17.10.1961 in Paris: Leichen im Fluss

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Am diesjährigen 17. Oktober jährte sich das vielleicht größte rassistische Staatsverbrechen in Westeuropa seit 1945 zum fünfzigsten Male. Allmählich bricht sich dessen (halb)offizielle Anerkennung nun Bahn…

Von Bernard Schmid, Paris

Ein Staatsverbrechen findet seine späte Anerkennung. Noch nie sprach man in Frankreich so viel von dem Polizeimassaker an rund 300 Menschen, das mitten in Paris stattfand und sich am gestrigen Montag, den 17. Oktober zum fünfzigsten Mal jährte. Über das größte Massaker an Demonstranten, das jemals in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand und mehr Tote forderte als die Schüsse auf dem Tian An Men-Platz in Peking 1989. Über ein unbestreitbar rassistische Motive aufweisendes Verbrechen, das damals in Polizeikreisen auf den Namen Ratonnade (ungefähr: „Rattenjagd“) getauft wurde – ein Begriff, der später zur Bezeichnung aller möglichen Pogrome herangezogen wurde. Es geht um die Ereignisse des inzwischen berühmt-berüchtigt gewordenen 17. Oktober 1961 in Paris.

In den nächsten Tagen kommt sogar ein Publikumsfilm dazu in die französischen Kinos, unter dem schlichten Titel „17 octobre 1961 – Ici on noie les Algériens“  von Yasmina Adi („17. Oktober 1961 – Hier ertränkt man die Algerier“, so lautete eine Graffityparole, die einige Monate nach dem Massaker durch einen jungen KP-Aktivisten angebracht worden war). Auch ein Comicband unter dem Titel „Octobre noir“ (Schwarzer Oktober) wurde soeben publiziert.

Seitdem die etablierten Linksparteien seit Ende September 2011 zum ersten Mal in der Geschichte der Fünften Republik eine Mehrheit im Senat – dem parlamentarischen „Oberhaus“ – errungen haben, sind neue Initiativen zur Anerkennung des Mords an mutmaßlich etwa 300 Nordafrikanern geplant. Der frisch gewählte sozialistische Senator David Assouline kündigte am 10. Oktober 11 auf einer Veranstaltung in einem stark überfüllten Pariser Kabarettsaal an, er werde sich dafür einsetzen, dass der Senat eine Gedenkplakette an der Seinebrücke von Saint-Michel anbringe, wo viele der Toten an jenem 17. Oktober 1961 in den Fluss geworfen wurden.

Im Herbst 2001, vor dem vierzigsten Jahrestag, ließ die damals seit kurzem und erstmals seit 100 Jahren „links“ regierte Stadt Paris – im März jenes Jahres war die „rosa-rot-grüne“ Kommunalregierung unter Bertrand Delanoë in das Rathaus eingezogen – dort ihrerseits eine Plakette an der Seinebrücke von Saint-Michel anbringen. Eine allererste ausdrückliche Anerkennung auch von offizieller Seite. Von konservativer Seite gibt es bis dagegen bis heute erbitterte Widerstände, auch wenn die Zeiten der expliziten Leugnung der damaligen Realität inzwischen vorüber sind. Assouline erinnerte vor den mehreren hundert Teilnehmern, die zehn Euro Eintritt für die Debatte mit zahlreichen Musikeinlagen vom Montag bezahlt hatten, an die Sitzung im Pariser Stadtparlament vom 24. September 2001. Auf die Attentate vom elften September anspielend, habe die Rechte damals gewettert, es handele sich bei der geplanten Anbringung der Gedenkplakette um „eine Provokation“, die „gerade jetzt falsch“ sei. Assouline erinnerte auch an eine Debatte am selben Ort, die 1961 stattgefunden hatte. Stadtverordnete der regierenden Rechten riefen damals aus, all diese „feindlichen Agenten“, gemeint waren die im Raum Paris lebenden Algerier, müsse man „vom französischen Territorium entfernen“. „Leider“, bedauerte einer von ihnen – ein gewisser Alex Moscovitch – am 27. Oktober 1961, „liegt es nicht in der Kompetenz des Stadtrats von Paris, die dafür benutzten Schiffe zu versenken“. (A. Moscovitch bekennt sich selbst sogar noch Jahrzehnte später stolz zu dieser Episode, vgl. seinen Auftritt in folgendem Film zum Thema, welcher frei im Internet betrachtet werden kann.)

