Vor 100 Jahren: Pogrome in Süd-Wales

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Im August 1911 kam es in Süd-Wales zu antijüdischen Ausschreitungen. In Tredegar und anderen umliegenden Städten wurden jüdische Geschäfte von einem wütenden Arbeiter-Mob geplündert und zerstört. Bis heute gibt es in der historischen Forschung Fragen zu den Gründen der Ereignisse. Im Folgenden wird eine zeitgenössische Diskussion in der Zeitschrift „Ost und West“ dokumentiert. Ausmaß und Bedeutung der pogromartigen Ausschreitungen wurden dabei sehr unterschiedlich bewertet…

DIE POGROME IN SUED-WALES.
Ihre Ursachen und Wirkungen.

(Von unserem Londoner Mitarbeiter.)

Ost und West, Heft 10, Okotber 1911

Politische Beobachter haben schon vor längerer Zeit den langsamen aber sicheren Einzug des Antisemitismus in England als traurige Tatsache festgestellt. Sein erstes Lebenszeichen war die Alienbill, die leider von manchen führenden Juden selbst befürwortet wurde. Heute geben massgebende englische Politiker zu, dass sie hauptsächlich gegen die osteuropäischen Juden gerichtet war. Ein halbes Jahrzehnt blieb dann die antisemitische Bewegung stationär und erst nach dem Abschluss der anglo-russischen Entente, von der man sich eine Verbesserung der Lage der russischen Juden versprochen hatte, kam sie wieder rascher vorwärts ….

Auch in Frankreich ist ja der Antisemitismus bald nach dem Abschluss der franko-russischen Allianz ausgebrochen. Die französischen Schriftsteller jener Zeit berichten in aller Naivität, wie russische Grosswürdenträger in den Pariser Salons, russische Militärs ihren französischen Kameraden und russische Diplomaten ihren französischen Kollegen das antisemitische Evangelium verkündeten und so lange „im Stillen wirkten“, bis sie eine richtige antisemitische Epidemie hervorriefen. Bald darauf gab es die Dreyfuss-Affäre  ….

Russland will eben nicht als das einzige Pogromland dastehen, es will seine eigene Pogrompolitik rechtfertigen und hat daher ein Interesse daran, Pogrome in anderen Ländern möglich zu machen. Ausserdem war gerade England bis heute der einzige und letzte Zufluchtsort der russischen Freiheitskämpfer. Russland aber liegt daran, die russischen Revolutionäre zu kompromittieren und ihnen ihre letzte Zufluchtsstätte zu nehmen. Darum lässt es in Europa verkünden, dass die meisten Revolutionäre Juden sind ….

An einem kalten Dezembermorgen überfallen fünf russische „Revolutionäre“ drei Londoner Polizisten in Houndsditch und knallen sie nieder. Natürlich mussten die Mörder „jüdische Revolutionäre“ sein. Die naiven Engländer, die sich in Russlands Intriguen wenig auskennen, stellen das Gegenteil fest. Der Hospitalsarzt, ein englischer Christ, erklärt, dass der tot aufgefundene Mörder kein Jude, sondern ein slawischer Christ sei. Mittlerweile aber regt eine russische Dame der hohen Gesellschaft in den „Times“ an, dass „England den jüdischen Revolutionären und Mördern aus Russland seine Tür verschliessen möge“. Die ganze konservative Presse nimmt von dieser Anregung Notiz und leitet eine Hetze gegen die russischen Juden ein, die eine wahre Pogromstimmung heraufbeschwört. Die Juden im East-End leben in Angst. Wochenlang dauert diese Presshetze ….

Im Jahre 1906 veröffentlichten die „Humanité“ und der „Cri de Paris“ die Liste derjenigen Pariser Blätter, die von der russischen Regierung für das Verschweigen der Pogrome und für die Agitation für die russische Zwei-Milliarden-Anleihe besoldet worden waren. DieSumme belief sich auf rund vier Millionen Francs …. Jedes grössere französische Blatt erhielt von 40.000 bis 200.000 Francs. Vielleicht erfahren wir auch demnächst den Betrag, den die russische Regierung für ähnliche Zwecke in England ausbezahlt hat …. Solche Dinge pflegen ja nicht lange Geheimnis zu bleiben.

Im Laufe der langen Untersuchung wegen des Hounsditcher Mordes stellte sich heraus, dass kein einziger der Beschuldigten ein Jude war. Uebrigens mussten alle aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Zwei von ihnen, russische Christen, sind im berühmten „Sidney-Street-Kampf“ gefallen. Der eigentliche Mörder und Anstifter, „Peter der Maler“, konnte nie dingfest gemacht werden und spaziert wahrscheinlich noch heute im Londoner Westend als Gentleman-Spion herum. in Londoner massgebenden Kreisen sprach man offen von einer gegen Juden und Revolutionäre gerichteten Provokation der russischen Regierung. Und heute weiss jeder gebildete Engländer, was er über den Fall Houndsditch zu denken hat.

