Republik der Schnorrer: Das Volk hat den Präsidenten, den es verdient

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Kaum eine Kabarett- oder Karnevalssendung in den vergangenen Wochen verging, ohne den Inhaber des höchsten Staatsamtes der Lächerlichkeit preiszugeben. Was für ein Glück, dass er kein Jude ist! Sonst müsste sich jeder Komiker erst mal für seine Kalauer entschuldigen, bevor er loskracht…

Rabbinische Ansichten

von Andrew Aryeh Steiman

Lachen ist gesund und billig noch dazu, wenn es auf Kosten anderer geht. Nach dem Rücktritt und dem Ende der Karnevalszeit kann man jetzt wieder zum Status quo ante zurückfinden und sich abwechselnd über Wulff aufregen, ihn bemitleiden oder bloß den Kopf schütteln. Armes Deutschland.

Chassidisch Um Armut ganz anderer Art geht es in einer chassidischen Geschichte, die uns hier eine Analyse des Scherbenhaufens nach dem Wulff-Rücktritt bieten könnte. Sie erzählt von einem Kaufmann, der von Ort zu Ort unterwegs war, um seine Waren zu verkaufen. Er war fromm und korrekt im Umgang mit allen, denen er begegnete. Fern der Heimat verdiente unser ehrbarer Kaufmann den Lebensunterhalt für seine Familie. Wie in der Welt des Schtetls üblich, freute man sich über den Besuch eines solchen Reisenden. Man selbst war zu arm, um zu reisen, also ließ man sich von der Welt erzählen. Reisen bildet – auch so herum.

Die reisenden Kaufleute waren ein Fenster zur Welt. Frische Luft kam in die engen Gassen der Schtetlach durch die Erzählungen der Reisenden. Die kleinen engen Gassen wurden zu breiten Boulevards (das geht übrigens auch umgekehrt: Die »Bild« macht’s möglich). Mit Musik und Gesang wurden dann die Reisenden ein Stückchen des Weges aus dem Ort hinausbegleitet, nachdem sie ihre Geschichten und Waren mit den Schtetl-Bewohnern ausgetauscht hatten.

Und wenn ein Reisender über Schabbat blieb, war das ein besonderes Ereignis. So kam der brave Kaufmann eines Freitags in ein Schtetl, in dem er zuvor nie gewesen war. Eine merkwürdige Stimmung lag in der Luft. Der Schabbes nahte, und so führte der Weg unseres frommen Vertreters zum Rabbiner des Ortes, um Vorkehrungen für den Ruhetag zu treffen.

Der Rabbiner und die G’wiren (Lokalgrößen) in der Synagoge nahmen aber kaum Notiz von dem Fremden. »Du bist Kaufmann?« fragte einer, »und Du bleibst über Schabbat?« ein anderer. Waren, Geld und Gespann solle er dem Rabbiner anvertrauen, um sie nach Ende des Schabbat wieder in Empfang zu nehmen. So lief es anderswo auch, aber hier lag etwas Merkwürdiges in der Luft.

So verging der Schabbat, der Fremde betete in der Synagoge und aß beim Rabbiner. Schweigend. Zu Schabbatausgang gingen sie zusammen wieder in die Synagoge, wo die anderen G’wiren schon auf sie warteten.

Geld Alsbald verkündete der Fremde seine Absicht, weiter fahren zu wollen. »Dann geh’ doch«, meinte einer. »Zuvor möchte ich mich für die Gastfreundschaft bedanken«, erwiderte der Fremde. »Und für den mir erwiesenen Dienst, meine Waren, mein Geld und mein Gespann während Schabbat sicher verwahrt zu haben.« Die G’wiren wurden endlich aufmerksam. »Was für Geld?«, fragte einer. Ein anderer: »Was für Waren?« Und überhaupt: »Wer bist Du?«, fragten sie alle.

Verdutzt suchte der Reisende den Blick des Rabbiners. Der aber zuckte nur die Achseln. Daraufhin brach schallendes Gelächter in der Synagoge des seltsamen Schtetls aus. Aufrecht verließ unser trauriger Held den Ort. »Wie soll ich nun meine Familie ernähren? Ich bin ruiniert!«, dachte er sich, als er außerhalb des Schtetls in einem dunklen Wald alleine auf dem Weg war. Dann hörte er plötzlich, wie sich ihm auch noch ein Gespann von hinten näherte. Sicherlich Räuber, schoss es ihm durch den Kopf. »Als ob ich nicht schon genug Zores hätte!«

Ganeff Sein Staunen war groß, als er sah, wer es war: der Rabbiner aus dem seltsamen Schtetl! »Hier hast Du Dein Pferd und Wagen wieder, Deine Waren und Dein Geld. Außerdem noch etwas Proviant. Eine gute Woche und gute Reise wünsche ich Dir. Pass’ gut auf Dich auf – hier soll es von Räubern nur so wimmeln!«

