Die Alte Kaserne in Deggendorf

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Teil 5: V. Im DP-Camp 7 geht´s endlich aufwärts…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

Wie in Theresienstadt oder anderen KZ, die sie erlitten hatten, schliefen die DP im Camp 7 Deggendorf anfangs auf Strohsäcken, gab es am ersten Tag keine einzige Decke. Und die Konservennahrung, die die US-Militärverwaltung zur Verfügung stellte, war kaum genießbar, zumal die geschwächten Menschen Aufbaunahrung benötigt hätten. Es gab ein nach der Herkunft der Ärzte so genanntes „Jugo -“ und ein „Ungaro-Spital“ in dem weiträumigen Campkomplex. Doch die medizinische Versorgung war katastrophal. Die Menschen konnten zumeist nur mit Aspirin behandelt werden. Noch schwieriger war es, die Versorgung zu organisieren. Eine Notlage, die unter anderem Oskar Schindler dazu veranlasste, Lebens- und sonstige Hilfsmittel nach Deggendorf zu schaffen.

Der wieder eingesetzte Bürgermeister Dr. Anton Reus organisierte zwar Helfer für ALLES, aber in der totalen Mangelwirtschaft war das kaum mehr als Gschaftlhuberei. In der ALTEN KASERNE sofort vier volleingerichtete Wohnungen  bereitzustellen, 36 Drahtmatratzen, 20 Betten, Bettzeug für Tausende Ausländer, Radios, Schreibmaschinen, Fahrräder, Motorräder, Fotoapparate, Tischgeschirr und Essbestecke sowie elektrische Geräte aller Art  zu beschaffen überforderte ihn und die Helfer. Dass von Soldaten, entlassenen Zwangsarbeitern und Gefangenen stetig requiriert wurde, empörte den Bürgermeister und seine Helfer – dass ihnen und ihren Landsleuten exakt das geschah, was deutsche Wehrmachts- und SS-Soldaten in den besetzten Ländern getan hatte, von den mörderischen Einsatzgruppen hinter den Fronten ganz zu schweigen, wollten sie nicht wahrhaben und nicht wissen. Und wo sie die Wahrheit kannten und informiert waren, verdrängten sie einfach. Der damals dreizehnjährige, heutige Psychologe Wolfgang Schmidbauer erkannte freilich, dass  die geläufige Gleichung KZ-Überlebender  und Ausländer = Verbrecher nicht aufging. Er erinnert sich, wie er mit seiner Mutter und dem Bruder Ernst auf der Flucht aus ihrer ausgebombten Münchner Wohnung nach Niederbayern in einem überfüllten Zug saß. Die Mutter: „Da hatte ich Angst, weil entlassene Häftlinge aus dem KZ Pocking am Bahnhof und im Zug waren. Aber die sind ganz freundlich gewesen. Im Zug ist der Ernst eingeschlafen und einem gefährlich aussehenden Mann allmählich auf den Schoß gesunken. Da habe ich gedacht, der fängt jetzt an zu schimpfen. Aber der Russ hat nur gelacht und hat euch nachher ein Stück Brot geschenkt.“ ((J. Molitor: Das Ende des Zweiten Weltkriegs im Landkreis Deggendorf in Augenzeugenberichten, Teil 1 in Deggendorfer Geschichtsblätter Nr. 16/1995, darin Tagebucheintragung von Dr. A. Reus vom Samstag, 2. Juni 1945, S. 272 f. Teil 2 in Deg. Geschichtsblätter Nr. 17/1996; X. Friedl und Dr. A. Reus über die Ereignisse im Frühjahr 1945 in Deggendorf in: Deggendorfer Donaubote, 3. Dezember 1949 – 14. Januar 1950; W. Schmidbauer, Eine Kindheit in Niederbayern, Rowohlt Verlag Reinbek, 1987.))

