Vor 100 Jahren tagte der 10. Zionistenkongress in Basel

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Zwischen dem 9. und 15. August 1911 tagte in Basel der zehnte Zionistenkongress. Er wird oft als „Friedenskongress“ bezeichnet, da es zu einer endgültigen Einigung zwischen praktischen und politischen Zionisten kam. Der synthetischer Zionismus hatte sich durchgesetzt. Der Kongress wurde außerdem erstmals offiziell in Hebräisch abgehalten. Otto Warburg, ein deutscher Botaniker, wurde zum Nachfolger David Wolffsohns als Präsident der Zionistischen Weltorganisation, die ihre Büros im Anschluss an den Kongress von Köln nach Berlin verlegte, gewählt. Aus Anlass des 100. Jahrestages des Kongresses dokumentieren wir die Eröffnungsrede von David Wolffsohn…

I. Tag
Mittwoch, den 9. August 1911
VORMITTAGS-SITZUNG
Beginn: 10 Uhr 20 Minuten

Präsident David Wolffsohn (mit stürmischem, langandauerndem Beifall und Händeklatschen, Hüte- und Tücherschwenken im Saale und auf der Galerie begrüßt, spricht zuerst hebräisch):

Geehrter Kongreß! Zum zehnten Male sind wir heute versammelt und dieses Mal wiederum in Basel, der schönen gastfreundlichen Stadt, in der wir zum ersten Male, dem Rufe Theodor Herzl’s folgend, uns von allen vier Enden der Welt zusammengefunden haben.

Damals, vor genau vierzehn Jahren, haben wir den Grundstein gelegt, auf dem wir die zionistische Organisation aufgebaut; damals haben wir zum ersten Male der ganzen Welt offen und frei verkündet, daß wir uns als Mitglieder der jüdischen Nation fühlen, daß wir eine Nation sind und sein wollen. (Beifall.) Das war ja eigentlich selbstverständlich, aber es klang neu und rief das Erstaunen selbst unserer eigenen Volksgenossen hervor, und auch vielseitigen Widerspruch.

(Deutsch fortfahrend): Wir aber sind unseren Weg, den wir als den richtigen erkannt hatten, weitergegangen. Wir haben Rat gehalten und uns alle darin einig gefunden, daß in der Heimatlosigkeit unseres Volkes unser großes Unglück liegt, unser großes, tausendjähriges Leid begründet ist. Wir sind zu dem Schlüsse gelangt, daß es für uns nur ein Heilmittel gibt: Wir müssen eine Heimstätte auf dem Boden unserer Väter, in Erez-Israel, errichten, die öffentlich-rechtlich gesichert zu sein hat. Diese Idee haben wir damals nicht erst entdeckt. Nicht Herzl und nicht wir sind die Erfinder des Zionismus gewesen, der so viel Jahrtausende alt ist, wie unser Volk selbst. Was wir damals geschaffen, das war die Organisation! Die große Tat Herzls besteht hauptsächlich darin, daß er die Zerstreuten von allen vier Enden der Welt zusammengeführt und zu gemeinsamer Arbeit organisiert hat, daß er den alten Wünschen und Hoffnungen unseres Volkes die neue faßliche Form gegeben, daß er den gewaltigen Versuch unternommen hat, die erhabene zionistische Idee in die Tat umzusetzen und durch die Schaffung unserer Organisation ihre Verwirklichung zu ermöglichen.

In unserer ersten Begeisterung haben wir geglaubt, daß alle unsere Volksgenossen mit uns einer Meinung sein werden, daß besonders die Führer in Israel und die Rabbiner uns helfen werden, die große Arbeit zu vollbringen. Es kam aber anders. Gerade die, die in erster Linie dazu berufen gewesen wären, uns beizustehen, haben uns im Stiche gelassen. Nein, schlimmer noch! Sie bekämpften uns und erschwerten unsere mühsame Arbeit!