»Verstehe«, sagte der Reisende. »Aber erlaube mir eine Frage: Warum hast Du mir nicht gleich alles nach Schabbes zurückgegeben?« Der Rabbiner lächelte. »Dies ist eine raue Gegend. Die G’wiren sind alle eine Bande von Betrügern. Sie sollen glauben, ich sei auch ein Ganeff wie sie und gehöre dazu. Wenn nicht, wird ihnen niemand den richtigen Weg zeigen.«

Zurück zu Wulff. Ja, man wirft ihm vor, ein Schnorrer zu sein. Aber das ist zu einfach. Er war unser Bundespräsident. Wenn er ein Schnorrer ist, dann war er eben der erste Schnorrer im Staate. Wie in der chassidischen Geschichte sollten wir alle unser Ebenbild im ersten Bürger am Ort erkennen können und in uns gehen: Jeder soll sich selbst fragen, ob und wie er verstrickt ist.

Dieser Satz stammt ebenfalls vom Bundespräsidenten. Nicht vom letzten allerdings. Und es ging in diesem Satz, der eigentlich eine Selbstverständlichkeit umschreibt und dennoch als Maxime gefeiert wurde, um viel Gewichtigeres als Schnorrerei. Er findet sich sinngemäß in der berühmten Rede Richard von Weizsäckers zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Dem damaligen Amtsinhaber verschaffte er allerdings großen Respekt.

Vielleicht verhilft uns die Reise in die chassidische Welt auch zu etwas Respekt, und zwar vor uns selbst. Bei aller Kritik an seinem Verhalten: Wulff hat uns hier schließlich einen Spiegel vorgehalten. Wie der Rabbiner in der chassidischen Geschichte, wenn auch ungewollt und tollpatschig. Anders ausgedrückt: Er gab die Verhältnisse hierzulande hervorragend wieder, was die Selbstbedienungsmentalität betrifft.

Einer, dem eine solche Haltung so fern war wie der Mars, der dafür wirklich Format hatte, war übrigens unser aller Ignatz Bubis sel. A. Es war kein Geheimnis: Der frühere Präsident des Zentralrats der Juden bezahlte jede Dienstreise aus eigener Tasche. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit. Und Selbstverständlichkeiten arteten bei ihm nie zu Maximen aus.

So wurde er zur moralischen Instanz. 20 Jahre ist es her, als dieses Format erkannt wurde und er ernsthaft als möglicher Kandidat für das höchste Staatsamt gehandelt wurde. Aber er lehnte dankend ab: Deutschland ist nicht so weit, meinte Bubis damals. Heute wohl noch weniger. Erst wenn wir aufhören, eine Republik kleinkarierter Schnorrer zu sein, haben wir den moralischen Anspruch darauf, von einem Bundespräsidenten repräsentiert zu werden, der echtes Format hat.

Scherbenhaufen Wenn die kurze Präsidentschaft von Christian Wulff uns allen im Nachhinein einen Nutzen bieten kann, und auch der Rücktritt nicht umsonst gewesen sein soll, dann ist es vielleicht die Erkenntnis, im chassidischen Sinn etwas über unser Schtetl gelernt zu haben. Das Volk hatte den Präsidenten, den es verdiente.

Nun wurde ein Nachfolger gefunden, dessen Integrität außer Frage steht. Diese Konstellation – Wulff-Rücktritt und Gauck-Nominierung – bietet uns allen eine einmalige Chance: Nun ist es am Volk, sich zu bewähren. Der künftige Präsident ist schon integer genug; wir sollten ihm und uns nun das Staatsvolk gönnen, das er verdient.

Über ihn macht man immerhin schon mal keine Witze. Und es ist am Ende gleichgültig, ob er Pastor oder Rabbiner ist. Dem Scherbenhaufen im Präsidialamt kann man vielleicht doch etwas Positives abgewinnen. Wir könnten endlich auch ein Stückchen weiter sein im Sinn von Ignatz Bubis sel. A.

Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.
23.02.2012 – Jüdische Allgemeine
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13 Kommentare

  1. Hitler persönlich, als Oberbefehlshaber, wurde auch kein Auschwitz-Befehl jemals nachgewiesen. Juristisch also „nichts zu beanstanden“, so gehört sich das ! Leider nun auch nicht „ordentlich verabschiedet“ worden. Also solch eine Rechtswidrigkeit …!!
     

  2. na Klasse, jetzt soll auch noch die Bundeswehr besudelt werden, in dem ihr quasi durch Herrn Wulff eine Ehrenbezeugung („Zapfenstreich“) abgepresst werden soll…
    Herr Wulff, 3x Pfui !!! nach Großburgwedel !!!
     