Die IRO berichtete am 22. Oktober 1945 aus den von ihr betreuten bayerischen DP-Camps:  „Es werden 2000 bis 2500 Kalorien verabreicht, wobei die Kost stärkehaltig ist. Aufgrund des hohen Prozentsatzes an alten und kranken Menschen werden mehr und besser abgestimmte Nahrungsmittel benötigt. (…) In Deggendorf werden dringend Hosen, Hemden, warme Unterwäsche und Pullover benötigt, sowie Schuhe für alle, speziell aber für Frauen und Kinder Mäntel. (…) In Deggendorf sind zusätzliche Decken angekommen, jedoch werden weitere benötigt, um den Durchschnittsbedarf von 3 pro Person zu decken. Auch werden 150 Krankenhausbetten aus Metall gebraucht, sowie Zusatzmatratzen für Kranken und Alte.“

Die Helfer baten dringend um Penicillin und Sulfonamide, „Seifen, Bürsten, Eimer und Schrubber.“ Dass Werkstätten eröffnet wurden, darunter Friseurstuben und Schusterkammern, wurde mit Beifall aufgenommen. Die druckfrische jüdische Zeitung des Zentralkomitees der befreiten Juden in Bayern wurde so begeistert angenommen, dass 15.000 Kopien gedruckt werden mussten. „In Deggendorf gibt es Konzerte, Tanz, eine Schauspieltruppe. Ein Foyer und Radios wurden zugesagt. Projektoren und Leinwände sollen zur Verfügung gestellt werden.“ Die kulturellen Verbesserungen schlugen sich auch in den Briefen der Freimarks nieder: Nicht nur, dass sie Einladungen der Bekannten annahmen und auch selbst aussprachen, berichteten sie ihren Kindern in Philadelphia auch von Terminen an beinahe jedem Tag: Musik-, Tanz-, Film-, Vortragsveranstaltungen, „so ausschweifend waren wir früher nie gewesen!“

Bereits im Februar 1946 schrieb das „Kulturreferat des Center Deggendorf“ einen Rechenschaftsbericht. Neben Referatsleiter Kurt Buchenholz arbeiteten seit Oktober 1945 Eugene Deutsch, Josef Königer,  die 1896 geborene Breslauerin Dr. Hertha Schellmann und Schlomo Sztejndel  (*1922 in Miendzyrzec) mit.  Sztejndel hatte im Camp einen Bruder Abraham, *1915, und eine Verwandte  Brucha, *1926 in Tuczin. Seit der Gründung ihrer Zeitung CENTER REVUE unter Chefredakteur Dr. Gutfeld halfen zusätzlich zu den Genannten sechs bis sieben Campinsassen in der Redaktion mit. Die im November 1945 verteilte erste Nummer hatte eine Auflage von 1500 Exemplaren. Eine Sondernummer verkündete die vom Jewish Comittee erlassene Gerichts-, Haus- und Arbeitsordnung für das DP-Camp 7 Deggendorf. Die Auflage stieg rasch auf 2000, dann 2500 Exemplare, weil nun Leser in Übersee, jüdische Organisationen, Komitees, Zeitungsredaktionen, jüdische Gemeinden und auswärtige Einzelpersonen versorgt werden mussten.

Im Februar 1946 wurden unter Leitung von Richard Ehrlich bereits 700 Exemplare an 52 Verteileradressen verschickt. Anlässlich eines DP-Kongresses in München wurden bei der anschließenden Pressekonferenz für in- und ausländische Journalisten  die Deggendorfer und die Landsberger Campzeitung lobend hervorgehoben.