Wenn wir jetzt auf die verflossenen vierzehn Jahre zurückblicken, auf die mühevolle, schwere Arbeit, die wir getan, auf die großen Opfer, die wir gebracht, auf die herben Verluste, die wir erlitten, dürfen wir dennoch Befriedigung und einigen Stolz über das empfinden, was wir geschaffen haben, und daraus wieder neue Kräfte und neue Hoffnungen für die Zukunft schöpfen.
Vor vierzehn Jahren war der Zionismus eine Sensation, heute ist er eine feststehende Tatsache! (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Die Stellung, die der Zionismus sich im Judentum errungen, kann ihm nicht mehr genommen werden.

Vom ersten Tage an sind wir uns stets bewußt gewesen, wie schwer unsere Aufgabe ist. Auch jetzt wissen wir, daß wir noch am Anfange ihrer Verwirklichung stehen, daß wir noch viel, sehr viel zu tun haben, bis wir unser Ziel erreicht haben werden! Aber das dürfen wir ohne Uebertreibung schon jetzt sagen: Ein großes Stück vorwärts sind wir doch gekommen! (Lebh. Beifall und Händeklatschen.) Die Saat, die wir ausgestreut, beginnt zu keimen und schießt schon hier und da in die Halme. Die Hebung unseres Volksbewußtseins hat Fortschritte gemacht, die Liebe zum Judentum, zu der hebräischen Sprache und zum Lande unserer Väter hat in Tausenden jüdischer Herzen tiefe Wurzeln geschlagen und ergreift immer weitere Kreise, die früher abseits gestanden. (Beifall.) Die jüdische Jugend, unsere Zukunft, beginnt uns zu verstehen und am zionistischen Ideal einen Halt zu finden. Die Institutionen, die wir uns geschaffen, haben sich bewährt. Unser finanzielles Instrument, die Jüdische Kolonialbank, hat es ermöglicht, neue Finanzinstitute zu schaffen, die segensreich in Palästina wirken. Der Jüdische Nationalfonds und alle unsere anderen Gründungen und Einrichtungen, über die Sie hier Berichte erhalten werden, entwickeln sich gut. Unsere Organisation wird immer fester und gewinnt immer mehr an Sicherheit und Kraft. Wohl ist vieles noch der Verbesserung bedürftig, aber die Anfangsschwierigkeiten sind überwunden, und eine feste Grundlage für den weiteren» Aufbau ist geschaffen. Der Bestand unserer Organisation ist für alle Zeiten gesichert! (Beifall.)

Geehrter Kongreß!

Blicken wir auf die allgemeine Lage unseres Volkes in den letzten vierzehn Jahren zurück, so können wir eine Besserung nicht konstatieren, viel eher eine bedeutende Verschlechterung!

In Rußland, wo die Hälfte unseres Volkes lebt, seufzen noch sechs Millionen Juden unter fürchterlichem, unerträglichem Drucke. Die Lage hat sich dort bis zur Unleidlichkeit verschlimmert, und die Aussichten in die Zukunft sind überaus düster.

In Rumänien, nach Rußland dem zweiten Leidenslande, bestehen die Feindseligkeiten gegen die Juden noch zumindest in demselben Maße, wie zuvor. Noch werden unsere Brüder dort, trotz des Berliner Vertrages, als Fremde behandelt, und zwar im grausamen Gegensatz zum biblischen, zum jüdischen Prinzip, daß selbst den Fremden Gastfreundschaft und gleiches Recht gewährt werden muß.

In Galizien, wo eine Million unserer Brüder lebt, haben die Not und das Elend, trotz der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung, immer noch nicht abgenommen. Die materielle Not wächst dort ebenso wie die moralische Judennot, unter der wir in vielen Ländern gemeinsam leiden.

In Amerika und England, den neuen Zufluchtsstätten der Juden, werden jetzt nach dem alten ägyptischen Prinzip „Pen Jirbu“ — „daß ihrer nicht zuviel werden“ — Absperrungsmaßregeln gegen die jüdische Einwanderung getroffen. Der Antisemitismus findet auch in die neue Welt seine Wege und dringt in große Schichten der Bevölkerung ebenso ein, wie hier in der alten Welt mit unseren alten Leiden.
Nirgends spüren wir eine Besserung. Ueberall lauert der gleiche Haß gegen uns, überall die Ausschließung. Und selbst in den wenigen Ausnahmeländern, die bis jetzt als immun gegen den Antisemitismus gegolten, sehen wir ihn drohend sein häßliches Haupt erheben.