Als der allzu plumpe Streich dermassen misslungen war, kam plötzlich wieder etwas anderes. Eines schönen Morgens bekamen die Engländer in den „Times“, „der ersten Zeitung-Europas“, zu lesen, dass die türkischen Juden die armenischen Metzeleien und albanischen Unterdrückungen auf dem Gewissen hätten und dass sie allein für das in der Türkei seit Jahren vergossene Blut verantwortlich seien. Der Konstantinopeler und der Wiener „Times“-Korrespondent waren die Verfasser des merkwürdigen Artikels. Freilich entdeckte nun die liberale Presse, und insbesondere die „Daily News“, dass hinter diesen zwei Korrespondenten der Dragoman an der englischen Botschaft in Konstantinopel, Fitzmaurice, steht, der zu der russischen Botschaft in Konstantinopel gute Beziehungen unterhält…. Aber die „Times“ liessen sich nicht anfechten, sondern setzen ihre Arbeit ruhig fort. Seit ungefähr zwei Monaten drucken sie tagtäglich die niederträchtigsten Verleumdungsartikel über die türkischen Juden. Alle Proteste und Gegenbeweise des Dr. Gaster, des gelehrten Chachams der sephardischen Gemeinde in London, der Salonikier jüdischen Gemeinde und der „Alliance Israélite Universelle“, die dokumentarisch nachwies, dass die gegen die türkischen Juden gerichteten Beschuldigungen Lügengewebe seien, nützten wenig oder nichts. Nachdem sie alle Erwiderungen veröffentlicht hatten, nahmen die „Times“ in einem langen redaktionellen Artikel selbst zu der Frage Stellung und — bestätigten, ohne auf die Erwiderungen einzugehen, die Verleumdungen ihrer Wiener und Konstantinopeler Korrespondenten. Es half auch nichts, als die Wiener „Zeit“, auf die sich der „Times“-Korrespondent in seinen Anklagen gegen die Juden berufen hatte, telegraphisch verbreitete, dass der „Times“-Mann ihr Worte unterschoben, die sie niemals gebrauchte, und Artikel zitiert habe, die niemals in der „Zeit“ gedruckt waren. Die „Times“-Redaktion war weiter unverschämt genug, die antisemitischen Märchen ihrer sehr zweifelhaften Hintermänner für Tatsachen auszugeben.

Und der Zweck dieser „Times“-Kampagne, dieser an Stöcker und Drumond gemahnenden Anschuldigung, dass die türkischen Juden Volk gegen Volk hetzen, um daraus ökonomische Vorteile zu ziehen? Nun, ganz einfach, man wollte, da der Antisemitismus in England doch noch nicht so fortgeschritten ist, als dass sich eine Zeitung wie die „Times“ erlauben könnte, offen gegen die Juden schlechthin zu hetzen, auf dem Umwege über die „türkischen Juden“ die ganze jüdische Gesamtheit treffen. Und wirklich fanden sich ja auch bald genug griechische und andere Schmarotzer, die in den „Times“ die Beschuldigungen gegen die türkischen Juden bestätigten und so nebenbei die Juden als Gesamtheit befehdeten.

Natürlich nahm die ganze englische Presse von dem antisemitischen Feldzug der „Times“ Notiz, — entweder zustimmend oder widersprechend…….. Dabei sprach es sich ordentlich herum, dass die Juden Betrüger sind, die Völker gegen einander verhetzen, um sich selbst zu bereichern, vaterlandslos sind und nur auf ihre eigenen Interessen achten. Und da die Stimmung, die die Hounsditch-Affäre hervorgerufen hatte, noch nachzitterte, insbesondere in den untersten Volksschichten, gab das Treiben der „Times“ der judenfeindlichen Bewegung einen neuen Anstoss, und ist so für die Vorkommnisse in Wales mitverantwortlich.

Freilich haben diese auch noch andere Ursachen. Es ist viel bemerkt worden, dass die Pogrome in fünf verschiedenen Städten gleichzeitig ausbrachen und dreimal wiederholt wurden. Ebenso, dass die Plünderer nur jüdische Läden heraussuchten und demolierten, obwohl sich diese nicht alle im selben Viertel befanden, sondern über verschiedene Distrikte zerstreut waren. Auch sind die Juden in Tredegar und in anderen Städten mehrfach vor den bevorstehenden Plünderungen gewarnt worden. Das ist eine Tatsache, die anlässlich der ersten Vernehmungen in den von den Pogromen heimgesuchten Städten von vielen Personen eidlich bekundet wurde. Aus alledem aber geht hervor, dass die Pogrome in Süd-Wales von langer Hand vorbereitet und organisiert waren.

Dass nicht die Bevölkerung von Süd-Wales selbst für die Pogrome verantwortlich gemacht werden kann, geht schon aus ihrer Stellungnahme zu den Pogromen hervor. In allen Orten, wo Judenplünderungen stattfanden, wurden Protestmeetings abgehalten und einstimmig Resolutionen angenommen, in denen die Ausschreitungen in den schärfsten Ausdrücken verurteilt werden. An diesen Protestmeetings, die von der christlichen Bürgerschaft organisiert waren, beteiligten sich alle Parteien, von den Ultra-Konservativen bis zu den extrem Linken. Auch erklärten sich die lokalen Behörden bereit, den Juden einen Teil des erlittenen Schadens zu ersetzen, wiewohl sie dazu rechtlich gar nicht verhalten werden können. Der Schaden beläuft sich auf mehr als zwei Millionen Mark. Den grösseren Teil dieser Summe werden die christlichen Steuerzahler freiwillig aufbringen.

Wenn es aber noch eines Beweises bedarf, dass die Pogrome in Süd-Wales von einer gewissen Diplomatie und nicht von der lokalen Bevölkerung ausgingen und dass sie von langer Hand vorbereitet waren, so liefern ihn die Kommentare derjenigen englischen Blätter, die gute Beziehungen zur russischen Botschaft in London unterhalten. Die „Times“ z. B., statt die Pogrome zu verurteilen, waren niederträchtig genug, sie aus den Verhältnissen in Süd-Wales zu erklären. Die Juden hätten durch ihre gewissenlose Ausbeutung der Bevölkerung die Pogrome selbst verschuldet. Also ganz nach dem Muster der russischen Regierungspresse, die ja die Pogrome auch mit dem Hinweis auf das ökonomische Ausbeutungswerk der Juden zu rechtfertigen suchte. . . . Wieviel Wahrheit übrigens in diesen Beschuldigungen steckt, ist daraus zu ersehen, dass amtlichen Angaben gemäss die kleinen, von den Pogromen heimgesuchten Judengemeinden keinerlei wirtschaftliche Rolle spielen und dass die meisten Mitglieder der Gemeinden sich schlecht und recht vom Kleinhandel nähren. Nur wenige jüdische Familien in Süd-Wales haben es nach vierzigjähriger Arbeit zu einem kleinbürgerlichen Wohlstand gebracht. Die überwiegende Mehrzahl ist arm. Man bedenke auch noch, dass der Mob die Läden in fünf jüdischen Gemeinden in einem mehrtägigen Vernichtungswerk total ausplünderte und der Schaden doch nicht mehr als zwei Millionen Mark beträgt. Dabei war der grössere Teil der geplünderten Ware nicht einmal Eigentum der Juden, sondern entweder Kommissionsware oder wenigstens auf Kredit genommen. So sieht der Reichtum der Süd-Waleser Juden aus!

