Elul

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Der vorliegende Text aus der Feder von Schmarjahu Gorelik, ein aus der Ukraine stammender jiddischer Autor und Zionist, der 1933 nach Palästina ging, wurde in „Ost und West“ veröffentlicht. Die Zeitschrift, die sich als „Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum“ verstand, stellte im Kontext der „Jüdischen Renaissance“ dem westjüdischen Publikum die kulturellen Leistungen der sog. „Ostjuden“ vor…

Elul
Von Sch. Gorelik
Ost und West, Heft 9, September 1912

Oft, oft will es mir scheinen, dass die Seelen der Menschen schon an den Geburtstagen auseinandergehen, auseinanderfliegen: die einen dahin, wo der Frühling herrscht in seiner ganzen Pracht, um im Reiche der Blumen zu singen und zu jubilieren; die anderen dem Herbste entgegen, mit seiner Schwermut, seinen gelben Blätterhaufen, mit seiner tiefen, ach so tiefen Poesie des Wolkenhimmels, der kalten, traurigen Winde, der goldblättrigen Bäume dort im grossen dichten Walde, nicht weit von der Landstrasse.

Und sie werden niemals zusammenkommen können, die beiden fremden Seelen: die den Frühling ersehnt und, die nach dem Herbste bangt. Das ist schon so ihr Schicksal. Es gibt Menschen, die nur in den frohen Frühlings- und Sommermonaten sich wohl fühlen. Nur um diese Zeit können sie denken und empfinden, liegt etwas in ihnen, offenbaren sie das Beste und Edelste ihres Wesens. Und dann gibt’s wieder Leute und wird’s immer geben, die gerade an den düstern Wolkentagen aufblühen. Sie lieben den trockenen Herbst, wenn die Bäume flüstern und ihre wunderbaren Geheimnisse erzählen, wenn die ganze Natur wie von einem Gefühle der Verantwortung durchdrungen, alles so tief ernst und voll verhaltener Traurigkeit ist.

Ach, es ist wirklich nicht so leicht, das Leben zu erfassen . . . !

Jeder folgt seinem Gefühle. Mein Freund z. B. liebt den Heine der goldenen Tage, da er einem jungen Hellenen ähnlich war, einen Lorbeerkranz auf dem schönen Kopfe trug, mit Göttern spielte und sie verlachte, da sein Witz wie heller Rheinwein mundete. Aber ich habe auch einen andern Freund. Der liebt den andern Heine, den Heine der letzten Jahre, als sein Witz nicht nur anmutig, sondern auch tief war wie der späte Herbst; den Heine, der da bat, in den Louvre getragen zu werden, um noch einmal die göttliche Statue zu sehen, der vor ihr niederfiel, sie noch einmal mit den schwachen, mageren Armen umfasste, Tränen eines schwer Leidenden, eines tief sich Sehnenden vergoss und zu hören glaubte, wie sie, die Heilige von Milo, zu ihm sprach: Mein lieber, lieber Henri. Ich möchte dir ja so gerne helfen, aber du siehst ja selber, dass ich keine Arme habe . . .

Wenn ich im Herbst des Abends vor die Stadt hinausgehe und langsam in den Wald schreite, begleiten mich die Bäume mit ihrem Raunen und Flüstern: Ja, ja, wir wissen Vieles, wir wissen Alles, wir sind klüger geworden. Und schütteln die alten Zweige, damit ich besser verstehe. Und ich fühle nicht den Hauch des Todes, sondern das Wehen des grossen Wissens, des grossen Leidens, der Müdigkeit.

Die Juden müssen dem Herbst sich verwandt fühlen. Sind sie doch der älteste Zweig auf dem alten Baume der Menschheit, ein Volk mit Vergangenheit, mit so vielen, vielen Erinnerungen. Ein Volk, über das so viele Zeiten hinweggingen, muss von Herbstmotiven durchzogen sein: von der stillen Trauer des Welkens, von der grauen Sorge, von Kummer, Erfahrung und Dulden.
Und ich bitte den jüdischen Dichter, die Herbstharfe in die Hand zu nehmen und mir von dem alten Volke zu singen, dem altergebückten: Von der alten, verfallenden Schul‘ und von dem einzigen Grossen, der ihr irgendwo verblieb, und von Allem, was welkt, untergeht und doch so schön ist. Und vom Monate Elul soll er singen. Ja, vom Monate Elul . . .

Mehr als alle Monate liebe ich den Elul, das Vorspiel der „Tage der Furcht“, an denen der jüdische Geist sich so peinigt. Ich liebe sie, die schlichten Tage — Wochentage sollte man meinen — mehr als die Feste. Es ist soviel Schönheit und Stille in ihnen, ein Rüsten zum Wichtigen, Ernsten, das kommen muss, schon nahe ist, wartet. Heute ist’s freilich nicht oft zu finden, höchstens in irgend einem entlegenen Städtchen, abseits von der Bahn, wo noch nicht das Grammophon den Schofar verdrängt, wo sich die alte jüdische Tradition noch eine Gnadenfrist erbeten hat, ehe sie für immer verschwindet. Aber meine Gedanken gehen in die Jahre der Kindheit zurück, da ich in den Elultagen den ersten Atem des Herbstes fühlte.