Den einzigen Lichtpunkt, die einzige Besserung, sehen wir in der Türkei. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Dort haben unsere Brüder nach den politischen Umwälzungen der letzten Jahre die gleichen Vorteile von der errungenen Freiheit erhalten, wie die übrige Bevölkerung des ottomanischen Reiches. Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung, die dort den Juden gewährt wurde, ist allem Anscheine nach ernst gemeint. Sind doch die Türken stets freundlich zu den Juden gewesen und haben sie doch schon in jener finsteren Zeit, als wir überall geächtet und verfolgt wurden den aus Spanien vertriebenen Juden Gastfreundschaft und ein Asyl gewährt. Mit dieser Tatsache haben wir gleich von vornherein gerechnet und rechnen auch heute mit ihr, obgleich sich anscheinend gegenwärtig auch dort Strömungen bemerkbar machen, die sich gegen den Zionismus richten. Diese durch Unkenntnis oder gar Böswilligkeit einzelner hervorgerufenen Stimmungen können nicht von langer Dauer sein, weil sie auf falschen und unwahren Voraussetzungen beruhen. Traurig und schmerzlich ist es für uns nur, daß auch einzelne Juden, Söhne unseres eigenen Stammes, mithelfen, die öffentliche Meinung gegen uns aufzubringen, ohne zu bedenken, daß sie damit das Wohl der jüdischen Gesamtheit gefährden. Die Wahrheit wird aber durchdringen, und mit ihr die Erkenntnis, daß der Zionismus dem ottomanischen Reiche ebensoviel Vorteile und Nutzen bringt, wie dem jüdischen Volke selbst. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)

Das ottomanische Reich ist Jahrhunderte hindurch wirtschaftlich vernachlässigt worden; es ist auf eine Einwanderung nützlicher Elemente jetzt mehr als jemals zuvor angewiesen. Bessere, nützlichere und loyalere Einwanderer als die heimatlosen Juden aber wird es niemals und nirgends finden!

Vorläufig ist diese Erkenntnis dort noch nicht durchgedrungen. Die Debatten in der türkischen Kammer über den Zionismus haben deutlich gezeigt, wie wenig noch unsere Bestrebungen in vielen türkischen Kreisen bekannt sind, wie vollständig sie auch von solchen, die sie dem Namen nach kennen, verkannt werden. Unsere Schuld ist es aber nicht, daß über uns allerlei Märchen und Lügen verbreitet werden. Von der ersten Stunde an haben wir alle unsere Verhandlungen in der vollsten Oeffentlichkeit geführt. Nicht ein einziges Mal haben wir hinter verschlossenen Türen getagt, nicht ein einziges Mal geheime Sitzungen abgehalten, weil es bei uns eben keinerlei Geheimnisse gibt und wir nichts zu verbergen haben! (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)

Wir haben feierlichst erklärt, daß wir in der Gesetzgebung der freiheitlichen Türkei die Garantien für unsere persönliche und nationale Sicherheit erblicken, daß es unser Bestreben ist, unsere Wohlfahrt und unser Schicksal mit dem des ottomanischen Reiches zu verknüpfen, indem wir uns in einem Teile dieses Reiches, in Palästina, auf dem Boden unserer Väter, eine Heimstätte errichten wollen. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Nur grobe Unkenntnis oder Bosheit können es fertig bringen, uns nachzusagen, daß wir die Lostrennung Palästinas vom ottomanischen Reiche erstreben, daß wir ein selbständiges, jüdisches Königreich errichten wollen. Den Leuten, die solches behaupten, scheint — soweit sie es ehrlich meinen — eine Verwechslung des Zionismus mit dem alt- und neutestamentlichen Messiasglauben vorzuschweben. Es ist ja richtig, daß Millionen Juden, und die gesamte gläubige Christenheit, an die messianische Zeit, die mit der triumphierenden Rückkehr der Juden nach Palästina verknüpft ist, fest glauben. Auch unsere grenzenlose Liebe für Palästina verdankt diesem Glauben ihren Ursprung, aber niemals ist es uns modernen, praktischen Zionisten eingefallen, messianische Tendenzen in unsere Bewegung hineinzutragen. Niemals haben wir mit den religiösen Gefühlen der vielen Millionen Gläubigen ein solches frevelhaftes Spiel zu treiben uns unterfangen. (Beifall.)