Soweit die Ursachen der Pogrome. Betrachten wir nun kurz ihre voraussichtlichen moralischen und konkreten Wirkungen!

England ist ein Land, in dem sich jeder Präzedenzfall bald zur Tradition verdichtet, wie sich ja auch der grösste Teil des englischen Rechts auf Präzedenzfällen aufbaut. Bisher war kein Pogrom in England möglich, weil es keine diesbezügliche Tradition gab. Nun ist es leider dank den Bemühungen einer gewissen Diplomatie und einer gewissen Presse anders geworden. Die Bedeutung der Pogrome in Süd-Wales besteht nämlich nicht darin, dass fünf kleine Judengemeinden ökonomisch ruiniert worden sind, sondern darin, dass ein Präzedenzfall geschaffen ist …. Die Tatsache, dass in England ein Pogrom stattgefunden hat, ist das grösste Unglück, das die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts treffen konnte. England galt bisher als das Land der Freiheit und der religiösen Toleranz. Neben Italien war es das einzige Land der Welt, in dem die Judenemanzipation ganz durchgeführt war. Und jetzt plötzlich ein Beispiel für Pogrome! . . . Die „Nowoje Wremia“ und mit ihr die ganze russische Regierungspresse jubeln denn auch. Wenn sich russische Staatsmänner bis jetzt vor England geschämt haben, jetzt haben sie es nicht mehr nötig! …

Judenpogrome wirken überall demoralisierend auf das Volk. Man konnte das am besten in Russland sehen. Derjenige Teil der Bevölkerung, der sonst gar kein Verhältnis zum Judentum hat und sich um die Judenfrage gar nicht kümmert, wird aufmerksam und ist, da er gewöhnlich dem Einfluss einer korrupten Presse ausgesetzt ist, gar bald geneigt, die Pogrome mehr oder weniger zu rechtfertigen. In England kommt noch dazu, dass der nationalstolze Engländer nie zugeben wird, dass englische Arbeiter ohne Grund und Ursache unschuldige Bürger überfallen und ausrauben. . . . Also müssen es die Leute verdient haben…. Und so wird der Pogrom selbst, wenn auch künstlich, erzeugt, zur Quelle des Judenhasses werden. Der Antisemitismus aber bedeutet, nach der übereinstimmenden Meinung der massgebenden Männer der Politik und Wissenschaft im Lande, in England etwas weit Schlimmeres für die Juden als z. B. in Deutschland, denn keine englische Regierung, ob konservativ oder liberal, kann gegen die Volksmeinung regieren und das Volk besitzt eine absolute Kontrolle über die Regierung. Selbst in den achtziger Jahren, als die Wogen des deutschen Antisemitismus hochgingen, hat die deutsche Regierung mehr oder weniger ihre Reserve bewahrt und nicht in allem dem Mob nachgegeben. In England ist so etwas einfach unmöglich.

Leider beweisen die englischen Juden, resp. ihre Führer, — deren „englisch-nationaler“ Stolz es ihnen nicht erlaubt, zuzugeben, dass die Pogrome in Süd-Wales wirklich gegen die Juden gerichtet waren, wiewohl ja drei Tage hintereinander an fünf verschiedenen Orten nur jüdische Läden geplündert wurden, und wiewohl die gesamte englische Presse von „Jewish Pogroms“ sprach, — dass sie der jetzigen Situation wenig gewachsen sind. Die „Jewish Chronicle“ hat die geradezu lächerliche Stellung, die die Führer der englischen Judenheit zu den Pogromen in Süd-Wales einnehmen, richtig gekennzeichnet, als sie diese Männer mit jener Grossmutter verglich, die wohl weiss, dass ihr Enkel in den letzten Atemzügen liegt und doch den Arzt anfleht, er möge die Diagnose auf Masern stellen (say it is Measels).

Noch haben die englischen Juden Zeit, den Machenschaften und Intriguen der russischen Regierung und der ihr gefügigen Presse* entgegenzuarbeiten. Möge das Unheil abgewendet werden, ehe es zu spät ist.

*Nach Schluss der Redaktion geht uns ein von dem Verlag der „Times“ soeben an „Interessenten“ -verschickter Prospekt zu, in dem das baldige Erscheinen einer russischen Ausgabe der „Times“ unter dem Titel „The Times Russian Number“ angekündigt wird. Anm. d. Red.

Kein „Pogrom“ in Sued-Wales.
Eine Berichtigung.

Von Carl Stettauer, London.

Ost und West, Heft 12, Dezember 1911

Herr Carl Stettauer, der in der Londoner Judenheit eine sehr ange­sehene Stellung einnimmt — er ist lebenslängliches Mitglied des „Council of the United Synagoge“ und (neben E. de Rothschild) Schatzmeister dieser Synagogen-Vereinigung — bezeichnet den Artikel „Die Pogrome in Süd-Wales. Ihre Ursachen und Wirkungen“ im Oktoberheft unserer Zeitschrift als „Uebertreibung“. Mit Rücksicht auf den starken Eindruck, den dieser Ar­tikel auf die Oeffentlichkeit und nament­lich auch auf die allgemeine Presse gemacht hat, ersucht er uns um Auf­nahme der unten folgenden Berichti­gung. Wir kommen diesem Wunsche gerne nach, schliessen aber gleichzeitig seinen Ausführungen eine Erwiderung an, auf die wir unsere Leser besonders aufmerksam machen.
Die Redaktion von „Ost und West“.

