Rudolf Ekstein – Ein Eckstein des Mosaiks?

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Rudolf Ekstein – bis vor wenigen Jahren ein vollkommen unbekannter Name für mich, ebenso das mit dem Namen verbundene Leben und Werk. Seit 1999 bin ich als Lehrerin in Mosaikklassen Mitarbeiterin am Rudolf Ekstein Zentrum – ein überregionales Sonderpädagogisches Zentrum für Integrative Betreuungsformen in Wien…

Von Christine Kratochvil

Mosaikklassen sind das Schulmodell des Rudolf Ekstein Zentrums für Kinder mit besonderen Bedürfnissen im emotionalen, sozialen und psychischen Bereich in der Schuleingangsphase.

Schon bald nach Beginn dieser Tätigkeit stellte sich mir nicht nur die Frage, wer Rudolf Ekstein ist, sondern auch inwiefern er mit der Arbeit in der Mosaikklasse bzw. mit der im gesamten Zentrum gelebten Haltung zu tun hat bzw. haben könnte.

Viele Begegnungen und Gespräche mit KollegInnen aus dem LehrerInnen- und PsychagogInnenkreis waren von einer Haltung des Vertrauens, des Respekts, der Wertschätzung, der Echtheit und der Gesprächsbereitschaft begleitet.

Ist Ekstein ein Eckstein des Mosaik (- Modells)? Worin besteht das Verbindende, das Gemeinsame zwischen Rudolf Ekstein und den Mosaikklassen des Rudolf Ekstein Zentrums?

Rudolf Ekstein, 1912 als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren, emigrierte 1938 nach Amerika. Als Psychoanalytiker beschäftigte er sich v.a. mit psychotischen, autistischen und Borderline – Kindern. Er erarbeitete Konzepte zur Ausbildung und Supervision im psychologischen, pädagogischen sowie analytischen Bereich. Der Gedanke des Brückenbauens zwischen zwei Kontinenten, Sprachen und Kulturen, zwischen psychotherapeutischen Schulen, Psychoanalyse und Pädagogik, aber v.a. das Brückenbauen zwischen Menschen mit divergierenden Lebenswelten war und ist Eksteins großes Anliegen.

Das Zentrum trägt seit Mai 1998 den Namen Rudolf Eksteins. Durch die Wahl des Namens sollte ein erster Hinweis auf das dieser Arbeit zugrunde liegende Menschenbild und die Haltung der MitarbeiterInnen des Zentrums gegeben werden. Der Name „Rudolf Ekstein“ beinhaltete schon aus der Lebensgeschichte seines Trägers das absolute Bekenntnis zu den Menschenrechten und ihrer Verwirklichung.


Rudolf Ekstein und seine Frau Ruth im Eingang des nach ihm benannten Zentrums

E(c)kstein(e) des Mosaiks

Ein Mosaik ist keine durch mathematische Formeln festgelegte Figur. Es entsteht durch die Kreativität, die Hingabe und das Tun derer, die sich die Zeit für das Zusammensetzen der Einzelteile nehmen. Wie viele Ecksteine das Bild hat, ist vielleicht erst dann zu erkennen, wenn man es als Ganzes aus der Entfernung betrachtet. Es gibt keine zu erwartende Anzahl von Ecksteinen und wahrscheinlich zählt jeder Betrachter unterschiedlich viele.

Gespräche mit Personen über ihre Begegnungen mit Rudolf Ekstein und mein vertiefendes Studium der Primär- und Sekundärliteratur von und zu seiner Person und seiner Arbeit offenbarten mir einige Gedanken Eksteins, die sich mit meinen individuellen Gedanken und Reflexionen zur Pädagogik verknüpfen. Diese Einsichten und Erkenntnissen werden sichtbar: in den dem Modell zugrundeliegenden Konzeptionen und Werthaltungen, aber auch – und das erfüllt mich mit Zufriedenheit – in meiner Arbeit als Lehrerin einer Mosaikklasse.