Um das Kindermärchen glaubhafter zu machen, daß wir ein jüdisches Königreich in Palästina gründen wollen, wird auch versucht, uns Herzls Buch „Der Judenstaat“ als die Grundlage unserer Bewegung entgegenzuhalten. Aber gerade dieses Argument ist der beste Beweis für die Unrichtigkeit solcher Behauptungen. Als Herzl den Judenstaat schrieb, kannte er den Zionismus kaum. Er hatte die grandiose Idee, die brennende Judenfrage radikal zu lösen durch die Gründung eines Judenstaates irgendwo in der Welt, wo ein freies Territorium dafür zu haben wäre. Als Herzl aber mit uns Zionisten in Fühlung trat, als er den Zionismus kennen gelernt hatte und wir unter seiner Leitung den ersten Zionistenkongreß hier in Basel abhielten, da war von einem Judenstaat nicht mehr die Rede. (Lebhafter Beifall.) Klipp und klar haben wir in unserem Programm unsere Wünsche, unsere Hoffnungen und unser Ziel zum Ausdruck gebracht und festgelegt: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“. (Stürmischer Beifall.) Nicht einen Judenstaat, sondern eine Heimstätte, auf dem alten Boden unserer Väter, in der wir uns als Juden, ohne verfolgt und bedrängt zu werden, national ausleben können. (Erneuter stürmischer Beifall.) Dazu brauchen wir die öffentlich-rechtliche Sicherung!

Wie diese zu erreichen ist, hängt von den politischen Verhältnissen ab. Unter dem alten Regime stellten wir Wünsche auf, die den damaligen Verhältnissen angepaßt waren. In der neuen freiheitlichen Türkei erblicken wir — ich wiederhole es — in den konstitutionellen Einrichtungen die volle Garantie unserer persönlichen und nationalen Sicherheit. Was wir aber verlangen müssen, ist, daß dem jüdischen Einwanderer in Palästina die Möglichkeit gegeben wird, das ottomanische Bürgerrecht ohne jedwede Einschränkung zu erlangen, und daß er dann den jüdischen Volkssitten entsprechend ungehindert leben kann. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Diese Garantie, die uns nur durch das öffentliche Recht gesichert werden kann, müssen wir verlangen, in unserem eigenen Interesse, aber auch im Interesse des ottomanischen Reiches selbst. Denn nur als freies, allen anderen ottomanischen Völkern gleichgestelltes Volk werden wir in der Lage sein, das zu leisten, was ein Volk wie das unsrige zu leisten vermag, zum Nutzen des gesamten ottomanischen Reiches ebensosehr wie zu unserem eigenen Wohl. (Beifall und Händeklatschen.) Denn es ist unser Traum und sehnlicher Wunsch, in einem blühenden und mächtigen ottomanischen Reiche ein blühendes und glückliches jüdisches Volk zu sein. (Langanhaltender stürmischer Beifall und Händeklatschen.)

Das und nichts anderes ist unser Ziel. Dieses Ziel ist groß und erhaben, denn es birgt in sich die helle Zukunft unseres Volkes. Wir müssen uns stets bewußt bleiben, daß unser Ziel nicht rasch, nicht ohne schwere Arbeit zu erreichen ist, daß wir alle unsere besten Kräfte einsetzen und uns mit Geduld und Ausdauer, vor allem aber mit Mut ausrüsten müssen. Unsere gefährlichsten Feinde, die wir mit der größten Energie bekämpfen müssen, sind der Kleinmut und die Schwachgläubigkeit. (Zustimmung.) Diese Feinde könnten uns dazu verleiten, bei der ersten Schwierigkeit die Flinte ins Korn zu werfen, unser Baseler Programm einzuschränken und den jeweiligen Zeitumständen anzupassen. Eine solche Politik würde dazu führen, daß wir und alle anderen den Glauben an uns selbst verlören und daß niemand uns noch ernst nehmen würde!