Der Artikel, der in der Oktoberausgabe dieser Zeitschrift über die Ausschreitungen in Süd-Wales erschien, war nur zu sehr geeignet, alle jüdischen Leser auf das tiefste zu beunruhigen, denn er raubte den Juden das sichere Bewusstsein, das sie bisher hatten, dass wenigstens in dem hochstehenden England jene Grausamkeiten gegen unsere Glaubensgenossen unmöglich seien, die unter dem Stichwort „Pogrom“ allzu bekannt sind.

Es sei ohne weiteres hier vorausgeschickt, dass wenige Erscheinungen in der Geschichte der eng­lischen Judenheit in den letzten 50 Jahren so viel Beunruhigung unter unsere Glaubensgenossen getragen haben, als die Vorgänge in den letzten Tagen des August, die den guten Ruf von Süd-Wales zu schanden machten. Die Juden in Eng­land haben sich einen so ehrenvollen Platz im öffent­lichen Leben des Landes erworben, haben ein so grosses Mass von Achtung und Hochschätzung unter ihren Mitbürgern anderen Glaubens errungen, dass der leidenschaftliche Ausbruch von Feind­seligkeiten in jenen Tagen eine sorgenvolle Be­stürzung hervorrief, die an Grösse schwerlich zu übertreiben ist.

Jahrzehntelang wiegten sie sich in „einer vollkommenen Sicherheit. Sie hatten sich daran gewöhnt, den Boden, auf dem sie lebten, als einen Boden zu betrachten, in dem der Antisemitismus keine Wurzel fassen könnte. Und doch kam plötzlich mit einer erschreckenden Wirklichkeit, die um so mehr bestürzte, je weniger man sie erwarten konnte, jenes mittelalterliche Vorurteil gegen die Juden zum Vorschein, und die jüdischen Einwohner von Süd-Wales sahen sich mit Empörung und Bestürzung als Opfer von Feindseligkeiten, die ungerecht und unerwartet über sie hereinbrachen.

Es sei offen zugegeben, dass die Unruhen ernst waren, der Schaden gross, und die Leiden, die verursacht wurden, beträchtlich. Aber die ganzen Vorgänge als einen Pogrom zu bezeichnen, ihnen die schreckliche Bedeutung zu geben, die die Juden des Kontinents mit diesem Wort ver­binden, ist eine starke Uebertreibung, und eine vollkommene Verdrehung der Tatsachen. Von den Grausamkeiten, die den schrecklichen Pogromen in Russland das Gepräge geben, war hier keine Spur. Kein Gedanke an Blutvergiessen und Totschlag. Die Unruhen nahmen nur die Form einer ausgedehnten Ausplünderung der Läden unschuldiger jüdischer Einwohner an. Es liegt nicht in unserer Absicht, die Schwere der Unruhen zu verkleinern; sie waren schwer, sehr schwer, besonders wenn man daran denkt, in welch glück­licher Lage die Juden in den letzten 50 Jahren in England gelebt haben. Dass in diesem Lande der Gesetzlichkeit und Ordnung ein or­ganisierter Versuch gemacht werden konnte, zu rauben und zu schädigen, in dem Lande, in dem alle Bürger ohne Unterschied der Rasse und des Glaubens völlig gleiches Recht gemessen, das ist in der Tat schlimm genug, aber es reicht doch nicht aus, um diesen Unruhen den Namen von Pogromen beizulegen. Das muss mit aller Deut­lichkeit gesagt werden. Sonst könnte sich auf dem Kontinent der unheilvolle Glaube festsetzen, dass Pogrome auch in England möglich seien. Die Wurzeln, die der Antisemitismus auf dem Kontinent gefasst hat, sind leider so fest, dass man verhüten sollte, ihnen noch weitere Nahrung zu geben. Der Hass gegen die Juden erhält überdies aus beständig neuen und unerwarteten Quellen reichliche Kräftigung. Wir haben daher allen Grund, ihm nicht unnötig unsererseits neue Nahrung zuzuführen durch eine unrichtige Darstellung der Vorfälle, die sich in England ereignet haben. Wenn wir zulassen, dass unter den Antisemiten des Kontinents sich die Meinung verbreitet, Po­grome seien selbst in dem hochzivilisierten Eng­land möglich, dann erhalten sie eine Waffe, die den Juden unübersehbaren Schaden bringen kann. Unsere Feinde sind niemals in Verlegenheit, Be­weise zusammen zu klauben, auf Grund deren sie ihren falschen Anschuldigungen gegen uns einen Schein von Berechtigung zu geben versuchen. Bisher konnten wir mit berechtigtem Stolz auf England hinweisen, auf diese Stätte westlicher Zivilisation und Kultur, wir konnten zeigen, welch hohen Rang unter den Völkern ein Volk einnehmen kann, das unsere Glaubensgenossen unbehindert zu den bedeutendsten öffentlichen Aemtern und Ehrenstellen zulässt. Wir konnten unter Berufung auf England sagen, dass wir Juden überall da, wo wir Freiheit erhalten, wie England sie gewährt und gewähren kann, unseren uns zukommenden Platz an der Seite unserer nicht­jüdischen Mitbürger einnehmen und  mit ihnen wetteifern in dem ernsten Bestreben, die Wohl­fahrt unseres erwählten Vaterlandes zu fördern.

Wenn aber die Antisemiten den Eindruck erhalten, dass England so geringschätzig von seinen Juden zu denken beginnt, dass sogar ein Pogrom möglich ist, dann wäre eine verderbenbringende Waffe geschmiedet, die unendliches Unheil über unsere Glaubensgenossen in der ganzen Welt bringen könnte.

Darum ist es Pflicht, hier eine genaue Schil­derung der Vorkommnisse zu geben, um allen Uebertreibungen die Spitze abzubrechen.