Die Debatte vom Montag, den 10. Oktober war nur der Auftakt zu einer ganzen Serie von Initiativen und Mobilisierungen, die die laufende Woche prägen werden. Einen ihrer Höhepunkte bildete, neben einem internationalen Kolloquium am Samstag (15. Oktober) in den Räumen der französischen Nationalversammlung mit französischen, britischen und algerischen Historikern, eine Demonstration am gestrigen Montag, den 17. Oktober. Sie nahm vor dem Cinéma Rex im Pariser Zentrum ihren Ausgang und ging zur Seinebrücke von Saint-Michel. Also von einem der Schauplätze, wo zuerst besonders viele Algerier erschossen und erschlagen wurden, zum Hauptschauplatz der Schlächtereien; die Saint Michel-Brücke liegt in unmittelbarer Nähe der Polizeipräfektur, in deren Innenhof viele der Opfer erschlagen wurden. Auch waren viele von ihnen an dieser Stelle, gefesselt oder durch Schläge betäubt, ins kalte Flusswasser geworfen worden.

Bei der Demonstration waren 300 Pappschilder mit den Namen der bekannten Opfer oder im Herbst 1961 „Verschwundenen“ vorangetragen worden. Von den Grünen über die radikale Linke bis zu den großen Gewerkschaftsverbänden CGT und CFDT sowie Migrantenvereinigungen riefen unterschiedliche Kräfte dazu auf. Über 4.000 Menschen demonstrierten in der Abenddämmerung stundenlang durch die Abenddämmerung, führten (einzelne) französische und eine Reihe von algerischen Fahnen mit und forderten „Wahrheit und Anerkennung“. Unter den Demonstrierenden wurde eine gemeinsame Erklärung von UFJP (Union der französischen Juden für den Frieden), ATMF (Verband von Arbeitsmigranten aus dem Maghreb) und FTCR (Vereinigung der Tunesier für Bürgerrechte auf beiden Ufern des Mittelmeers) verteilt.

Im Anschluss hielten prominenten Geistesgrößen wie u.a. der engagierte Historiker Olivier La Cour Grandmaison (Spezialist für die Kolonialära und Kolonialverbrechen), der linke Journalist Edwy Plenel oder der Zeitzeuge des Algerienkriegs, damalige Soldat und heutige antirassistische Aktivist Henri Pouillot ihre Ansprachen. Als Augenzeuge des Massakers vom 17. Oktober 1961 sprach der damalige Renault-Arbeiter (und frühere Widerstandskämpfer) Henri Benoît. Er berichtete, wie fünf Gewerkschafter – drei von der damals „kommunistischen“ CGT und zwei von der „christlichen“ CFTC – als Abordnung von „europäischen“ Beobachtern ausgewählt worden seien, die die Demonstration vom 17. 10. 1961 damals begleiteten. Denn bei Renault seien die Gewerkschaften mit zahllosen algerischen Arbeitsimmigranten als ihren Kollegen in Berührung gekommen und seien somit auch mit ihren Organisationen im Kontakt gestanden. Ohnmächtig hätten sie vor dem Cinéma Rex den Gewaltausbrüchen der Pariser Polizei an jenem Abend zusehen müssen, während sie nichts tun konnten, aber als „Weiße“ durch die Schläger und Mörder in Uniform verschont blieben. Henri Pouillot und der Historiker La Cour Grandmaison berichteten ihrerseits von der Offensive der regierenden Rechten, die am 23. Februar 2005 ein Gesetz zur ideologischen Aufwertung der französischen Kolonialvergangenheit („eine einmalige Sache in einer europäischen Demokratie“, betonte La Cour Grandmaison) verabschieden ließ. Auf der Grundlage des Artikels 3 dieses heftigen umstrittenen Gesetzes wurde am 10. Oktober 2010 im Invalidendemo eine „Stiftung zum Gedenken/Gedächtnis an den Algerienkrieg“ eingerichtet, bei welcher frühere Offiziere des Kolonialkriegs (drei von ihnen stritten in einem Aufruf von 2001 jegliche französische Verbrechen in dem Zusammenhang ab) und Anhänger der rechten Terrororganisation OAS die Klinke in die Hand geben. Mit leicht heiserer Stimme berichtete die frühere Anwältin Nicole Rein, die zusammen mit KollegInnen eines Anwaltskollektivs 1961 über 50 Strafanzeigen wegen Mordes oder Folterungen gegen Unbekannt erstattet hatte, wie die zuständigen Staatsorgane keiner einzigen von ihnen nachgingen. Während Folterungen im ,Dépôt’ – dem Untergeschoss des Pariser Justizpalasts, der direkt an die Polizeipräfektur grenzt – stattfanden, habe sich kein einziger Richter gefunden, der bereit gewesen wäre, „die drei Stockwerke herabzusteigen, sich selbst ein Bild zu verschaffen oder den Vorgängen ein Ende zu setzen.“