Arbeitsfeld: „Gestörte“ Kinder

Eksteins Arbeit wie auch die Konzeption des Mosaikmodells gilt Kindern, die oftmals als gestört, nicht (er-)tragbar bezeichnet und ausgegrenzt werden. Durch die sogenannte Verhaltensstörung bringt das auffällige Kind seine Bedürfnisse und seine innerpersönlichen Konflikte zum Ausdruck. Nicht das Verhalten des Kindes ist „gestört“, sondern das Kind selbst fühlt sich zutiefst gestört – durch Bedingungen, die seine gesunde (Persönlichkeits-) Entwicklung nicht zulassen. Sein Verhalten ist nicht Aktion, sondern Reaktion und beweist eine gesunde Empfindung auf seiner Stufe der Entwicklung. Dieses Kind hat in seiner Entwicklung vieles zu leisten, will es sein ursprüngliches Streben nach Freiheit nicht zugunsten fragwürdiger, angepasster Verhaltensmuster aufgeben (vgl. Friedl 1997, S. 954ff). Ekstein versuchte stets diesen schwierigsten Kindern, den „situations of despair“,  „with activities of hope“ zu begegnen (Ekstein 1971a, zit. n. Oberläuter 1985, S. 81). In der Mosaikklasse wird dem So-Sein der Kinder größtmöglicher Respekt entgegengebracht. „Statt solche Kinder als Last und Störer eines normalen Erziehungsvorgangs zu empfinden, sollten wir sie lieber als verborgene Werte ansehen“ (Ekstein 1973, S. 239). Die Kinder geben uns die Chance zur Reaktion – zum Wahr- und Ernstnehmen ihrer Lebensbedingungen, ihrer Erziehungswirklichkeiten, ihrer Schulrealitäten und unserer oft widerspruchslos hingenommenen Lebensbedingungen; auch die Möglichkeit zu Veränderungen, sofern wir ihre Hinweise verstehen und uns als beständig Lernende begreifen.

Haltung: Beziehung, Kommunikation, Zeit

Meine Haltung gegenüber SchülerInnen, Eltern und KollegInnen wird oft als „therapeutisch“ bezeichnet. Ich bezeichne sie als eine pädagogische Haltung, die eigentlich eine zutiefst menschliche ist – gegenseitige Wertschätzung, Echtheit, Anerkennung, Vertrauen. Die Entwicklung von Selbst- und Sozialkompetenz bedarf dieser respektvollen, von Kongruenz gekennzeichneten und an den individuellen Ressourcen orientierten Begleitung und Beziehung. Auch Eksteins Haltung war stets patientenorientiert und vom Bemühen um das Verstehen der Kinder gekennzeichnet (vgl. Oberläuter 1985, S.81, S.89). „Da war einmal das Einfühlungsvermögen in kranke Kinder und Eksteins therapeutisches Geschick, andererseits die Haltung, Probleme nicht als Anlass zu Resignation, sondern als Herausforderung anzusehen“ (Oberläuter 1985, S.81). Bei der Arbeit in der Mosaikklasse steht jedes Kind mit seinen Bedürfnissen, seiner Geschichte und seinen Gefühlen im Mittelpunkt. Das Bemühen und der Versuch, jedes Kind zu verstehen, stellen oft eine große Herausforderung dar. Gefundene Erklärungsmodelle und Lösungsansätze müssen von den LehrerInnen immer wieder hypothetisiert, reflektiert und auch in Frage gestellt werden. Völlig neue Wege der Kommunikation müssen gesucht werden. Das In-Frage-Stellen gewonnener Einsichten, das Finden unkonventioneller Herangehensweisen, der Mut, „unmögliche“ Fragen zu stellen, jedem in seiner Sprache zu begegnen, charakterisieren auch Eksteins Arbeitsweisen (vgl. Oberläuter 1985, S. 88, S. 141, S. 143). “In the beginning it was trial and error. Much what I had learned in the past, I had to forget“ (Ekstein 1972d, zit. n. Oberläuter 1985, S.81). Die Arbeit in der Mosaikklasse erinnert mich immer wieder an die Vorgangsweise von Archäologen – behutsam, in vielen kleinen Schritten entdecken wir gemeinsam mit den Kindern neue und verloren geglaubte Mosaikteilchen in uns selbst wieder – sowohl die Kinder als auch die LehrerInnen,  „[…] more search than research“ (Ekstein/Nelson 1981b, zit. n. Kaufhold 2001, S. 111). Der Faktor Zeit spielt sowohl in der psychoanalytischen Behandlung als auch in der Arbeit mit Mosaikkindern eine bedeutsame Rolle. „Zeit ist das Geheimnis jeder Therapie“ (Ekstein, zit. n. Wiesse 1994, S. 181). Zeit ist auch das Geheimnis pädagogischer Arbeit. Die Zeit in der Mosaikklasse ist begrenzt. Manchen Kindern würden wir gern mehr zur Verfügung stellen. Aber drei Jahre Mosaikklasse bedeuten drei Jahre Zeit für individuelle, intensive Entwicklungsprozesse, drei Jahre verlässliche Beziehung. Ein Mehr an Bedingungen findet Ausdruck in einem Mehr an Möglichkeiten.