Doch bei allen Bemühungen, zu vergessen, Verpasstes nachzuholen und die Langeweile sowie die leeren, sorgenvollen Tage und die Nächte mit heftigen Alpträumen hinter sich zu bringen, wenn die Post wieder einmal endlos auf sich warten ließ, verbesserten Freimarks und viele andere KZ-Überlebende fleißig  ihre Englisch-Kenntnisse. Soziale Hilfen, die das wenig später eingesetzte neue bayerische Innenministerium anbot, schlugen die Lagerbewohner aus. Auch weigerten sich die früher in Deutschland beheimateten Überlebenden, auf ihren DP-Status zu verzichten. Weniger als 100 von über 700 jüdischen Deutschen im DP-Camp 7 Deggendorf planten einen Besuch in der alten Heimat. Briefe aus dem DP-Camp 7 Deggendorf mit den  Klagen über ihre anfangs so miserable Lager hatten zur Folge, dass zahlreiche Zeitungen in den Siegerländern Reporter nach Deggendorf schickten und andere lokale Redaktionen direkt aus den Briefen zitierten. So gerieten die Helferorganisationen und die US-Armee unter öffentlichen Druck – und besserte sich die Lage rasch!

Rachel Salamander: „Da ja viele im Täterland angeblich nicht wussten, dass ihr jüdischer Arzt, ihre jüdische Schneiderin oder die jüdische Familie von nebenan verschwunden sind (…), so konnten sie auch nicht ahnen, dass da plötzlich nach Kriegsende wieder Juden auftauchten – eine umherziehende Masse von Juden und das in Deutschland. Sie verschärften das vorhandene Katastrophenbild gigantischer Flüchtlingsströme.“

Mignon Langnas am 16. August 1945 aus dem Städtischen Krankenhaus Deggendorf an ihre Familie in den USA und an die Freundin Käthe Stux in Deggendorf:

„Glaubt nicht, dass ich, indem ich diese Zeilen schreibe – dem Tode entgegengehe. Nein, meine Liebsten: Ich höre nicht auf zu hoffen + zu glauben, dass mir der liebe Gott helfen wird. Nur zu wollen!!! So zu wollen — aber ich fürchte, dass mein Herz nicht mehr weiter will, – so sage ich Dir, mein geliebtes Kätherl (Anm.: ihre Vertraute Stux!) einiges über mein letztes Zittern. (Ist es nicht merkwürdig, dass man das so hinschreibt? Wie viel Schmerz beinhaltet das…)“ An Typhus erkrankt, zweifelte die erfahrene Krankenschwester nun selbst an ihrem Überleben: „Ich bitte sehr, dass an meinem Grabe Kaddisch gesagt wird.“  „G´tt entschied anders!“, sagt ihr Sohn George. Käthe Stux, nun verheiratete Rubinstein in Israel hat dieses an sie adressierte Testament erst vor wenigen Jahren zu Gesicht bekommen, als Mignon Langnas´ Sohn George sich daraan machte, aus den erhaltenen Briefen seiner Mutter deren Vita aufzuschreiben. ((IRO- und UNRRA-Berichte im Leo-Baeck-Institut in New York; R. Salamander: Schweigend im Land der Täter Meine Lehrjahre, aufgezeichnet von M. Prinzing; zu Rosenberg Briefsammlung bei P. Rosenberg/Dänemark, übersetzt von G. Stockschlaeder, Gebhardshain;  M. Friedländer und Mignon Langnas in: Versuche, dein Leben zu machen  bzw. E.Fraller/G. Langnas: Mignon, sowie Dr. H. Schneider, Bochum, in: Es lebe das Leben… Die Freimarks aus Bochum, Klartext Quellen und Dokumente, Bd. 6, 2005.))

Feindseligkeiten in Deggendorf und die milde Reaktion des Dr. Richard Treitel

Ruth Klüger hat den persönlich erlebten, oftmals unverhohlenen Hass vieler Deutscher auf die Juden in  ihren Jugenderinnerungen „weiter leben“ so beschrieben:  „In der deutschen Bevölkerung war der Judenhaß unterschwellig geworden, brodelte aber weiter, wie ein Ragout in einem Kochtopf guter Qualität eine Weile weiterbrodelt und warm bleibt, nachdem die Herdflamme längst abgedreht wurde. Wie hätte es anders sein können? Die Überlebenden erinnerten durch ihr bloßes Dasein an das Vergangene und Begangene. Vielleicht fürchtete man, die Mißhandelten könnten sich rächen, oder man dachte, wir seien wie die geschlagenen und daher bissigen Hunde fürs Zusammensein mit Menschen untauglich geworden. Wer draußen in der Freiheit gewesen war, glaubte leicht und ohne sich viel Rechenschaft darüber zu geben, nur Kriminelle hätten die KZ überlebt; oder diejenigen, die dort kriminalisiert worden seien. Was wiederum im Gegensatz stand zu der hartnäckigen und ebenfalls weit verbreiteten Überzeugung, die KZ seien nicht so schlimm gewesen, dafür seien wir, die sie überstanden hatten, der beste Beweis. Ehre den Toten, den Lebenden eher Mißtrauen.“