Zuvor hatten, um 12 Uhr mittags, der Pariser Bürgermeister von Bertrand Delanoë und der algerische Botschafter in Frankreich zusammen einen Kranz an der Saint Michel-Brücke niedergelegt. Und der frisch designierte Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialdemokratie, François Hollande, hatte um 11 Uhr am Pont de Clichy – einer der Seinebrücke an den Eingängen von Paris, auf der es an jenem Tag die ersten Todesopfer gegeben hatte – einige Rose in die Seine geworfen. Er wurde von dem Historiker Benjamin Stora, einem der bekanntesten Algerienspezialisten und Kenner des französischen Algerienkriegs, begleitet. ((Vgl. http://www.lemonde.fr/politique/article/2011/10/17/hollande-rend-hommage-aux-algeriens-morts-en-1961_1589233_823448.html#ens_id=1586465 ))

Auch in Nanterre und Bobigny – also Bezirkshauptstädten in der Nähe von Paris – und mehreren anderen Vorstädten der Hauptstadt, in Grenoble, Montpellier, Lyon, Marseille oder andernorts fanden Theaterstücke, Demonstrationen, Debatten und Filmvorführungen zum Thema statt und werden noch weitere stattfinden. In Nanterre westlich von Paris weihte der örtliche KP-Bürgermeister Patrick Jarry am gestrigen Montag einen „Boulevard des 17. Oktober 1961“ in seiner Stadt ein,  indem er den bisherigen Boulevard de la Préfecture umbenannte – bislang gab es nur eine Straße selbigen Namens (Rue du 17 octobre 1961) in einem Stadtteil der algerischen Hauptstadt Algier, el-Harrasch. Hingegen untersagte der rechte Bürgermeisters des Pariser Reichenvororts Neuilly-sur-Seine, Jean-Christophe Fromantin, eine Kundgebung an der Seinebrücke Pont de Neuilly. Also genau dort, wo es an jenem 17. Oktober 1961 die allerersten Toten unter den demonstrierenden Algeriern gegeben hatte ; die Kundgebung musste auf dem anderen Seine-Ufer, in Puteaux auf der westliche Seite stattfinden. (Vgl. dazu auch einen Leitaritikel in ,Le Monde’ vom Samstag Abend, Ausgabe 16./17. Oktober 11)

Rückblick auf einen Demonstrationstag, welcher mit einem Massaker endete

Nanterre ist eine jene Industriestädte, in denen 1961 noch Holz- und Blechbaracken das migrantische Proletariat beherbergten. Aus den als Bidonvilles (Kanisterstädte) bezeichneten Slums, die in den siebziger Jahren zerstört wurden, strömten an jenem 17. Oktober 1961 die algerischen Arbeiter aus den westlichen Pariser Vororten auf die Pariser Place de l‘Etoile. Zuvor bereits hatte ein Teil der Massenpresse gegen die „nordafrikanische Invasion mitten in Paris“  gehetzt.

Es ging damals darum, gegen eine abendliche und nächtliche Ausgangssperre zu protestieren, die seit dem 05. Oktober über alle im Raum lebenden Algerier – und, da die Polizei nach rassistischen Kriterien und Aussehen verfuhr, faktisch über alle Nordafrikaner oder „südländisch Aussehenden“ – verhängt worden war. Frankreich befand sich in der Endphase seines blutigsten Kolonialkriegs überhaupt, des im November 1954 durch den Aufstands des FLN (Front de libération nationale) begonnenen Algerienkriegs.

An jenem Abend waren die Demonstranten, auf ausdrückliche Anordnung des FLN hin, ausnahmslos unbewaffnet. Ihr Ordnerdienst beschlagnahmte sogar Taschenmesser. Die ersten Erschossenen fielen bereits auf der Brücke von Neuilly (und der o.g. Clichy-Brücke), die den Westeingang des Pariser Stadtgebiets markiert, und erste Algerier wurden dort ertränkt. Doch die 20.000 bis 30.000 Demonstranten drängten zum Teil nach – manche machten jedoch angesichts der extremen Gewalt kehrt – und marschierten in ihrer Mehrheit zum Stadtzentrum. Dort wartete die prügelnde, schießende und mordende Polizei unter den Befehlen des berüchtigten Präfekten Maurice Papon auf sie. Neben den über 600 „Verschwundenen“, von denen mutmaßlich die Hälfte ermordet wurde – manche  von den Überlebenden mögen im Anschluss untergetaucht sein -, wurden rund 12.000 Nordafrikaner festgenommen und in improvisierte Internierungslager gepfercht. Etwa in der Pferderennbahn von Vincennes, die im Stadtwald südöstlich von Paris liegt. Ähnlichkeiten etwa zum berühmten Stadion von Santiago de Chile im September 1973 sind natürlich rein zufällig.