Die allgemeine Erregung, von der die Industrie­arbeiter in ganz Europa in diesem Jahr befallen wurden, liess auch England nicht unberührt. Es würde schwer sein, in der Geschichte Unruhen solcher Art zu finden, deren Schauplatz Gross­britannien in den Sommermonaten dieses Jahres gewesen ist. Grosse Städte machten den Eindruck bewaffneter Lager. Die Polizei war machtlos, die Unruhen zu wachen, um Sabotage im grossen zu verhindern. Beunruhigt durch den Umfang der Unruhen wurden besondere Polizeikräfte angeworben, um die Ruhe aufrecht zu erhalten. Diese Polizeikräfte wurden aus den Reihen der friedlichen, schwer arbeitenden Bevölkerung genommen. Der Handel lag danieder, die Nahrungsmittel stiegen im Preis, bedeutende industrielle Etablissements mussten ihre Tore schliessen. Zahllose Arbeiter, die nicht an den Streik dachten, waren trotzdem gezwungen, zu feiern, weil die Streikenden die Weiterarbeit verhinderten. Das alles verursachte einen Geist von Gesetzlosigkeit in vielen Gegenden des Landes, der in ruhigen Zeiten auch selbst diejenigen er­schreckt hätte, die sich jetzt selber gesetzloser Handlungen schuldig machten.

In Süd-Wales waren die Unruhen besonders heftig, denn es ist eine Gegend lebhafter, industrieller Aktivität, auch in gewöhnlichen Zeiten.   Dazu kommt, dass die Einwohner von Wales, wie allbekannt, ein leicht erregbares Völkchen sind. Nirgends breitete sich das Streikfieber so rapid aus, wie in den Tälern von Cambrien. Das erklärt, warum die Unruhen in Süd-Wales einen besonders heftigen Charakter annahmen und die Ausschreitungen dort die in anderen Teilen des Landes weit in den Schatten stellten.

Bei Unruhen solcher Art sucht man ver­geblich nach einem berechtigten Grund. Schon die lahme Entschuldigung, die vorgebracht wurde, um die Angriffe auf die Juden zu erklären, beweist, dass sie mehr eine Folge der allgemeinen Erregung, die die Geister ergriffen hatte, als der Ausfluss einer ernsthaften feindseligen Stimmung gegen die Juden war. Es kann ohne Uebertreibung ge­sagt werden, dass die Angriffe auf die Juden nur ein Teil der allgemeinen Unruhestiftungen waren. Verschiedene Zeitungskorrespondenten der grossen Londoner Tagesblätter, die in aller Eile nach dem Schauplatz der Unruhen abgereist waren, sind der gleichen Meinung. Ein angesehener Korrespondent schrieb zum Beispiel damals folgendes:  „Was die meisten Leute, die Augenzeugen der Arbeiterunruhen in Süd-Wales während der letzten Periode gewesen sind, überrascht, ist, dass der Mob anfing, gegen die Juden vorzugehen. Niemand scheint erklären zu können, warum diese friedlichen, allen Gesetzlosigkeiten abgeneigten jüdischen Händler in den Minendistrikten, in denen die Unruhen sich ereigneten, für die Angriffe besonders aufs Korn genommen worden sind, und warum gerade ihre Läden geplündert wurden. So viel in Er­fahrung zu bringen war, bestand bis vor wenigen Tagen niemals eine offene Feindschaft gegen die Juden. Es ist rätselhaft, warum die jüdischen Kaufleute die Haupt- wenn auch nicht die einzigen Opfer der Gewalttätigkeiten des Mobs gewesen sind. Vielleicht, so hörte ich, wollten am Anfang nur ein paar Hooligans sich an einem bestimmten jüdischen Händler vergreifen. Sie bekamen aber bald willige Mithelfer, durch die dann das vereinzelte Vorgehen einiger Rüpel zu einem Kreuzzug des Janhagels gegen die gesamte jüdische Bevölkerung sich auswuchs.“

Das ist ein hervorragendes Zeugnis einer Per­sönlichkeit, die an Ort und Stelle Untersuchungen angestellt hat. Dieses Zeugnis deckt sich mit den Anschauungen einer ganzen Reihe von anderen Persönlichkeiten, die sonst keinen Grund finden können für den abscheulichen Vorgang, der selbst unter der Bevölkerung von Wales Erstaunen und scharfe Missbilligung hervorrief.

Warum die rüpelhaften Helden von Wales sich gerade die jüdische Bevölkerung für ihre Uebeltaten ausgesucht haben, das ist ebenso rätselhaft wie die Tatsache, dass verhältnissmässig gut situierte Leute sich nicht entblödeten, an den Plünderungen jüdischer Läden teilzunehmen. Männer und Frauen, die in gewöhnlichen Zeiten jeden Ladenraub und jede Dieberei aufs tiefste verabscheuen würden, brachten es über sich, zu rauben, was ihnen unter die Hände kam, und sie taten es offen und ohne Scham. Die ganzen Unruhen muten an wie eine Art Hochsommer­verrücktheit. Da Streiken an der Tagesordnung war, so war es eine goldene Gelegenheit für die Agitatoren, Aufruhr und Unordnung hervorzu­rufen. Aber diese waren nicht nur gegen die Juden allein gerichtet, wenn sie auch am meisten darunter gelitten haben.

Verschiedene Anklagen wurden gegen die Juden laut. Man beschuldigte sie, dass sie in grossem Umfang Häuser erworben haben und die Miete ungebührlich gesteigert hätten, dass sie den Preis der notwendigsten Lebensmittel künstlich ver­teuerten.