Klüger fühlte, dass sie wie Vagabunden angesehen wurden. Dass fünf junge polnische Juden in der beschlagnahmten Wohnung eines Straubinger Nazis religiöse Gegenstände fanden, die zweifelsfrei aus einer – wahrscheinlich der  1938 geschändeten Straubinger! – Synagoge geraubt worden waren, führte dazu, dass sie die Wohnungseinrichtung wütend zerschlugen: Der Wohnungseigentümer versuchte nun, der daran unschuldigen Ruth Klüger das Fahrrad zu entreißen. „Gerade die kleinste  und schwächste unter dem Judenvolk war ihm gelegen gekommen. (…) Wir waren verhaßt, Parasiten einer verjudeten Militärregierung.“

Diese unter  Deutschen verbreitete Einstellung machte übrigens auch vor nichtjüdischen Mitarbeitern der Militärregierungen nicht halt: Noch in der Gegenwart wollten einstige Mitarbeiter des MILITARY GOVERMENT LIAISON AND SECURITY OFFICE DET D-301 LANDKREIS DEGGENDORF APO 170 US ARMY, die auf der amtlichen Liste vom 8. Januar 1946 genannt werden, um keinen Preis damit in Verbindung gebracht werden. Dabei waren nur vier US-Offiziere unter den 25 Mitarbeitern gewesen. Es gab drei Drivers, zwei Nightguards und mit der Dienstbezeichnung „Office help“  dreizehn Frauen und drei Männer – von den Fahrern angefangen sämtlich Deutsche, einige davon Flüchtlinge oder Evakuierte.  Anni L., damals 21 Jahre alt:  „Noch heute bin ich für manche Alt-Deggendorfer das `Ami-Hürchen´  oder das  `Juden-Mägdelein´.“

Die latente Feindseligkeit gegen die überlebenden Juden, von denen die meisten der im DP-Camp 7 Deggendorf langsam wieder auflebenden  der Hölle Theresienstadt, einige zuvor noch Auschwitz, Schwarzheide, Dachau, Flossenbürg  und sonstigen Konzentrationslagern  entronnen waren, musste der ehemalige Berliner Rechtsanwalt und Notar Dr. Richard Treitel (*1879 in Betsche/Pommern) erkennen, als er im November 1945 dem Regensburger katholischen Bischof Dr. Michael Buchberger schrieb: Er genieße die Vielfalt und Ästhetik alter Bauwerke und auch ihre innere Gestaltung. So habe er in der Deggendorfer Grabkirche bildliche Darstellungen zur angeblichen Hostienschändung durch Juden im Jahre 1337/38 entdeckt. In nobler Zurückhaltung bat der einstige Rechts-Widerpart des Dr. Joseph Goebbels: Der Bischof möge doch prüfen, „ob nach diesem Kriege und all den Leiden, die der Krieg über unser unglückliches Volk gebracht hat, es zweckmäßig erscheint, dass Bilder dieser Art in Kirchen verbleiben…“