Jahrzehnte lang herrschte beinahe absolutes Schweigen über dieses vielleicht dunkelste Kapitel der Geschichte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg – neben der Rolle der französischen Staatsmacht beim Völkermord in Rwanda von 1994 – in der Öffentlichkeit. In der Zeit unmittelbar nach den Ereignissen war dies zunächst nicht der Fall; es zirkulierte sogar eine Schrift „republikanischer Polizisten“, die das Geschehen explizit schilderte und denunzierte. Doch nach  relativ kurzer Zeit wurde in äußerst breiten Kreisen ein Mantel des Schweigens darüber gebreitet. Selbst die Opfer und ihre Familien, die oft traumatisiert waren, sprachen nicht davon.

Auch die dominierenden Kräfte der Linken machten den 17. Oktober 1961 später selten zum Thema. In der Geschichtsschreibung ihrer lange Zeit stärksten Kraft, also der Französischen kommunistischen Partei und bei der Jahrzehnte lang mit ihr verbündeten Gewerkschaft CGT, wurde dieses Ereignis lange Zeit konsequent verdrängt. Zwar legten einige ihrer Mitglieder – wie der Photograph der Parteizeitung L’Humanité, Georges Azenstarck, der die Leichen vor dem Rex-Kino mit eigenen Augen gesehen und auch geknipst hatte – immer wieder Zeugnis ab. Azenstarcks eindrücklichste Fotos sind jedoch einige Zeit später in den Archiven von L’Humanité verschwunden, wie er im Oktober 2010 dem Autor dieser Zeilen berichtete.

Die Zeitung, die damals ihren Sitz gegenüber von dem berühmten Kino hatte, öffnete ihre Räumlichkeit an jenem Abend nicht für die verfolgten Algerier, wobei ihre Direktion sich über das Ausmaß des Schreckens im Unklaren war. Und in ihrer späteren Geschichtsdarstellung überwog stets ein anderes Datum, um die Schrecken der Kolonialkriege zu illustrieren: Am 08. Februar 1962 waren, bei einer Demonstration für „Frieden in Algerien“ – explizit für die Unabhängigkeit eintreten wollte die Partei anders als die radikale Linke damals nicht – neun Mitglieder von KP und CGT  bei der Métro-Station Charonne durch die Polizei getötet worden. Ihr Drama wog in der offiziellen Parteigeschichte lange Zeit de facto schwerer, als der Tod der 300 Algerier. Auch wenn die Arbeiterbewegung (KP und CGT) in den Wochen unmittelbar nach dem 17. Oktober 1961 noch dieses Drama thematisiert hatte: Der Betriebsrat bei den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP), welcher damals durch die CGT als Mehrheitsgewerkschaft kontrolliert wurde, stellte etwa Anfragen an die „Sicherheits“kräfte, in denen man offiziell wissen wollte, warum die „durch die Polizeikräfte benutzten Busse alle so stark blutverschmiert zurückkehrten“ (für ein Faksimile des Schreibens vgl. ,Libération Magazine’ vom 15./16. Oktober 11).

Die radikalere Linke thematisierte hingegen ihrerseits mitunter „den 17. Oktober“: Der antikolonialistische Filmemacher René Vautier führte im Januar 1973 einen Monaten lang einen Hungerstreik durch, um die Aufhebung der Zensur für den Film „Oktober in Paris“ zu erreichen. Dieser Film des früheren Résistancekämpfers und Biologen Jacques Panijel war unmittelbar beim ersten Versuch seiner Ausstrahlung, 1962,  durch die Polizei beschlagnahmt und sofort verboten worden. Vautier erreichte seine Freigabe.

