Chazak we Emaz – Stark und Mutig!

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Die jüdische Nachkriegsgemeinde Passau…

Von Jim G. Tobias

Es war ein sonniger Frühlingstag im Mai 1947: Ein langer Demonstrationszug zieht durch die Altstadt von Passau. An der Spitze marschiert ein Standartenträger mit einer blau-weißen Fahne. In der Mitte prangt ein großer Davidstern, der von hebräischen Schriftzeichen umrahmt ist. „Jüdische Gemeinde Passau“ ist dort zu lesen. Die weit über hundert Juden erinnern mit ihrem Aufzug an die Liquidation des jüdischen Ghettos der polnischen Stadt Kielce und an die Ermordung der letzten 46 Kinder im Mai 1943.

Vermutlich vom 9. bis zum 15. Jahrhundert lebten Juden in Passau. Obwohl diese Zeit von den üblichen mittelalterlichen Ausgrenzungen und Verfolgungen geprägt war, entstand eine jüdische Gemeinde mit eigener Synagoge und Mikwe. Nach einer angeblichen Hostienschändung und dem „Passauer Judenmordprozess“ von 1478 wurden die Juden erschlagen oder aus der Stadt vertrieben und ihre Synagoge zerstört. Erst nach rund 400 Jahren siedelten sich erneut Juden in Passau an. Diese kleine Gruppe bildet jedoch keine eigene Gemeinschaft, sondern gehört zur jüdischen Gemeinde in Straubing. Nach der „Machtübernahme“ Hitlers verließen immer mehr Juden die Stadt. Schon am 31. August 1935 kam es zu antisemitischen Ausschreitungen. 1938 war Passau dann praktisch „judenfrei“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte keiner der einst dort lebenden Juden zurück. Dennoch siedelten sich ab Sommer 1945 befreite KZ-Häftlinge und Juden aus Osteuropa, deren Leben in ihren Heimatländern bedroht war, in der Stadt an. Diese Displaced Persons (DP) – zu Deutsch etwa: Entwurzelte und verschleppte Menschen – schlossen sich zu einer Gemeinde zusammen. Ihr Aufenthalt war jedoch nicht auf Dauer angelegt. In zahlreichen niederbayerischen Städten bildeten sich temporäre DP-Gemeinschaften, wie etwa in Vilshofen, Eggenfelden oder Geiselhöring. Zudem entstanden in Pocking und Deggendorf große Auffanglager für jüdische DPs, mit mehreren tausend Bewohnern. Insgesamt lebten in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahezu 200.000 Juden in Westdeutschland, die auf eine Emigration nach Palästina/Israel, in die USA oder andere klassische Auswanderungsländer warteten.


Hotel Deutscher Kaiser: Verwaltungssitz und kulturelles Zentrum der Jüdischen Gemeinde Passau

In Passau lässt sich nachweisen, dass bis zu 280 Juden in Wohnungen oder Häusern untergebracht waren, die ihnen von der US-Besatzungsmacht zugewiesen wurden. Grundlage dieser Zwangseinquartierung war eine Verfügung des US-Präsidenten. Schon 1945 hatten sich die zumeist aus Polen stammenden Flüchtlinge zur „Jüdischen Gemeinde Passau“ zusammengeschlossen. Das Büro der demokratisch gewählten Verwaltung, unter Leitung von Josef Holländer, Joachim Wolf und Leon Wrobel befand sich im Hotel Deutscher Kaiser in der Bahnhofstr. 30. Dort fand auch das soziale, kulturelle und religiöse Leben statt. Unter der Parole „Chazak we Emaz“, seid stark und mutig, versammelten sich die zumeist zionistisch ausgerichteten Juden im Gastraum des Hotels und diskutierten über ihre Zukunft im noch nicht existierenden Staat Israel. Im Wirtshaus wurde auch Hebräisch-Unterricht angeboten, die zukünftige Muttersprache der Palästinasiedler. Sehnsüchtig warteten sie darauf, endlich dorthin zu fahren. Doch der eigene Staat wurde erst im Mai 1948 Realität. Viele nutzten deshalb die Zeit und besuchten handwerkliche Kurse an der jüdischen Berufsschule in der Stadt. Andere ließen sich zu Landwirten ausbilden. Am Rande der Stadt, im Söldenpeterweg 19, war nämlich ab Herbst 1946 ein Trainingskibbuz entstanden. Auf diesem sogenannten Hachscharot-Kibbuz lernten die jungen Leute den Anbau von Gemüse und Früchten, um später in Israel als Bauern beim Aufbau des Staates mitzuhelfen. Die etwa 50 Mitglieder des Kibbuz Nocham gehörten der Organisation Noar Chaluzi Meuchad (dt.: Vereinigte Jugendpioniere) an.