Dr. Treitel bat das Stadtpfarramt Deggendorf um die Weiterleitung des Briefes nach Regensburg – noch gab es keine geregelten Postverbindungen im Deutschen Reich. Doch verfasste der von 1929 bis 1955 in der Stadt amtierende Pfarrer Dr. Wilhelm Stich eine an Arroganz, Takt- und Gefühllosigkeit kaum zu überbietende „Beifügung“: „Von der Bilderreihe  in der Grabkirche sind auch nach meinem Empfinden einige etwas unglücklich ausgefallen und für einen Kirchenraum nicht recht passend. Aber in Deggendorf nimmt niemand Anstoß an diesen Darstellungen. Zu einer Aufreizung gegen die Juden gaben sie jedenfalls seit ihrem Bestehen niemals Anlass. Während der Nazizeit wurden die Juden in keiner Stadt so human behandelt  als in Deggendorf (Hervorhebung durch den Verfasser!). Dagegen ist zu fürchten, dass die Entfernung der Bilder auf Verlangen der Juden aufreizend gegen dieselben wirken würde, nachdem sich dieselben – 1200 an der Zahl – ohnehin etwas unangenehm bemerkbar machen….“

Ob dieser niederträchtige Brief in Regensburg ankam, ob er beantwortet wurde – nichts ist darüber bekannt. Wohl aber entsetzt die Diktion einer für Nazis und Neonazis  typischen Dialektik, die in jeglicher Hinsicht der soeben überwunden geglaubten Ideologie entsprach. Und es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass relativ „human“ nur das Leben dreier Deggendorfer Juden verlaufen war: Zwei Schwestern Lauchheimer entkamen nach England, ein junger Jude Felix Scharf nach Palästina – und auch das war ein eingeschränktes Glück: Sie hörten viele Jahre nichts von ihren Großeltern, Eltern und einer Schwester, mussten aber nach dem Krieg verarbeiten, dass auch die den deutschen Mördern zum Opfer gefallen waren.

Nur 16 Jahre zuvor hatte der umstrittene Bischof Buchberger bereits einmal die bescheidene Bitte gelesen, die fürchterlichen Bilder, oder doch wenigstens die Texte unter den Bildern zu entfernen. Damals und noch bis 1967 war unter einem dieser Bilder über die Juden zu lesen: „Gott gebe, das von diesem Höllengeschmaiß unser Vaterland jederzeit befreyet  bleibe.“ Der von 1927 bis 1931 amtierende Regensburger Bezirksrabbiner Harry Levy (* 1893) hatte sie auf Anregung des Nürnberger Rabbiners Max Freudenthal brieflich geäußert.

Dr. Levy, der sich mit der chinesischen Sprache und Literatur befasste und ein aufgeklärter Liberaler war,  und der Bischof hatten einen freundschaftlichen Umgang mit gegenseitigen Privatbesuchen gepflegt.   Jetzt erfuhr Rabbiner Dr. Levy, wie gering die nach außen vom Bischof bekundete Wertschätzung war: Er wurde haarsträubend-haarspalterisch und mit einem Plädoyer für die Selbstjustiz abgefertigt: Die Bildunterschriften sprächen niemals vom Volk der Juden insgesamt, sondern  stets von einzelnen Juden. Der Maler habe lediglich dargelegt, dass Untaten einzelner Juden bestraft worden seien – und jeder rechtlich denkende Jude  müsse solchen Bestrafungen nach Straftaten ja zustimmen! Andererseits würde exakt in diesem Sinne jeder rechtlich denkende Katholik die der Hostienschändung folgende Erschlagung der Juden  verurteilen. Dabei wusste der Bischof, dass es keine Hostienschändung in Deggendorf gegeben hatte, wohl aber den Mord an den Deggendorfer Juden durch ihre Mitbürger, die sich ihrer Schulden und Zinspflichten bei den Juden entledigen wollten – ein typisches Mord- und Pogrommuster im mittelalterlichen Deutschland!