In den achtziger Jahren war die Erinnerung scheinbar verblasst. Mouloud Aounit, der frühere Vorsitzende der Antirassismusbewegung MRAP, erinnerte am Montag daran, dass „wir vor dreißig Jahren mit höchstens zwanzig Leuten auf der Seinebrücke standen“, zum Gedenktag von 1981: „Wir waren nicht einmal zahlreich genug, um alle die Transparente hochzuhalten, die wir mitgebracht hatten.“  Damals drohte die Erinnerung an das Drama definitiv verschüttet zu gehen. Viele als Immigranten in Frankreich lebende Algerier waren damals der Auffassung, da sie nunmehr – anders als in früheren Jahren – wüssten, dass ihre Familien dauerhaft in Frankreich bleiben und ihre Kinder dort aufwachsen würden, meinten nunmehr, zu ihren Gunsten würden sie besser über das Erlebte zu schweigen. Auf diese Weise würden sie die nachwachsende Generation nicht „belasten“, und ihr ein „normales Leben“ in Frankreich ermöglichen. Angesichts der Welle von gewalttätigem Rassismus, die ab 1983/84 zum Durchbruch, zerschellte diese Hoffnungen allerdings zum Gutteil.

1991 erschien, zum dreißigsten Jahrestag des Massakers, darüber jedoch ein Buch unter dem Titel La Bataille de Paris – unter Anspielung auf die „Schlacht von Algier“ während des Algerienkriegs, von 1957 -, das durch den Historiker Jean-Luc Einaudi verfasst worden war. Es brachte zum ersten Mal in einem Teil der intellektuellen Öffentlichkeit wieder Licht ins Dunkel jener Ereignisse. Vier Jahre später erschien ein Buch der Journalistin Anne Tristane, das einige der wenigen vorhandenen Fotos zum Thema enthielt, Le silence du fleuve („Das Schweigen des Stromes“). Auf dem anarchistischen Sender Radio Libertaire fanden 1995 Debatten zum Thema statt. Doch bis dieses Wissen in breitere Teile der Gesellschaft eindrang, würde es noch abermals mehrere Jahre dauern.

Gerichtliche Anerkennung

Zum allerersten juristischen Durchbruch bei der Anerkennung des Massakers kam es vor nunmehr gut zwölf Jahren.

Am 26. März 1999 erteilte die auf „Pressestraftaten“ – wie Beleidigung, Diffamierung oder Volksverhetzung – spezialisierte Strafkammer des Pariser Gerichts Maurice Papon, dem der Hauptverantwortlichen des Polizeimassakers an mehreren hundert algerischen Immigranten, auf der ganzen Linie Unrecht gegen Jean-Luc Einaudi. Er hatte ein Verfahren gegen den Historiker sowie gegen eine Mitarbeiterin des Pariser Stadtarchivs – Brigitte Lainé –  wegen „übler Nachrede“ angestrengt, und verloren. Lainé hatte dem Historiker Zugang zu den Archiven verschafft: Dieser war ihm durch ihre Vorgesetzten strikt verboten worden (die Archive zum 17. Oktober 1961 waren für 60 bis 100 Jahre unter Verschluss genommen und unter strenger Geheimhaltung eingebunkert worden). Doch nachdem die damalige sozialistische Kulturministerin Catherine Trautmann in der Öffentlichkeit zum ersten Mal deren Öffnung angekündigt hatte, berief sie sich auf dieses hoch & heilig „von ganz oben“ abgegebene Versprechen. Brigitte Lainé wurde dafür durch ihre Vorgesetzten bestraft ((vgl. http://www.liberation.fr/societe/0101275204-une-archiviste-en-disgrace-pour-avoir-eclaire-la-verite-brigitte-laine-a-temoigne-sur-le-massacre-du-17-octobre-1961-au-proces-de-jean-luc-einaudi )), doch mussten die Sanktionen später zurückgenommen werden.

Maurice Papon ist ein Name, der den meisten aufmerksamen Zeitungsleser/inne/n aus einem anderen Zusammenhang heraus bekannt war. Sie identifizierten mit ihm den Generalsekretär der Präfektur im von den Nazideutschen besetzten Bordeaux, der im April 1998 von einem Gericht in Bordeaux wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war – welche er zunächst aus gesundheitlichen Gründen nicht antreten musste. Erst zum Jahrtausendwechsel wurde er ins Gefängnis eingeliefert, und nach nur zwei Jahren wieder wegen seines vorgeblich sehr schlechten Gesundheitszustands entlassen. Doch einmal zu Hause in Gretz-Armainvilliers einige Kilometer östlich von Paris installiert, erschien diese Gesundheit plötzlich viel stabiler. Anfang 2007 starb Papon und wurde, auf eigenen Wunsch hin und nach einer kurzen aber heftigen öffentlichen Polemik, mit seinem einstmals erworbenen Verdienstkreuz beerdigt.