Eingehende Untersuchungen nach dieser Rich­tung sowohl zur Zeit der Unruhen als auch nachher ergaben die Grundlosigkeit solcher Anklagen. Gegen den einen oder anderen konnte vielleicht ein Vor­wurf ähnlicher Art in vereinzelten Fällen erhoben werden, aber die Anklage als Ganzes war ohne jede Unterlage. Und so war es nur natürlich, dass die Unruhen sehr rasch beendigt wurden. Was die Bevölkerung von Wales in diesen drei Tagen der sinnlosen Unruhen verschuldete, das hat sie schnell bereut. Bereut es noch jetzt und wird an dieser Reue noch lange zu tragen haben.

Die Behörden taten schnell ihre Schuldigkeit und, unterstützt durch die öffentliche Meinung und den gesunden Sinn der besseren Elemente, konnten sie die Ruhe in kurzer Zeit herstellen. Die Pogrome in Russland würden unmöglich ge­wesen sein, wenn dort die Macht des Gesetzes ebenso schnell gegen die Hooligans, die für die Uebeltaten zur Rechenschaft hätten gezogen werden müssen, zur Geltung gekommen wären. Sie würden dann ebenso schnell niedergeschlagen worden sein wie sie auftauchten und die Juden aller Welt hätten nicht die grausigen Folgen dieser blutigen Pogrome so schwer zu betrauern gehabt.

In England griffen die Behörden ohne Zaudern zum Schutz der jüdischen Bürger ein. Es wurden sofort Arretierungen in Masse vorgenommen, und die Schuldigen erhielten Strafen, die nicht nur der verbrecherischen Teilnehmern einen heilsamen Denkzettel geben werden, sondern die auch abschreckend wirken werden für alle diejenigen, die die Lust verspüren sollten, solche Unruhen aufs neue anzufachen. Die Bittgesuche, die an den Minister des Inneren gerichtet wurden, um die hohen Strafen der Schuldigen herabzusetzen, hatten keinen Erfolg, denn die Behörden sagten sich mit Recht, dass die Verbrecher von Wales, die sich Plünderungen und Diebereien haben zu schulden kommen lassen, keine bessere Behandlung ver­dienen, als die gewöhnlichen Verbrecher, die täglich die Strafrichter beschäftigen. Diese Tatsachen können nicht laut und nicht oft genug wiederholt werden. Pogrome in England sind unmöglich. Sie sind einem hochgesinnten Volk, das durch­tränkt ist mit den Traditionen von Freiheit und Toleranz, in innerster Seele zuwider. Schon der Gedanke an die Möglichkeit würde den höchsten Unwillen aller Klassen einer Nation hervorrufen, die stolz ist und mit Recht stolz ist, dass diese, was Zivilisation und edle menschliche Gesittung anlangt, mit an erster Stelle steht.

Die Diebereien und Plünderungen in Süd-Wales als Pogrom zu bezeichnen, ist eine schwere Uebertreibung zum Schaden der gesamten Judenheit. In England gibt es nicht zweierlei Gesetze für Juden und Nicht-Juden. Religion und Konfession haben keinen Einfluss auf Recht und Ordnung. Die strengen Strafen, die gegen die Verbrecher verhängt wurden, müssen alle die verstummen machen, die behaupten, es gäbe eine offizielle oder eine allgemeine Feind­seligkeit gegen die Juden in England. Süd-Wales selbst ist tief beschämt über die Vorgänge des August, die es so in Verruf gebracht haben, und das ganze Land ist entschlossen, unter keinen Umständen eine Wiederholung der Unruhen zu­zulassen, die den guten Namen und den Ruf eines grossen Volkes in Misskredit bringen würden.

PS. Der Gesamtschaden, den die Juden in Wales erlitten haben, beträgt 16.000 Pfd. Strl. (der ihnen ersetzt werden wird) und nicht 100.000 Pfd. Strl., wie Ihr Korrespondent angibt.

ERWIDERUNG

Ost und West, Heft 12, Dezember 1911

Wir geben der obigen Berichtigung in unserem Blatte gerne Raum. Erstens mit Rücksicht auf die geschätzte Persönlichkeit des Einsenders. Dann aber, weil wir glauben, dass sie der Hauptsache nach unsere Auffassung von der Sache unter­stützt. Schliesslich, weil wir uns die Gelegenheit nicht nehmen lassen wollen, den geehrten Herrn Einsender auf eine Art Betrachtungsweise jüdischer Angelegenheiten aufmerksam zu machen, die ihm offenbar noch fremd ist, die sich aber ebenso langsam als stetig und beharrlich die jüdische Oeffentlichkeit erobert.

Zunächst möchten wir darauf hinweisen, dass die Ereignisse in Süd-Wales auch in der Berich­tigung nicht sonderlich freundlich aussehen. Der Herr Einsender gibt selbst zu, „dass der leiden­schaftliche Ausbruch von Feindseligkeiten in jenen Tagen eine sorgenvolle Bestürzung hervorrief, die an Grösse schwerlich zu übertreiben ist.“ Er zeichnet selbst sehr wirksam den Gegensatz zwischen dem Gefühl „vollkommener Sicherheit“, in dem sich die Juden „jahrzehntelang wiegten“ und der Plötzlichkeit und „erschreckenden Wirklich­keit“ mit der „jenes mittelalterliche Vorurteil gegen die Juden zum Vorschein kam.“ Er gibt selbst zu „dass die Unruhen ernst waren, der Schaden gross und die Leiden, die verursacht wurden, beträchtliche.“ Er hält es selbst für schlimm genug, „dass in diese m Lande der Gesetzlichkeit und Ordnung ein organisier­ter Versuch gemacht werden konnte, zu rauben und zu schädigen.“ Und er kann nicht verschweigen, „dass verhältnismässig gut situierte Leute sich nicht entblödeten, an den Plünderungen jüdischer Läden teilzunehmen.“

Wir haben die Empfindung, dass diese Dar­stellung des Tatsächlichen kaum wesentlich von der abweicht, die in unserem Artikel gegeben war. Ein Unterschied besteht nur darin, dass der Ver­fasser der Berichtigung auf alle die schlimmen Begebenheiten das Wort „Pogrom“ noch nicht angewendet sehen will, während es in unserem Artikel unbedenklich gebraucht war.