Der Anwalt und Notar Dr. Treitel, einige Jahre Stadtrat in Berlin, „hatte (in der von Wolf Wondratschek beschriebenen Art des guten Menschen), wie er sich bewegte, Stil. Er tat der Erde, auf die er seinen Fuß setzte, nicht weh. (…) Er gehörte zu jenen Menschen, die denen zuhören, die schweigen.(…) Er brauchte kein Marketing, sondern das Wissen allein, das sich in seinen  einsichtigen juristischen Gutachten niederschlug, verschaffte ihm sein hohes Ansehen. (…)“.  In Theresienstadt und später in Deggendorf war er, „der ohnedies so leise war, noch stiller geworden. Aber zugleich war er immer noch rasch entzündbar, wenn es um die Frage ging, wem das Leben gehöre: Mir! Uns!“ Dr. Treitel starb 1947 in Deggendorf.  

Ohne vom Brief Dr. Treitels zu wissen, meldete sich am 3. Dezember 1946 auch Dr. Leopold Kuenstler im  CUM OJFBOJ zu Wort: Die zwölf großen Bilder in der gotischen Deggendorfer „Grab“-Kirche  seien ein Schlag ins Gesicht aller Menschen guten Willens. Der Mann aus Palästina beschrieb die Geschichte des Mordes an den Deggendorfer Juden, die infamen Anschuldigungen gegen sie und die unselige Wallfahrt. Und er forderte die Entfernung der Bilder. Die Redaktion ergänzte dies  mit folgenden Hinweis: Eine jüdische Gruppe habe sich bei der (US-)Besatzungsmacht  über die antisemitischen Bilder beschwert, „ober, lajder, rezultatnloz!“ = aber leider ohne Ergebnis!

Die Feindseligkeit vieler Deggendorfer gegenüber den überlebenden Juden im DP-Camp 7 Deggendorf schlug sich noch in einem Bericht der DEGGENDORFER ZEITUNG vom 6. März 1952 nieder, geschrieben von dem Mitarbeiter ps (wahrscheinlich Peter Schäfer): „1945 wurde die Alte Kaserne von 2000 DP´s bezogen, die nicht gerade schonend mit dem Inventar umgingen und die in den folgenden Jahren langsam versickerten…“

Die gleiche Kälte, der eklatante Mangel an Emotionen  schlägt dem Leser aus wapedia Wiki: Deggendorf (1/2) entgegen: „Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs  wurde 1945 in Deggendorf ein DP-Lager  für so genannte Displaced Persons“  eingerichtet. Das Lager wurde im Juni 1949 aufgelöst. Es beherbergte bis zu 2000 Bewohner.“

Die Hinterlassenschaften einer entfesselten militaristischen und mörderischen deutschen Reichsregierung der NSDAP des Adolf Hitler empfand Schreiber ps = Peter Schäfer hingegen offenbar als eher romantisch: Denn an die Zeit der Infanteriesoldaten und der Unteroffiziers-Vorschüler in dem Komplex erinnerten ihn „der große Appellplatz hinter der Kaserne, die von unzähligen Nagelstiefeln ausgetretenen Steintreppen, die Nischen, in denen die Gewehrständer waren, das jetzt zu einer Fabrik ausgebaute Unteroffizierskasino usw….“. Ums Verrecken fiel ihm nicht ein, dass die DP 1945 in Räume eingezogen waren, in denen Mobiliar teilweise   aus der Zeit der Kreisirrenanstalt stand. Anderes hatte zur Raumausstattung der Soldaten gehört, die – zugegeben, zynisch ausgesprochen – ganz sicher sorgfältigst mit den Möbeln umgegangen waren!