In Bordeaux war er für schuldig befunden worden, den Transport von 1.700 Jüdinnen und  Juden aus dem Umland der südwestfranzösischen Stadt in die Vernichtungslager organisiert zu haben. Doch die historische Rolle des Maurice Papon beschränkt sich nicht auf dieses, gerichtlich sanktionierte, Mitwirken an der antijüdischen NS-Vernichtungspolitik in den Jahren 1942 bis 1944. Rechtzeitig vor dem Zusammenbruch des Besatzungssystems hatte Papon es verstanden, nützliche Kontakte zu gaullistischen Résistancekreisen zu knüpfen, die in der Folgezeit karrierefördernd wirken sollten. Und so endete die Laufbahn des Maurice Papon durch Spitzenämter des französischen Staatsapparats erst im Jahre 1981, nachdem er drei Jahre als Budgetminister der bürgerlichen Regierung unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing verbracht hatte.

Einer der finstersten Abschnitte in dieser Laufbahn sah Maurice Papon Ende der fünfziger  und Anfang der sechziger Jahre im Amt des Pariser Polizeipräfekten. auf dem Höhepunkt des unerklärten Krieges – offiziell handelte es sich um „Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung“ -, der mit umso intensiverer Brutalität um den „auf der anderen Mittelmeerküste gelegenen Teil Frankreichs“ tobte. Ein Krieg, dem auf algerischer Seite rund eine Million Menschen und auf französischer Seite rund 30.000, darunter 27.000 Soldaten, ihr Leben verloren.

Papon selbst war 1956 als „Generalinspektor der Verwaltung in außerordentlicher Mission“ in der ostalgerischen Region um Constantine im Einsatz, wo sich einer der „Herde“ der Rebellion befand – hier hatten französische Truppen bereits am 8. Mai 1945 ein Massaker an Einwohnern, die das Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Straße feiern wollten, verübt und die Stadt Sétif bombardiert sowie Massaker in Guelma und Kherrata angerichtet. In dieser Atmosphäre brachte Papon die Behörden im östlichen Algerien auf Vordermann und vertrat dabei eine Linie, die sein Prozessgegner vor der 17. Pariser Strafkammer, Jean-Marc Einaudi, im Gerichtsverfahren folgendermaßen charakterisierte: „Maurice Papon hat die Repression gegen den FLN hin zu einer kollektiven Repression orientiert, welche auf die Gesamtheit einer Bevölkerungsgruppe zielte.“

Zurück in Paris, ließ Papon Razzien auf Personen mit „nordafrikanischen Gesichtszügen“ durchführen und Internierungslager einrichten, zunächst im Vel d‘Hiv‘, – dem Stadion Vélodrome d‘Hiver, in dem im Juli 1942 die Pariser Juden vor ihrem Abtransport in die Vernichtungslager zusammengepfercht wurden. „Das ist in meinen Augen der Ausdruck dafür, daß dieser Polizeipräfekt in der Kontinuität dessen stand, der in den 40er Jahren Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux war“, erklärte Jean-Marc Einaudi in seinem Prozess von 1999 vor den Pariser Richtern. Zudem schuf Papon ab März 1960 eine außerhalb jeglicher legalen Kontrolle operierende polizeiliche Hilfstruppe, die Force auxilaire de police (FPA), welche zum Teil aus algerischen Kollaborateuren – so genannten Harkis – bestand und ihre im Kolonialkrieg „erprobten“ Kampf- bzw. Misshandlungsmethoden vom Kriegsschauplatz Algerien in die „Metropole“ heimholte. In Paris, etwa im migrantisch geprägten 18. Bezirk – wie in der rue de la Goutte d’Or Nummer 25 -, unterhielt sie weithin bekannte und berüchtigte Folterzentren.