Lernen

Eksteins Überlegungen zum schulischen Lernprozess lassen sich durch seine Worte zusammenfassen: „from learning for love to learning of love“ (vgl. Oberläuter 1985, S.217). Das Angebot, das Wahrnehmen und das Erleben der verlässlichen Beziehung ist Voraussetzung für kognitives Lernen. Lernen kann nur stattfinden, wenn der Schüler sich nicht bedroht fühlt. Wenn das Kind Vertrauen in sein Angenommen-Sein hat, kann es einen tragfähigen, positiven Selbstwert entwickeln. Ein gesundes Maß an Ich-Stärke ermöglicht Mut zu den eigenen Fähigkeiten und damit individuelle Lernprozesse auch im schulischen Sinn. Eksteins Pädagogik  ist eine Pädagogik für das Kind, die sich nicht nur an Leistungsanforderungen und didaktischer Wissensvermittlung, sondern an der gesamten Charakterbildung orientiert. Das Entwicklungsalter des Kindes, wahrnehmbar in seinen Bedürfnissen, ist der Ausgangspunkt pädagogischen Handelns (vgl. Oberläuter 1985, S. 218).

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Ekstein fordert  eine Zusammenarbeit von LehrerInnen, PsychotherapeutInnen, SozialarbeiterInnen, … im Sinne einer gleichberechtigten Verknüpfung von Unterricht und Therapie, unter Respektierung der jeweils anderen Kompetenzen (vgl. Ekstein 1973, S. 228ff). „Erziehung und Psychotherapie sind für solche Kinder zwei Aspekte, von denen keiner den anderen ersetzen kann. Jeder dieser beiden kann nur erfolgreich sein, wenn der andere nicht vernachlässigt wird. Lehrer und Psychotherapeuten werden einander am besten helfen, wenn jeder den Unterschied in der Tätigkeit des anderen als eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit akzeptiert“ (Ekstein 1973, S.239f). Die respektvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit (PsychagogInnen, SozialpädagogInnen, ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, PsychologInnen, …) zählt zu den Bedingungen/Prinzipien des Mosaikmodells.

Selbsterfahrung für LehrerInnen

Pädagogische Kompetenz besteht für Ekstein in der Bereitschaft, sich als LehrerIn an individuellen Bedürfnissen als Ausdruck des Entwicklungsalters zu orientieren und in der Fähigkeit, den Prozess mit dem Ziel „love of learning“ zu initiieren. Eine stabile Persönlichkeitsstruktur des Lehrers/der Lehrerin ist die Voraussetzung dieser schülerorientierten Pädagogik (vgl. Oberläuter 1985, S. 224f). Ekstein fordert „second education of teachers“ (Ekstein 1969, zit. n. Oberläuter 1985, S.225) und betont damit die Notwendigkeit der Bereitschaft der LehrerInnen, sich selbst noch einmal und immer wieder als Lernende zu erleben. Der Einfluss der eigenen Lebens- und Lerngeschichte auf das pädagogische Handeln ist groß, und erst die wiederholte Selbsterfahrung führt zur Integration von Wissen und Können. Die Reflexion des eigenen beruflichen Selbstverständnisses ist somit für pädagogisches Arbeiten unumgänglich. MosaikklassenlehrerInnen gewährleisten die Qualität ihrer Arbeit durch Supervision im Einzel- oder Teamsetting, die Teilnahme an einer selbstinitiierten Balintgruppe wird als zusätzliche Möglichkeit zur Selbstreflexion wahrgenommen.

Für mich bedeutet Ekstein, seine Person und sein Werk, mehr als lediglich einen Eckstein des Mosaiks.

Dem vorliegenden Text habe ich exemplarisch fünf Ekstein-Ecksteine der Mosaikklassenarbeit zugrunde gelegt, Gedanken-Bausteine wie der des Brückenbauens, des politischen Handelns, der gelebten Demokratie äußern sich – wie ich hoffe – dennoch in meiner Arbeit.

Themenschwerpunkt Rudolf Ekstein

Zur Autorin:

Dipl. Päd. Christine Kratochvil, M.Ed
Psychagogin & Ambulante Mosaiklehrerin

Literatur

Ekstein, Rudolf (1973): Grenzfallkinder. Klinische Studien über die psychoanalytische Behandlung von schwerst gestörten Kindern. – München: Ernst Reinhardt Verlag, 1973.
Friedl, Dagmar (1997): Gestörte Kinder – eine Verteidigung. In: Erziehung und Unterricht. Österreichische Pädagogische Zeitschrift. Heft 9, S. 954-958. – Wien: ÖBV, 1997.
Kaufhold, Roland (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytische Bewegung. – Gießen: Psychosozial-Verlag, 2001.
Oberläuter, Dorothea (1985): Rudolf Ekstein – Leben und Werk. Kontinuität und Wandel in der Lebensgeschichte eines Psychoanalytikers. – Wien; Salzburg: Verlag Geyer Edition, 1985.
Wiesse, Jörg (Hg.) (1994): Rudolf Ekstein und die Psychoanalyse. Schriften. – Götting; Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994.

Weitere Informationen zum Modell Mosaik:

Rudolf Ekstein Zentrum

Dieser Artikel ist zuvor erschienen in: Tuschel, Gerhard; Felsleitner, Richard (Hg.): „miteinander“ – Integrative Modelle im Wiener Schulwesen, S.201-206. – Wien: Echomedia Verlag, 2005.