Juiane Wetzel hat das Grundproblem angesprochen:  Misstrauen, teils uralte Vorurteile und offene Feindschaft schaukelten sich so auf, dass zum Beispiel deutsche Polzisten nach mehreren Zwischenfällen seit Anfang April 1946 die DP-Camps in der US-Zone nicht mehr betreten durften und die DP ausschließlich der Militärgerichtsbarkeit unterlagen. Eine Gesellschaft, die „Fremden“ eh nie sonderlich getraut hatte und in der Terrorzeit zwölf Jahre lang täglich gegen alles Fremde indoktriniert worden war, bis sogar geachtete Nachbarn zu „Feinden“ wurden, nur weil sie Juden waren – diese Gesellschaft bauschte nun jeglichen Vorfall übermäßig auf: Für sie waren die Juden per se Schwarzmarkthändler und kriminelle Schieber. Wer vor Hunger Obst aufklaubte, wer Bruchholz für die winzigen Schützengraben-Öfen einsammelte, wer – wie zahlreiche Deutsche ebenfalls  – hamsterte, galt als Verbrecher, zumal dann, wenn es um osteuropäische Juden ging.  Schwunghafter Schleichhandel wurde ihnen nachgesagt, jedem der Besitz  irrealer Riesensummen unterstellt  –  nur die deutsche Verantwortung gegenüber den NS-Opfern kam den meisten Deutschen nicht in den Sinn.

Dabei hatte Militärgouverneur General Lucius D. Clay  nach eingehenden Untersuchungen aller polizeilichen oder Gerichts-amtlichen Vorfälle und Anklagen scharf widersprochen: „Die unsichere Wirtschaftslage in Deutschland haben den Tauschhandel und Schwarzmarktgeschäfte zu einem allgemeinen Problem werden lassen. Selbst in diesem Bericht fallen die jüdischen Displaced Persons, verglichen mit anderen DP oder gar der deutschen Bevölkerung nicht besonders auf. In Anbetracht der Bedingungen; unter denen sie in Deutschland leben mußten, mit ungewisser Zukunft und schwer an ihrer Vergangenheit leidend, ist es meiner Meinung nach eine bemerkenswerte Leistung, wie sie Recht und Gesetz achten.“ Im Dezember 1948 ereigneten sich in der US-Zone  11.445 Schwarzhandelsvergehen. Die damals noch im Lande lebenden DP insgesamt waren an 401 Taten beteiligt, die jüdischen DP darunter an weniger als 200!

Sally Rosenberg aus Middle Village in den USA am 25. Februar 1947 an seinen Bruder Louis in Deggendorf:  „Wie denkst Du denn über den Antisemitismus in Deutschland? Ein Glück, dass in Deutschland keine jüdischen Geschäftsleute (mehr) sind, dann wären doch sicher am `schwarzen Markt´ nur die Juden  schuld und `bewucherten´das Volk. So ist es nun so, dass der schwarze Markt auch in christlichen Händen liegt, aber denen wird es nicht übel genommen und die Juden würde man aufhängen wollen.“

Margot Kleinberger:  „Auf dem Schwarzmarkt tauschten meine Eltern auch Schuhe für mich ein, dass ich endlich richtige Schuhe hatte. (…) Die überlebenden Juden hatten alle keine Einnahmen und fingen daher an, schwarz mit Zigaretten  und Kaffee zu handeln. Sie bildeten Gruppen, so dass sie vom Erlös immer neue Waren kaufen konnten.“  In einen deutschen Regionen entwickelte sich dieser Handel aus der Hamsterei  der Ärmsten und Verhungernden mit Beteiligten aus zahlreichen Nationen, darunter auch alliierten Soldaten, so umfangreich, dass Flugzeuge aus Südamerika mit ungeröstetem Kaffee landeten. „Auch jüdische Lastwagenfahrer hatten von den Gruppen Geld bekommen. Sie bekamen die Ware aus den landenden Flugzeugen und die Lastwagen fuhren in alle Richtungen und brachten den Gruppen den Kaffee.“