     

  3. vllt. mit befreiender Wirkung als „ehemaliger“ des Gestrigen

    Synonyme integer Рsinnverwandte, gleichbedeutende W̦rter

    ehrenhaft, glaubwürdig, seriös, achtbar, bieder, gewissenhaft, pflichtbewusst, redlich, unbestechlich, verantwortungsbewusst, verlässlich, vertrauenswürdig,
    echt, ehrlich, fair, greifbar, gut, loyal, qualitätsvoll, real, rechtschaffen, redlich, reell, solide, tatsächlich, anständig, brav, charakterfest, einwandfrei, korrekt, makellos, ordentlich, untadelig, geordnet, in Ordnung, sauber, …

  4. Ich finde diese Diskussion hier reichlich bizarr. Was hat denn die Qualität des Staats/Bundes-Präsidenten damit zu tun, ob er Christ, Jude, Mormone, Moslem, Atheist oder meinetwegen VooDoo-Anhänger sei ?
    Es sei auch daran erinnert, das der israelische Staatspräsident KATZAV ein rechtskräftig verurteilter alter geiler Bock und Vergewaltiger war, wenngleich er im deutschen Bundestag die höchsten Moralpredigten gehalten hatte.
    Mir ist völlig wurscht dabei, dass dieser ein persienstämmiger Jude ist !
     

  5. „Der künftige Präsident ist schon integer genug;“  steht geschrieben ….
    Ein ehemaliger Pfarrer, seit 12 Jahren ohne Scheidung in wilder Ehe lebend ist integer, wenn er die Gebote seines eigenen Glaubens mißachtet ???? 

  6. @riciano
    die Deutschen? schreibst du, bist du kein Deutscher? Und überhaut, wenn ich die Beiträge hier lese…eine Niederung.
    Früher war haGalil mal eine gute Adresse, ausgewogen intelligent und koscher. Schade um die Seite, wohin man auch rumliest
    gili

  7. …alle Beteiligten – Wahlfrauen und Wahlmänner – in der Bundesversammlung haben die Möglichkeit einer geheimen Wahl – jedoch ist zu befürchten, dass folgsam – wofür „die Deutschen“ nun einmal bekannt sind – in KLEINSTkreis DEMOKRATISCH Ausgegauckeltes eine Stimmenmehrheit finden wird.  …nun frage sich mancher, wie UNdemokratisch doch die russischen Präsidenten gewählt werden??? …aus der deutschen Reichstags-Glaskuppel traut man sich dann tatsächlich, mit Steinen kritisierend gen Osten zu werfen???

  8. Ignatz Bubis war klug und weitsichtig genug eine Kandidatur abzulehnen.  Der in dieser Republik weit verbreitete Antisemitismus und der braune Mob, hätte pausenlos intrigiert und diskreditiert. Es ist schon merkwürdig, daß in bestimmten Fällen die Zugehörigkeit zu einer Konfession eine Rolle spielt.  Es gibt in Deutschland gleichviel Protestanten wie Katholiken. Dennoch wird Kirche mit katholischer Kirche gleichgesetzt. Es wird haerausgehoben, daß Merkel, Gauck oder Eppelmann evangelische Pfarrer bzw. aus einem Pfarrhaushalt kamen und es doch nichts Schlimmeres geben könnte.  Woran liegt das ? Manches in dieser Republik ist befemdlich und äußerst merkwürdig. Über einen katholischen Ministerpräsidenten  würde keiner ein Wort verlieren.

  9. Ignatz Bubis tat gut daran, sich nicht als Kandidat aufstellen zu lassen, dafür muss man ihn wirklich loben. Leider hat Beate Klarsfeld nicht seine weisheit geerbt. Denn Deutschland ist noch lange nicht so weit, dass ein Jude Bundespräsident werden könnte. Und schon gar nicht, würde der in direkter Wahl vom Volke in sein Amt gewählt.
     
    Denn wenn die Juden allenfalls zwei Promille der Bevölkerung in Deutschland stellen, dann sollte die Wahrscheinlichkeit, dass ein Jude Bundespräsident wird, ebenfalls nicht grösser sein. Das heisst also, im Durchschnitt alle 2000 Jahre ein jüdischer Bundespräsident wäre angemessen, alles andere eine Anmassung.
     
    Im Jahre des HErrn 4012 wäre also der erste jüdische Bundespräsident zu erwarten. Wenn es dann überhaupt noch Juden gibt in Deutschland. Wenn es Deutschland dann überhaupt noch gibt.

     

    • Beate Klarsfeld ist nicht Jüdin, soweit ich weiß, ist sie nicht konvertiert!
      Im übrigen haben wir offen schwule Politiker, da hieß es auch immer, das sei in D. nicht möglich.
      Selbstverständlich ist hier ein jüdischer Bundespräsident, Kanzler oder was auch immer möglich!
      Mir wäre es ziemlich egal, denn ich schaue auf die Inhalte, die jemand vertritt und wie er die umsetzt! Drum bin ich auch kein Freund von Herrn Gauck, der nur schmalspurige Themen vertritt und Leute, mit denen er nichts am Hut hat, zuallererst mit Invektiven bedenkt!

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