Es ist alles so anders als sonst. Die Läden sind ja wohl offen. Die Leute gehen auf den Markt, fahren auf Jahrmärkte, man arbeitet und treibt Handel. Und doch, wenn man so recht zusieht, merkt man, dass die Schritte langsamer, die Stimmen leiser sind, wie wenn sie jemand zu beleidigen fürchteten. Und diesen Jemanden sieht man nicht. Man fühlt ihn nur. Er schwebt über den jüdischen Reihen dort in den alten jüdischen Städtchen — ein Geist, der in den Elultagen sie ernster, stiller, langsamer, melancholischer macht.

Es hängt an den Tagen wie ein leichtes Wölkchen. Es ist keine schwere Sorge und doch eine Sorge. Man seufzt. Und still spricht der Jude zu sich, nur zu sich:

„Schon Elul, schon bald Mitte Elul.“

Mein kleines, junges Hirn verstand damals noch nicht, was das bedeuten soll. Aber ich war beunruhigt. Und die Unruhe pflegte zu wachsen, wenn aus dem Nachbargässchen, in dem sich das Beth-hamidrasch befand, Schofartöne an mein Ohr drangen.

Grossvater kommt aus der Schul‘. Das Zusammenfalten des Tallis nimmt ihn länger in Anspruch als sonst. Er ist nachdenklich, ernst, geht in der grossen alten Stube auf und ab und summt eine chassidische Melodie. Tritt ans Fenster, zieht die Vorhänge auseinander, seufzt, und ich höre ihn sagen:

„Ach, schon Elul, schon bald Mitte Elul.“

Später rücken die Sslichoss-Tage heran. Die Gesichter werden noch verträumter, noch trauriger. Ich erinnere mich an das Aufstehen vor Sonnenaufgang. Grossvater führt mich durch die dunklen Gässchen. Es ist schon kalt. Räder knarren irgendwo. Ein Tor geht auf und ein verschlafener Bauer stapft mit dem Wassereimer zum Brunnen. In langer Reihe streben Fuhrwerke dem Markte zu. Grossvater geht schweigend mit den Gedanken in einer anderen Welt. Plötzlich hustet er stark, lässt meine Hand los und lehnt sich an einen Zaun. Ich stehe zitternd daneben. Aber ich bin zufrieden und dankbar, dass mich Grossvater aufweckte und zu Sslichoss mitnahm.

In dem grossen Zimmer mit dem erdigen Fussboden, das als Beth-hamidrasch dient, sind schon die Lichter angezündet. Und durch die zwei kleinen Fenster erblicke ich die Beter in Werktagskleidern, aber in Feiertags-Andacht. Feierlich still senden sie die Gebete zu Gott empor, und ich denke, dass der alte jüdische Gott diese Gebete vor Sonnenaufgang mehr lieb haben muss als alle anderen. Stille, stille Gebete sind es, nicht wie an den furcht vollen hohen Festtagen, da die Juden schreiend ihren Gott gleichsam an den Rockschössen fassen und ihn nicht lassen, bis er ihnen vergeben hat. Nein, stille Gebete: Hilf uns, Herr, verlass uns nicht! So weich, so elegisch, so bittend klingt die Stimme der kleinen Beterschar.

Nach dem Beten werden sie wieder auseinandergehen, in die Läden, auf den Markt, Weizen und Flachs zu kaufen. Aber anders als sonst werden sie aussehen, die kleinen Krämer. Eine Zigarette drehend, wird einer zum andern sagen:

„Ja, so ist es. Schon Ende Elul, gelobt sei Gott.“

Und wird sich entfernen, ohne eine Antwort abzuwarten.

Jahre, viele Jahre sind seitdem verstrichen. Grossvater ist gestorben. Das Beth-hamidrasch steht schon lange nicht mehr an der alten Stelle. Und ich gehe nicht mehr zu Sslichoss. Aber die Elul-Motive klingen in mir wie früher. Der Text ist ein anderer geworden, die Melodie dieselbe geblieben. Ich höre sie in allen Liedern, die bei uns gesungen werden, ich fühle sie in den edlen Tränen, die im Stillen vergossen werden, und in der Frage, die meine Freundin an mich richtet: Warum ist’s so traurig, so kalt und so finster? Warum schmerzt die Seele so?

Ich habe ihr nichts zu antworten.

Ich erinnere mich an die stillen Sslichoss-Tage von einstmals, an Grossvater, der über die grosse Stube ging, ans Fenster trat, die Vorhänge auseinanderzog und traurig sprach:

„Ach, schon Elul, bald Ende Elul.“

Hilf uns, Herr! Verlass uns nicht. Wir drängen dich nicht, wir bitten nur. Und bitten darf man doch…