Orthodoxe Bevormundung: Leben und leben lassen

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Unsere Nerven liegen blank. Die Anderen, verlangen wir, sollen draußen bleiben und sich raushalten. Frauen sagen: Haltet euch bei unserem Uterus heraus; die Rabbis legen fest: Bleibt draußen, wenn Frauen singen. Die Ultraorthodoxen rufen: Bleibt draußen aus unserem Viertel. Und die Säkularen fordern: Haltet euch aus unserem Leben heraus. Und Ashkenasim und Sephardim, Siedler und Linke, Magnaten und soziale Aktivisten wurden hier noch gar nicht erwähnt…

Von Avi Rath

Auch im Bereich der Thora-Lehre gibt es große Spannungen. Jeder noch so kleine Kommentar zieht leidenschaftliche Reaktionen nach sich. Jeder Gedanke, der ein wenig anders ist, wird als Blasphemie angesehen, jeder Wunsch danach, etwas zu ändern, wird gleich zur Reform, und jede Bestrebung nach ein bisschen mehr Komplexität wird als unjüdisch gebrandmarkt.

Rabbis und Studierende, hochrangige Offizielle und weniger wichtige Persönlichkeiten, die Lauten und die Leisen – entspannt euch! Genauso, wie es eine Mitzwa gibt, sich einzumischen, ist es auch manchmal eine Mitzwa, gar nichts zu sagen. Es besteht keine Notwenigkeit, für jede Angelegenheit sofort ein religiöses Edikt zu erlassen und damit alle, die sich nicht daran halten, zu Ungläubigen und Sündern zu machen. Nicht jedes Thema muss harsche und unzweideutige Antworten nach sich ziehen, als könnte es nicht auch eine andere Wahrheit geben. So wie auch nicht jede Torheit gleichbedeutend mit „Kultur“, „Modernismus“, oder „Aufklärung“ ist.

Religiöse Spannungen sind, innerhalb des größeren Kreises israelischer Spannungen im Allgemeinen, das letzte, was wir jetzt brauchen. Die israelische Öffentlichkeit spricht so oft von Toleranz, doch in der Realität kann sie andere nicht tolerieren. Wir sprechen häufig von Liebe, doch in der Realität produzieren wir Hass. Es ist genug, den Stil der zahlreichen Talkbacks im Internet zu sehen, um zu verstehen, wie viel Boshaftigkeit, Kleinlichkeit und Hass unter der Oberfläche und in unseren Tastaturen schlummern.
Vielleicht ist dies die richtige Zeit für ein Schlummerstündchen, eine Auszeit, einen Waffenstillstand, irgendetwas in der Art. Die Rabbis müssen nicht sofort auf alles reagieren und entschieden und um jeden Preis Recht sprechen. Journalisten müssen nicht jedes kleine Thema zu einer riesigen Sache aufblasen, um mehr Leser anzuziehen. Richter müssen sich nicht in jedes Treffen und jedes Thema einmischen, Linke müssen sich nicht jedes Mal einmischen, wenn ein neuer Wohnwagen irgendwo in den Gebieten aufgestellt wird. Und Rechte müssen sich nicht in das Repertoire unseres Nationaltheaters einmischen.

In der modernen Welt, wo der Slogan „Leben und leben lassen“ für viele Lebensmotto ist, versucht das Individuum seinen Platz und seine Freiheit zu finden und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Es will, dass wir uns aus seinem Leben raushalten. Man kann darüber streiten, ob dieser Slogan moralisch ist, doch eines ist sicher: es ist die Lebensbedingung, nach der sich die meisten Menschen sehnen, und wir sollten das respektieren.
Ich fühle, dass die Haut der Israelis immer dünner wird. Obwohl es einen danach drängt anzugreifen, leidenschaftlichen Eifer zu zeigen und zu beweisen, dass die anderen im Unrecht sind, müssen unsere Meinungsmacher, Politiker und Anführer mehr soziale, spirituelle und pädagogische Verantwortung zeigen. Anstelle, immer danach zu sehen, wer draußen bleiben soll, sollte ihr Ziel sein, Menschen zu integrieren. Anstelle von Radikalisierung sollten sie nach Kompromissen suchen, und anstelle von wachsender Strenge sollten sie nach Minderung trachten. Die echte Weisheit ist es, wie immer, nicht nur Recht zu haben, sondern auch schlau zu sein.

Dies ist eine notwendige Mission, und Ausnahmen sind nicht möglich. In diesem Krieg gibt es nicht die Guten und die Schlechten. Es gibt nur kurzfristige Gewinner und langfristige Verlierer.

Ynet, 12.02.11, im Newsletter der israelischen Botschaft veröffentlichte Kommentare geben nicht grundsätzlich den Standpunkt der israelischen Regierung wieder, sondern bieten einen Einblick in die politische Diskussion in Israel.

2 Kommentare

  1. Avi Rath,
    Dir hat G.tt echt eine schöne Sprache gegeben! Was mir fehlt, ist die Friede der friedenssüchtigen Araber. Alle Palästinenser könnten wenn sie wollen israelische Staatsbürger sein, außerdem arbeiten die Intellektuellen Palästinenser gerne mit Intellektuellen Israelis zusammen. Überall gibt es schlechte Menschen. Auch bei uns Juden. Es ist schade, dass der Mensch überhaupt der Thora zuwiderhandelt. Im Angesicht der weltweit wieder aufgeflammten Antisemitismus ist mir leider in den Sinn gekommen; ich möchte nicht der Hiob der Gaskammern werden.
    Mit Martin Buber zu sprechen, den alle so gerne zitieren.Es ist auch nicht zu vergessen, wieviel Mühe Israel mit den in das Land strömenden Russen hat, die ganz ohne moralischen Äthik unter einem Diktatur lebten. Wünsche uns das Licht der Chanuka!
    Das ich Dir ebenfalls wünsche.Sprich mit allen Engeln des Himmels, sie müsen uns so lieben wie wir sind. Ob ein Mensch Palästinenser ist oder Israeli.
    Unser Wundergläubiges Volk ist selbst ein Wunder; Es gibt uns noch immer…

    Shalom,
    Zsóka C. Deborah

  2. „Richter müssen sich nicht in jedes Treffen und jedes Thema einmischen, Linke müssen sich nicht jedes Mal einmischen, wenn ein neuer Wohnwagen irgendwo in den Gebieten aufgestellt wird. Und Rechte müssen sich nicht in das Repertoire unseres Nationaltheaters einmischen.“

    Genau – wenn Richter und Linke endlich aufhören, Verbrechen zuverurteilen und anzuprängern – dann kann doch wenigstens die Rechte mal ein weltoffenes Stück im Theater zulassen ..

    „Anstelle, immer danach zu sehen, wer draußen bleiben soll, sollte ihr Ziel sein, Menschen zu integrieren. Anstelle von Radikalisierung sollten sie nach Kompromissen suchen, und anstelle von wachsender Strenge sollten sie nach Minderung trachten.“

    Völlig richtig .. und das gilt auch für Vergewaltiger, Drogendealer, Diebe und Mörder! .. nicht immer gleich ausgrenzen. Sprecht mit ihnen – habt sie lieb – sie sind auch ein Teil des Volkes.

    Danke. Einfach herrlich. 

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