Trauerzug der Jüdische Gemeinde Passau, Mai 1947

Die jüdische Gemeinde Passau setzte sich offensichtlich mehrheitlich aus polnischen Juden aus der Stadt und der Region Kielce zusammen. Bei dem eingangs erwähnten Trauermarsch waren zahlreiche Transparente zu sehen, die auf diese Herkunft hinweisen. „Oif ewig weln mir hejlign ejer Andenk – Kelzer Jidn“ war dort beispielsweise in jiddischer Sprache zu lesen. Nachdem der aufsehenerregende Demonstrationszug beendet war, versammelten sich die Juden im Passauer Rathaus zu einer abschließenden Gedenkveranstaltung. Unter dem Bild des Gründers der zionistischen Bewegung Theodor Herzl waren Transparente in englischer und jiddischer Sprache angebracht, die an das Leiden im Ghetto von Kielce und an die brutale Ermordung der jüdischen Männer, Frauen und Kinder erinnerten.


Gedenken an die ermordeten jüdischen Kinder im Passauer Rathaus

Gegen Ende der 1940er Jahre löste sich die Jüdische Gemeinde Passau auf. Zu welchem Zeitpunkt die letzten DPs die Stadt verlassen haben, ist nicht bekannt. Gemeindevorstand Josef Holländer machte sich jedenfalls im Juni 1949 mit Frau Josefa und der in Passau geborenen Tochter Rachel auf den Weg in den neugegründeten Staat Israel.

Fotos: Stadtarchiv Passau

3 Kommentare

  1. Ein noch weniger bekanntes und bisher unbearbeitetes Kapitel Passauer Stadt- und Sozialgeschichte wäre die Geschichte der Sinti und Roma der Dreiflüssestadt. Noch bis in die 1950er traten Bärenführer-Roma in Passau auf; über lange Zeit hindurch war die Stadt Durchgangsstation für Roma von und nach Österreich. Vor über einhundert Jahren wurden Sinti in Passau sesshaft.
     
    Ist denn zu diesem Thema in Ihrem Bistumsarchiv, noch nie etwas aufgetaucht, Herr Wurster? (Herr Dr. Wurster ist der Direktor des bischöflichen Archivs in Passau)

  2. Eine unglaubliche Ãœberraschung: Da kommt haGalil mit einer ebenso spannenden wie dramatischen Geschichte aus der Passauer Historie daher, von der bisher niemand der zahlreichen Historiker der Region, und auch die in Wettbewerben von Bundespräsidenten oder schulischer Recherchen je ein Wort hat verlauten lassen. Es ist eines der vielen Pasradestückl des seriösen Jim Tobias und seines „Nürnberger Instituts“ zur Erforschung jüdischer Geschichte und Gegenwart. Und es ist ein wichtiges Erinnerungsstück: Denn in Passau war es bislang verdrängt. Dabei gibt es im so gut geführten Stadtarchiv viele Bilder. In dem Beitrag fällt aber auf, dass nicht ein einziger der seinerzeit bedeutsamen, politisch, gesellschaftlich oder kulturell verantrwortlichen Passauer in Erscheinung tritt. Wie schon spätestens ab 1933, als die alteingesessenen Passauer Juden plötzlich sehr allein, weil sich mit ganz wenigen Ausnahmen auch vermeintliche Freunde und gute Nachbarn zurückzogen. Sie sahen sich vom Staat ebenso wie von fanatischen Nazis in ihrer Heimatstadt wirtschaftlich und sozial heftig bedrängt und all ihrer Rechte und ihres Eigentums beraubt. Sie waren psychisch bedroht, oftmals auf offener Straße bespuckt, beleidigt oder gar angegriffen. Und schließlich standen sie  gar vot der physischen Vernichtung. So schlimm erging es den Ãœberlebenden nach 1945 nicht – aber waren sie wirklich willkommen in der Stadt, in die offenbar keiner der einstigen jüdischen Altbürger mit geschriebenem „Heimathsrecht“ heimkehren wollte. Sicher, offen angegriffen wie vordem wurden die Ãœberlebenden selten. Aber spangen ihnen die Passauer Nachbarn bei? Jim Tobias´Bericht lässt daran zweifeln. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass eine heute in den USA lebende Passauerin, die nach langer innerer Prüfung 1953 einen US-Offizier geheiratet hatte, erst jüngst, nach dem Tode ihres mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichneten Mannes, erstmals offen über dessen Jüdischheit sprach -  immer noch nur vor engen Freunden!  

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