Natürlich war Maurice Papon für all dies nicht völlig allein verantwortlich, sondern er wusste, dass er auf die Rückendeckung jedenfalls des damaligen Premierministers Michel Debré und seines Innenministers Roger Frey, dessen Visage, und Äußerungen nach dem oben erwähnten Massaker von Charonne im Februar 1962 ((vgl. hier: http://www.ina.fr/economie-et-societe/justice-et-faits-divers/video/CAF90002889/declaration-de-roger-frey-apres-charonne.fr.html )) bauen konnte. Hingegen scheint der seinerzeitige Staatspräsident Charles de Gaulle bisweilen auf Distanz zu bestimmten Praktiken gegangen zu sein – jedoch wurde er durch Teile des eigenen Staatsapparats, denen schon de Gaulles Realpolitik (in Form der Aufnahme von Verhandlungen über ein mögliches Ende des Algerienkriegs mit dem FLN) zu weit in Sachen Zugeständnisse ging und die auf blanken Terror setzten, offenkundig rechts überholt. Zu ihnen zählten Premierminister Debré und noch weitere Figuren seiner Regierung. Ein Justizminister, welcher Vorbehalte gegen die in dem Zusammenhang gängige Folterpraxis angemeldet hatte, wurde geschasst und schleunigst ausgetauscht.

Ab 1959 ließ Papon neben den polizeilichen oder parapolizeilichen Zentren in Paris ferner noch ein weiteres Internierungs- (offiziell „Identifizierungs- und Personalienüberprüfungs-“)Zentrum vor den Toren der Hauptstadts, im Vorort Vincennes, einrichten. Dorthin wurde ein Teil der algerischen Demonstranten transportiert, als am 17. Oktober 1961 eine Demonstration der Immigrationsbevölkerung gegen die am 5. Oktober von Papon über sie verhängte Ausgangssperre mit größter Brutalität unterdrückt wurde. Fast drei Wochen später, am 6. November 1961, waren die 1.710 dort internierten Repressionsopfer noch immer dort festgehalten, wobei eine Delegation des französischen Parlaments an jenem Tag nur noch 1.500 Personen zu zählen vermochte. Was war aus den übrigen geworden? Eine sichere Antwort gibt es nicht. Sicher ist aber, dass noch Wochen später Leichen von Nordafrikanern bis nach Rouen, gut 100 Kilometer flussaufwärts, ja bis in Le Havre (wo die Seine in den Ärmelkanal mündet) aus dem Fluss gefischt wurden. Andere Festgenommene wurden im Sportpalast an der Pariser Porte de Versailles zusammengepfercht. Die konservative Tageszeitung Le Figaro berichtete von dort am 23. Oktober jenes Jahres, die Eingeschlossenen hätten seit mehreren Tagen weder Nahrung noch Schlaf genossen. Die Behörden, fuhrt die Zeitung fort, verspürten jedoch offenbar keinen Drang, „eine Hilfe vom Roten Kreuz anzufordern“.

Das Polizeimassaker des 17. Oktober 1961 wurde während der ersten Tage des Prozesses von Bordeaux, der gegen Papon wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ geführt wurde, im Oktober 1997 angeschnitten. Die Erörterung dieser Ereignisse diente in jenem anderen Verfahren dazu, die Persönlichkeit des Angeklagten besser zu erfassen. Maurice Papon wurde jedoch wegen dieses Aspekts nicht in Bordeaux verurteilt.

Einen Tag nach der Zeugenaussage von Jean-Marc Einaudi, der sich seit Jahren mit der Demonstration des 17. Oktober befasst hatte, ergriff der damalige Innenminister Jean-Pierre Chevènement eine Initiative. Er erteilte dem Richter am Obersten Gerichtshof Dieudonné Mandelkern den Auftrag, die Archive der Pariser Polizeipräfektur im Zusammenhang mit dem 17. Oktober 1961 auszuwerten und daraus einen Untersuchungsbericht erstellen. Der „Mandelkern-Rapport“, der im Frühjahr 1998 erschien, formuliert auf Grundlage der konsultierten Archive die Schlussfolgerung, seinerzeit habe eine „sehr harte Repression stattgefunden, aber die Zahl der Opfer sei „sehr viel geringer als jene der mehreren hundert Opfer, von denen bisweilen die Rede war“ – Einaudi hatte tatsächlich im Prozess von Bordeaux die Opferzahl mit rund 300 beziffert. Mandelkern sprach unterdessen von 32 Todesopfern, während Papon als Hauptverantwortlicher selbst diesbezüglich einen gewissen Einfallsreichtum an den Tag legte.

In seinen 1988 erschienenen Memoiren hatte er noch die damalige offizielle Version von drei Toten übernommen („zwei Algerier und ein Franzose aus der Bretagne“, hieß es… – weil die Polizei „aus Versehen“ den irrtümlich für eine Nordafrikaner gehaltenen Guy Chevallier mit Gewehrkolben erschlagen hatte). Währenddessen gab er die Opferzahl später in Bordeaux mit „15 bis 20“ an. Diese seien aber zu einem guten Teil Opfer von „Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Fraktionen des algerischen Nationalismus“ geworden seien – als ob diese in tödlicher Form innerhalb der Demonstration ausgetragen worden wären. Vor den Pariser Richtern wiederum bequemte er sich zu dem Zugeständnis, 30 Tote seien es schon gewesen, womit er vermutlich die Version des „Mandelkern-Reports“ übernahm.