Angesichts der vorherrschenden Vorurteile gegen die Juden war folgender Vorfall typisch: Am 8. Juni 1947 fuhr ein Mitglied des Jewish Committee Landshut von Landau an der Isar nach Landshut. In seinem Gepäck hatte der Reisende ein altes Radio. Am selben Tag war in Plattling ein Radiogerät gestohlen worden, was der Polizei angezeigt wurde. Bei der üblichen Kontrolle der Bahnreisenden beschuldigte ein Polizist den Juden des Diebstahls und nannte ihn „Schwarzhändler“.  Der Jude wehrte sich: „Ebenso wenig wie Sie bin ich ein Schwarzhändler!“ Sofort prügelten nun der Polizist und ein Kollege mit den Händen und den Gummiknüppeln auf den Juden ein, der mit einer Kopfverletzung ins UNRRA-Krankenhaus Straubing eingeliefert werden musste. Der Ungar Johann Foltin aus der Martinsschule in Landshut/Neustadt  wurde Zeuge der Brutalität gegenüber einem unschuldigen Menschen. Das Radio musste diesem zurückgegeben werden, die Polizisten mussten sich entschuldigen und wurden später nicht in den Staatsdienst übernommen.

Wie tief die Naziideologie in den Menschen saß, erwies sich auch daraus,  dass zwischen Januar 1948 und Mai 1957 in Deutschland über 170 antisemitische Vandalenaktionen angezeigt wurden! Dass in jener Zeit wiederholt Juden aufgefordert wurden, Deutschland zu verlassen!  Chaim Frank schrieb in den Jahren 1992 bis 2001 für das Dokumentations-Archiv München:  „Keiner der Überlebenden hatte damals, im April 1945 (…) gedacht, daß sich je wieder Juden im `Land der Mörder´ niederlassen würden. Der Schock, den das tausendjährige Reich hinterließ, saß einfach zu tief. Zu viele Menschen hatten sich am nationalsozialistischen Rassenwahn, an der Deportation, am Raub, am Mord und direkt durch das Stillschweigen an der Vernichtungspolitik beteiligt. Sie alle zeigten nach 1945 keine wesentliche Reue für ihre Verbrechen, wiesen alle Schuld weit von sich und wollten sich einfach nicht mehr an ihre unrühmliche Vergangenheit  erinnern lassen. Mit Argwohn betrachteten die ehemaligen Nazis die Rückkehr einzelner überlebender Juden in ihre Städte.“ In Deggendorf war es nicht eine Person, in München 200 von einstmals 12.000 – aber dieser klägliche Rest musste mühselig ausfindig gemacht werden. Auf Dauer zurückkehren wollte kaum einer. Der DONAU KURIER in Ingolstadt schrieb am 4. Mai 1947, dass immer häufiger Kaufleute und Gastwirte sich weigerten, Juden etwas zu verkaufen bzw. einzuschenken. Woher die Umgebung Juden erkannte? „Die meisten lebten ja in den DP-Camps. Das kennzeichnete sie wie einst der Judenstern“, sagt Gemeindevorsteher Ignaz Offmann in Straubing. ((R. Klüger: Weiter leben, dtv 17. Auflage 2010 S. 8; M. Eder: Die Deggendorfer Gnad, Stadt Deggendorf (Hg.), 1992, S. 410 f. Die exakten Angaben zur Familie Treitel verdanke ich einer Mail vom 13. 04. 2011, die mir Sir Guenter Treitel, em. Rechts-Professor in Oxford geschrieben hat, und Museum + Archiv Jad Vashem; ferner Akademische Persönlichkeiten in WIKIPEDIA, aufgerufen am 10. 1. 2011;  H. Gertz: ACH, Süddeutsche Zeitung Nr. 73 vom 26./27. 3. 2011, Die Seite 3;  J. Wetzel: Displaced Persons, aus Politik und Zeitgeschehen, B 7-8/95, S. 34ff; M. Kleinberger: Transportnummer VIII./1 387 hat überlebt, Piper Verlag München Zürich, 2009, S. 164; Polizeiübergriff auf einen jüd. Aktivisten aus Landshut ZEUGENAUSSAGE vom 9, Juni 1947 im Archiv Westerholz; Gespräche mit I. Offmann/Straubing seit 1970, vergl. auch S. M. Westerholz: Kranke krepierten natürlich wie das Vieh … über das KZ Plattling, Ebner-Verlag Deggendorf, 2005; Liste der Mitarbeiter der Deggendorfer Militärregierung im Besitz des Autors.))

–> Fortsetzung

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