf die Spur kamst, lebte er in Pullach bei München, unbehelligt – wie die Täter im allgemeinen, obschon er in der CSSR zum Tode verurteilt worden war. Die „zweite Schuld“, also die Verdrängung der ersten unter Hitler, bleckte die Zähne – und wird der Status quo Deines Lebens bleiben (wie des meinen, so die Parallelen). Zehn Jahre Kampf bis zur Anklage gegen Malloth, und als Bilanz dann eine der großen Chroniken der zweiten Schuld: „Haus Deutschland oder Die Geschichte eines ungesühnten Mordes“. Eine Streitschrift gegen den Geburtsfehler der Bundesrepublik Deutschland, den „Großen Frieden mit den Tätern“ – dessen unentwegter Widerpart Du warst und bist.

Ein Hort der Zuflucht wird dieser unbequeme Standort nicht. Und so spricht der Titel der Buchverfilmung von Dietrich Schubert denn auch Bände: „Unterwegs – als sicherer Ort“. Der Wechsel als biographische Kontinuität, das Ringen um Zugehörigkeit – ich weiß, wovon die Rede ist.

Dazwischen Oasen, Andeutungen von Sesshaftigkeit – Redakteur und Sprecher bei der Deutschen Welle, Leiter des Jerusalembüros der Friedrich-Naumann-Stiftung, im Vorstand des „PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland“. Neben „Haus Deutschland“ erscheint „Erlkönigs Reich – Geschichte einer Täuschung“, ebenfalls Rowohlt.

Zur Ruhe kommt dieses Leben nicht, das Trauma bleibt. Aber es hat Dich nicht überwältigt, die große Gefahr für die Traumatisierten des Holocaust und ihrer Nachkommen, mit namentlichen Warnungen – Primo Levi, Jean Amery, Paul Celan…

Dir zur Seite Gertrud, Bundesgenossin und Schicksalsgefährtin, Haudegen der Feder und des Wortes – wie wir sie kennen: klug, hartnäckig, aufs klassischste unsentimental und direkt aufs Ziel zu. „Nimmermüde Kollegin“, so lautet mein Prädikat für Gertrud Seehaus, Deine Frau.

Nun, spät, macht sich aber doch so etwas wie eine Gravitation bemerkbar, setzt sich etwas ab, was in ständiger Bewegung war, ohne dabei ohne Stillstand zu enden. Die Enkelkinder David und Hanna werden früh eingefügt in den Ablauf der Familiengeschichte. Bewegend Gertruds und Dein Versuch, das Fürchterliche „kindgerecht“ weiterzugeben – mit dem Buch „Oma und Opa hatten kein Fahrrad“. Das hat mich angetastet, wie die phantasievollen Zeichnungen von Günter Kunert darin. Den Einwand von außen, man solle Kindern nicht solche traurigen Geschichten erzählen, pariert Ihr so: Wir sind traurig, dass wir nichts Lustiges zu erzählen haben, aber schließlich können wir nur das erzählen, was sich ereignet hat.“ Ja! Soviel kann heute manifest gesagt werden (und Du hast dabei geholfen): Die Schlussstrichzieher haben eine historische Niederlage einstecken müssen. Zu offenbar war ihre Lüge: Haben sie doch mit dem, womit sie Schluß machen wollen, niemals angefangen!

Nun wirst Du 70 Jahre alt, Äonen, die ich, fast zwanzig Jahre älter, schon so lange freundschaftlich begleite und beobachte: ein tapferes, widerständiges Leben, das mich immer wieder berührt durch seine Bescheidenheit und seine Prinzipientreue.

Also, masel tov, lieber Peter, Massel tov – und ein langes Leben noch!