In einem langen Gastbeitrag, der Ende Mai 1998 in Le Monde erschien, zerpflückte Jean-Luc Einaudi die Ungenauigkeiten und Mängel des Mandelkern-Berichts, der sich ausschließlich auf Dokumentationen stütze, die sowohl „parteiisch“ seien – da von der Polizeipräfektur selbst erstellt – als auch „unvollständig“. So wurden die Archive der Wasserschutzpolizei, die zum Teil die Leichen aus der Seine gefischt hatte, in den Jahren zuvor zerstört. Und zahlreiche Leichen wurden damals flussaufwärts außerhalb des Pariser Départements, auf welches sich die Archivdokumente beschränken, aufgefunden. Ebenso sind die Archive des „Koordinationsdienstes für die algerischen Angelegenheiten“, der den Kampf gegen den FLN in seinen Dienststellen konzentrierte, opportunerweise komplett verschwunden. Genauso wie die Unterlagen des Internierungszentrums von Vincennes.

Einaudi zeigte ferner auf, in welchen Passagen der vom Innenministerium angeforderte Bericht die seinerzeitige offizielle Version der Ereignisse fraglos übernahm. Etwa die Behauptungen, auf der Demonstration vom 17. Oktober seien „Schüsse (von beiden Seiten) ausgetauscht“ worden, wahrend die algerischen Demonstranten – auf Anordnung des FLN hin, der durch einen Protestmarsch mit Frauen und Kindern um Sympathien werben wollte – unbewaffnet gekommen waren und kein Polizist mit Schussverletzungen registriert wurde.

Offizielle Anerkennung fand die Version Einaudis bei diesem Prozess hingegen aus dem Munde der Staatsanwaltschaft und anschließend des Richters. Der Staatsanwalt Vincent Lesclous hatte am letzten Prozesstag feierlich anerkannt, dass man bezüglich des 17. Oktober 1961 von einem Massaker“ sprechen könne. Dennoch wollte er Einaudi „des Prinzips wegen“ zu einer mindestens symbolischen Strafe wegen Diffamierung verurteilt wissen, da er nicht Papon direkt in einem „persönlichen Werturteil“ für Gewalttaten hätte verantwortlich machen dürfen. Diese seien in einem Klima der Gewalt entstanden – da in den Monaten zuvor eine Reihe von Attentaten algerischer Individuen, die dem FLN aus der politischen Kontrolle gerieten, gegen Polizeiwachen stattgefunden hatten. Papon hatte freilich einen mehr als nur geringen Anteil daran, dass solche individuellen Taten zu einem Rache- und Lynch-Klima unter den ihm unterstellten Beamten beitragen konnten. Am 5. September 1961 verlangte Papon in einem Rundschreiben an die Beamten wörtlich: „Die Mitglieder der (algerischen) Kommandos sind an Ort und Stelle abzuschießen“. Und bei der Beerdigung eines Polizisten rief Papon aus: „Für einen Schlag, der uns zugefügt wird, werden wir zehn Schläge versetzen.“ Einaudi analysierte folgerichtig: „Das bedeutete nichts anderes als: tötet zehn Algerier für einen getöteten Polizisten“

Die Richter folgten dem staatsanwaltschaftlichen Plädoyer nicht und sprachen Einaudi auf der ganzen Linie frei, wobei sie in ihrer Urteilsbegründung ausführen: „Wenn man zugibt, dass die offizielle Version der Ereignisse von 1961 weitgehend von der Staatsräson inspiriert gewesen war – was im übrigen, angesichts der damaligen Situation, hinnehmbar ist – und dass die extreme Härte der damaligen Repression heutzutage andere Bewertungen hervorrufen muss, die nicht notwendigerweise den Gebrauch des Wortes ,Massaker‘ ausschließen, dann kann man einen Historiker (…) nicht vorwerfen, dass er in einem Abschlusssatz die Fakten scharf qualifiziert und in scharfer Form einen Verantwortlichen benennt.“

Einaudi hatte damit acht Jahre nach Erscheinen seines Buches die Mauer aus „offizieller Version“ und Schweigen über das Massaker von 1961 zu ihrem offiziellen Einsturz gebracht.

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