Ja, aber vor allem waren wir doch nicht die ersten, sondern, schon wegen der monatlichen Erscheinungsweise unseres Blattes, die letzten, die diese Anwendung nicht scheuten. Früher als wir haben ja alle — wir wiederholen: alle — Wochen- und Tagesblätter, sowohl der jüdischen als der allgemeinen, insbesondere auch der englischen Presse, von den aufrührerischen Ereig­nissen in Süd-Wales als von Pogromen, von Juden­pogromen gesprochen. Wir können uns also jeden­falls auf eine Uebereinstimmung im Ausdruck berufen, die durch ihre Unwillkürlichkeit und Gleichzeitigkeit einfach überwältigend ist. Wenn gewissen Vorkommnissen gegenüber eine ganze Welt mit .demselben Worte reagiert, so muss das doch immerhin etwas zu bedeuten haben.

Nun ist freilich andererseits alle Definition im Grunde Konventionssache. Man kann die Rahmen, der Begriffe weiter und enger spannen, wenn man die andern nur wissen lässt, wie weit die Spannung gehen soll. Man kann es also in unserem Falle mit der Allgemeinheit halten, in der die Vorstellung des „Pogrom“ wach wird, wenn sie hört, dass zusammengerottete Banden, vermehrt um „ruhige Bürger“, plötzlich die Häuser und Läden der Juden aus allen anderen Häusern und Läden einer Stadt heraussuchen, Gewalt­taten gegen die Juden verüben, jüdisches Gut zerstören und plündern, die Juden zu ohnmächtiger Abwehr, zur Flucht und in Verstecke zwingen und sie das Gefühl einer entsetzlichen Verlassenheit in einer Welt grimmiger, erbarmungsloser, höh­nender, unberechenbarer Feinde lehren. Aber man kann natürlich auch dem Herrn Einsender der Berichtigung folgen, der sich nicht von seelischen Reaktionen — vielleicht sind es sogar seine eigenen auch, — nicht von dem massenpsychologischen Gesamtcharakter der Vorfälle, sondern einzig und allein von der kontrollierenden Beobachtung und Erwägung leiten lässt, ob die Dinge auch bis zu Morden, Schändungen und anderen Greueln gediehen sind.

Es ist uns im Grunde auch gar nicht am Worte „Pogrom“ gelegen. Wir könnten es ruhig widerrufen, ohne dass sich nach unserer Meinung in der Sache auch nur das geringste ändern würde. Gewiss gibt es einen Gradunter­schied zwischen Bessarabien und Süd-Wales, aber gerade er bringt uns die ganze Trostlosigkeit des Falles erst recht zu Bewusstsein. Das ist ja das Traurige, dass man schon messen und ver­gleichen kann, dass es kommensurable Erschei­nungen sind, vor denen wir, im Innersten getroffen, stehen. Oder hätte denn England Russland bis ins kleinste Detail kopieren müssen, damit wir die Gleichartigkeit des Geschehens erkennen? Ist es nicht genug, dass es auch nur schon die ersten Meilensteine auf Russlands Wege erreichte? Hat es damit nicht eigentlich schon Russland- über­boten?

Das ist es ja gerade: Weil wir wissen, was wir von England zu halten haben, weil wir es nicht auf eine Stufe mit Russland stellen, weil wir in ihm den entwickeltesten Ordnungs- und Rechts­staat der europäischen Zivilisation erblicken, — gerade deshalb erscheinen uns die Vorkommnisse in Süd-Wales doppelt ernst. Gerade darum können wir uns aber auch nicht damit beruhigen, dass keine schlimmen Bluttaten geschahen und gerade darum dürfen wir uns auch nicht damit begnügen, die Vorgänge in Süd-Wales aus der allgemeinen Aufgeregtheit der Zeit, verbunden mit der besonde­ren Erregbarkeit der dortigen Menschen, sowie als „Hochsommerverrücktheit“ zu erklären. Wir müssen uns vielmehr daran erinnern, dass der geehrte Herr Einsender selbst (ebenso wie sein Gewährsmann, der angesehene Korrespondent eines englischen Blattes), trotz dieser Erklärungen, es doch wieder für „rätselhaft“ findet, „warum die rüpelhaften Helden von Wallis sich gerade die jüdische Bevölkerung für ihre Uebeltaten aus­gesucht haben.“ Und wir müssen schliesslich zu der Ueberzeugung gelangen, dass — von der Verschiedenheit des Anlasses und des Umfanges der begangenen Verbrechen und von der ver­schiedenen Veranlagung der Verbrecher abgesehen, — die Lösung des Rätsels denn doch die gleiche für die Hooligane von Kischinew und für die Plün­derer von Tredegar sein muss.

Diese Lösung selbst aber tritt uns aus einer drastischen Stelle der Berichtigung geradezu le­bendig entgegen. „Männer und Frauen“, heisst es dort, „die in gewöhnlichen Zeiten jeden Ladenraub und jede Dieberei aufs tiefste verabscheuen werden, brachten es über sich, zu rauben, was ihnen unter die Hände kam, und sie taten es offen und ohne Scham.“ Beobachten wir die Redewendung: „brachten es über sich“ und fügen wir den Worten „in gewöhnlichen Zeiten“ noch die Worte „und gegenüber Christen“ hinzu, und wir wissen, was wir zu wissen brauchen: Dass man sich eben an Juden leichter und gründlicher vergreift als an anderen.

Im übrigen scheint der geehrte Herr Einsender den Ausdruck „Pogrom“ weniger aus theoretischer Genauigkeit als in der Ueberzeugung abzulehnen, dass der Gebrauch dieses Wortes die bösesten Folgen nach sich ziehen müsste. „Wenn wir zulassen“, ruft er u. a. aus, „dass unter den Anti­semiten des Kontinents sich die Meinung ver­breitet, Pogrome seien selbst in dem hochzivi­lisierten England möglich, dann erhalten sie eine Waffe, die den Juden unabsehbaren Schaden bringen kann.“

Leider können wir uns auch diesbezüglich nicht der Meinung des geehrten Herrn Einsenders anschliessen.

