Freud lesen: Der Mann Moses und die monotheistische Religion

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Im März 1938 wird Österreich von Hitlerdeutschland annektiert. Ein paar Monate später werden die Büros des Internationalen Psychoanalytischen Verlags durchsucht und verwüstet. Alle Freunde Freuds drängen ihn, das Land zu verlassen, besonders Jones und Marie Bonaparte…

Jean-Michel Quinodoz: Freud lesen
III. Neue Perspektiven (1920-1939):

Im letzten Kapitel (p. 431 – 445) von „Freud lesen“ befasst sich Quinodoz mit Freuds letztem Werk, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion„, welches Quinodoz als ein testamentarisches Werk bezeichnet, das mehr Fragen stellt, als es löst.
Neben Analyse und Besprechung des Werks geht Quinodoz auch auf biographische und zeitgeschichtliche Aspekte ein. Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit Rezeption, Wirkung und aktueller Bedeutung

Biographien und Geschichte

Exil in London

Eine internationale Kampagne, an der insbesondere britische und amerikanische Diplomaten beteiligt sind, übt sogar starken Druck auf die deutschen und österreichischen Behörden aus, ihm die Ausreise aus Wien zu gestatten. Das größte Hindernis ist jedoch Freud selbst, der sein Geburtsland nicht verlassen will, weil er das als Desertion empfindet. Jones erzählt, er habe ihn erst mit der Geschichte des Zweiten Offiziers der Titanic überzeugen können, der durch die Explosion eines Dampfkessels ins Meer stürzte; vor dem Untersuchungsausschuss befragt, unter welchen Umständen er das Schiff verlassen habe, hatte er erklärt: »Ich habe es nicht verlassen. Es hat mich verlassen!« (Jones [1957] 1962, Bd. 3, S. 261)

Als die österreichischen Behörden schließlich die Ausreise der Familie Freud bewilligt haben, beginnen die administrativen Scherereien. Da Freuds Bankguthaben beschlagnahmt worden sind, bezahlt Maria Bonaparte die von den Nazis geforderte »Reichsfluchtsteuer«. Sie unterwerfen Freud einer letzten Demütigung mit der Aufforderung, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der er eine korrekte Behandlung bestätigt. Glaubt man Jones, ergänzte Freud das Dokument noch um einen riskanten ironischen Satz: »Ich kann die Gestapo jedermann aufs beste empfehlen« (ebd., S. 268).

Am 3. Juni 1938 verlassen Freud, seine Frau Martha und seine Tochter Anna Wien in Richtung London via Paris mit dem Orientexpress. Er verbringt einen sehr angenehmen Tag in Paris bei Marie Bonaparte und wird bei seiner Ankunft in London warmherzig empfangen.
In Wien ließ er vier Schwestern zurück, die keine Ausreisegenehmigen erhalten konnten und einige Jahre später in den Konzentrationslagern der Nazis starben.

Den Mann Moses in Freiheit beenden

Bald nachdem er sich in London niedergelassen hat, macht sich Freud wieder an die Arbeit und beendet im Juli 1938 den dritten und letzten Teil des Moses. Die ersten beiden Teile über Moses den Ägypter waren 1937 in der psychoanalytischen Zeitschrift Imago veröffentlicht worden, die nur ein sehr beschränktes Publikum erreichte. Doch die Aussicht auf ein für die große Öffentlichkeit bestimmtes Werk ketzerischen Inhalts begann nicht nur die ihm Nahestehenden, sondern immer weitere Kreise zu beunruhigen.

Vor seiner Abreise nach London hatte Freud auf die Idee verzichtet, seinen Moses zu publizieren, weil er die österreichische katholische Kirche, die damals gegen die Nazis eingestellt war, nicht irritieren oder provozieren wollte. Jetzt aber, in England, wohin er nach eigenen Worten gekommen war, um in Ruhe zu sterben (»to die in freedom«), konnte er seine Gedanken fertig ausarbeiten, um sie so rasch wie möglich zu veröffentlichen. Es gab vergebliche Versuche, Freud von der Publikation des Moses abzuhalten, sowohl von seiten der Juden, die sich ihres Ahnherrn beraubt sahen, als auch von seiten der Christen, deren Christusglaube von Freud als ein kollektiver Wahn analysiert wurde. Doch kein Argument konnte ihn umstimmen, ein jedes schien seine Entschlossenheit nur zu bestärken. Freud verstand nicht, wieso man den streng wissenschaftlichen Charakter seines Vorgehens nicht begreifen wollte und von ihm Selbstzensur erwartete. Das Werk erschien im Juni 1939 gleichzeitig auf Deutsch in Amsterdam und in englischer Übersetzung in den USA.

Freuds Tod am 23. September 1939

Die ersten Monate des Jahres 1939 werden durch die Nachrichten von Plünderungen und der Verhaftung Tausender Juden in Deutschland verdüstert. Gleichzeitig verschlechtert sich Freuds Gesundheitszustand, den nur eine Strahlenbehandlung vorübergehend bessert. Trotz seines körperlichen Verfalls empfängt er bis zum August weiterhin Patienten. Freud stirbt in großer Würde am 23. September 1939, nachdem er seinen Arzt, Max Schur, gebeten hat, sein Leiden durch Morphium abzukürzen, wie dieser ihm zu einer Zeit versprochen hatte, als er Freuds behandelnder Arzt war.

4 Kommentare

  1. Das Phänomen der Wiederkehr des Verdrängten würde erklären, weshalb die historische Existenz dieses Menschen in Vergessenheit geraten ist, aber dauerhafte Spuren in der menschlichen Seele hinterlassen hat – vergleichbar einer Tradition. Die Idee eines einzigen Gottes wäre dann auf die gleiche zwanghafte Weise in der Menschheit wiederaufgetaucht wie die Wiederkehr des Verdrängten beim Neurotiker, und dieser Glaube wäre nichts anderes als das Erwachen der Erinnerung an eine längst entschwundene historische Wahrheit: »Eine dieser Wirkungen wäre das Auftauchen der Idee eines einzigen großen Gottes, die man als zwar entstellte, aber durchaus berechtigte Erinnerung anerkennen muß. Eine solche Idee hat Zwangscharakter, sie muß Glauben finden.

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