Wir meinen sogar im Gegenteil, dass dieser spontane Aufschrei einer ganzen Welt: „Pogrom in England“ — einen ganz erheblichen Vorteil gebracht hat. Denn, wenn die englische Regierung nach kurzer Ueberlegung so energisch dreingefahren ist, um Ordnung zu machen, wenn die englischen Richter so intensiv die Notwendigkeit gefühlt haben, die Uebeltäter von Süd-Wales exemplarisch zu bestrafen, so ist dies nicht zum kleinsten Teil dem Umstände zu danken, dass sie vor dem Worte „Pogrom“ erschraken. Das fürchterliche Wort liess sie die Gefahr erkennen, in der die Ehre ihres Vaterlandes schwebte, und darnach handeln und urteilen.

Doch fällt es uns gar nicht ein, auf diese nütz­liche Wirkung, die sich ja zudem nur auf England beschränkt, besonderes Gewicht zu legen. Wir glauben vielmehr, dass wir Juden es uns nachgerade überhaupt abgewöhnen sollten, all unser Tun nach der quälenden Frage einzurichten: Was werden die anderen dazu sagen? Es ist ein Armutszeugnis, das wir uns mit dieser ewigen Frage ausstellen. Eine Gemeinschaft muss doch, glauben wir, das Gesetz und den Sinn ihres Lebens in sich tragen. Sie darf sich doch nicht einfach fremdem Urteil auf Gnade und Ungnade ausliefern. Sie soll doch gerade im Gegenteil selbständige Sittlichkeit und das Gefühl der vollen eigenen Verantwortlichkeit in sich zu festigen trachten.

Was soll denn auch dieses ewige Hinüber­schielen nützen? Vor allem weiss man in dem‘ Gewirre von Faktoren, mit denen man es zu tun hat, ja gar nicht, zu wem man zuerst und nach­drücklicher hinüberschielen soll. Und es geht alle Sicherheit des Schrittes verloren. Nichts aber schadet in den Augen des anderen mehr, als wenn er Unsicherheit und Unpersönlichkeit wahrnimmt. Er ist dann geneigt, die Unaufrichtigkeit, die dahinter steckt, noch zu überschätzen. Und vor allem, er lächelt über die Zumutung, die Dinge nur unter dem Gesichtswinkel zu be­trachten, auf den wir die Ereignisse für ihn ein­zustellen belieben.

Wir Juden traten mit dieser unseligen Methode in das Zeitalter der Emanzipation ein. Statt planvoll an uns zu bauen, statt unsere Kräfte zu konzentrieren, statt die eigene innere Art zur Richtschnur unseres Handelns zu machen, vergeudeten wir uns an den jeweiligen Augenblick, warfen wir den Schlüssel zu unserer eigenen Seele fort. Und so steuerten wir glücklich in die antisemitische Epoche hinein, lernten jedoch auch aus dieser nichts. Nun aber könnte es doch endlich schon genug sein des grausamen Spiels. Wenn es mit uns soweit gekommen ist, dass sich in England Dinge ereignen, wie die „Hochsommerverrücktheiten“ von Süd-Wales, dann müsste unser Vertrauen zur alten Methode eigentlich schon ein wenig erschüttert sein. Dann sollte man doch schon endlich einsehen, dass es wirklich nicht darauf ankommt, ob den abscheulichen Ereignissen von Süd-Wales der Name „Pogrom“ oder ein anderer gebührt oder gegeben wird. Sondern darauf, dass wir den Dingen ins Auge sehen und positive Arbeit leisten, um die Dinge, nicht aber ihren blossen Schein, zu bessern.

Und nehmen wir an: Wir Juden wenigstens hätten vom ersten Augenblick an vermieden, von „Progrom in England“ zu sprechen? Kann man wirklich glauben, dass das die Antisemiten in ihrem Verhalten auch nur im geringsten beeinflusst hätte? Die sind doch nicht so dumm, zu warten, bis ihnen die Juden den Reim zu den Begebenheiten machen. Den besorgen sie sich schon selbst. Wenn es in ihrem Interesse gelegen ist, den Völkern des Kontinents zu zeigen: „Seht, selbst das freisinnige England kommt ohne Pogrome nicht aus“ — dann sind sie auf unsere Bestätigung nicht angewiesen. Und wahrlich, die englische und vor allem die russische antisemitische Presse hat gerade anlässlich der Unruhen in Süd-Wales glänzende Proben ihrer Selbständigkeit und Fixigkeit erbracht.

Es scheint übrigens dem geehrten Herrn Einsender entgangen zu sein, dass der ganze Ton des von ihm berichtigten Artikels weniger auf England als auf Russland gestimmt war. Die Ausführungen liessen zwar deutlich erkennen, dass wir auch in England (sowie in den Weststaaten überhaupt) noch genug atavistische Disposition für judenfeindliche Ausschreitungen verschiedener Art als gegeben erachten, liessen aber auch keinen Zweifel darüber, dass wir diese Disposition nur noch solange für praktisch gefährlich halten, als Russland im Hintergrund steht und geschäftig schürt. Es war uns nicht darum zu tun, England anzuklagen oder seinen Vorrang vor Russland in Zweifel zu ziehen; wir wollten nur auf die Quelle des Uebels hinweisen und dadurch die Erkenntnis vorbereiten, dass am allerwenigsten diese Quelle nach der alten Methode verstopft werden kann.

Diese Aufgabe hatte sich der Artikel gestellt, und wir stehen auch heute zu ihr. Wir achten die Ueberzeugung anderer, können aber an unserer Meinung nichts ändern.