Unsere Parole muß sein: Standhaft, fest und treu! (Lebhafter Beifall.) Standhaft zu unserem Programm, fest das hohe Ziel im Auge und treu unserer Sache und uns selbst! (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)

Mit diesen Gedanken, geehrter Kongreß, wollen wir an die Aufgaben herantreten, die unser hier harren.

Als eine der wichtigsten Aufgaben dieses Kongresses betrachte ich die endliche Verabschiedung des Organisationsstatuts. Der Entwurf, der Ihnen hier im Druck vorliegt, ist in mühevoller und langwieriger Arbeit zustande gekommen. Er hat gewiß manche Mängel und wird in vielen Punkten wohl nicht alle Wünsche befriedigen und daher kleine Abänderungen erfordern. Er enthält aber große und wichtige Verbesserungen gegen den bisherigen Zustand, unter welchem unsere Organisation bislang zu leiden hatte.

Es ist bedauerlich, daß bei uns bisher nur ein kleiner Kreis ein wirkliches Interesse und ein richtiges Verständnis für die Notwendigkeit guter Organisationsformen gezeigt hat. Das Statut einer jeden Organisation gleicht dem Fundament eines Gebäudes. Nur auf einem festen sicheren Fundament kann ein gutes, dauerhaftes Gebäude errichtet werden. Unser Organisationsstatut ist unsere Verfassung, und es sollte doch jedem einleuchten, welcher Wert und welche Bedeutung der Verfassung menschlicher Gemeinschaften beizumessen ist. Und gerade bei unserer Organisation, deren Mitglieder räumlich weit voneinander getrennt sind, und deren Mehrzahl zu individualistisch veranlagt ist, um sich leicht in eine Gesamtheit einzufügen, müßte die Verfassung eine viel größere Rolle spielen. Die Ansicht, daß das Organisationsstatut nur eine formale Nebensache, daß nur die Idee von alleinigem Wert für unsere Bewegung sei, ist eine völlig irrige! Gewiß, zuerst die Idee, und dann die Tat. Aber Ideen ohne Tat, Ideen, die in der Luft schweben und nicht verwirklicht werden können, sind genau wie schöne Luftschlösser. Selbst die größten und genialsten Ideen, und die erst recht, erhalten erst ihre reale Bedeutung, wenn sie in praktische Taten umgesetzt werden. Die treibende Kraft ist die Idee, die schaffende Kraft aber liegt in der Organisation! (Lebh. Beifall und Händeklatschen.)

Auch unsere ungünstige Finanzlage ist auf Schäden in unserer Organisation, denen wir abhelfen müssen, zurückzuführen.

In unseren Reihen fehlt es durchaus nicht an Opferwilligkeit. Im Gegenteil, bei uns herrscht eine Opferfreudigkeit, wie wir sie kaum bei einer anderen Bewegung finden. Nur der Plan- und Ziellosigkeit und der Unregelmäßigkeit in der Eintreibung der Beiträge und Spenden ist die Schuld an den ungünstigen Ergebnissen für die zentrale Organisation beizumessen. Auch diesem Uebelstand ist durch ein gut gefügtes, ein zu straffer Disziplin zwingendes Statut wenigstens teilweise abzuhelfen. Sie werden daher diesem Punkte der Tagesordnung Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit widmen müssen. Um unser Budget auf eine gesunde, feste Grundlage zu stellen, hat die Leitung eine Besteuerung unserer Finanzinstitutionen dem vorigen Kongresse vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hat aber die Zustimmung des Kongresses nicht gefunden, und es wird daher jetzt unsere Aufgabe sein müssen, neue Einnahmequellen, sei es durch Erhöhung des Schekels oder durch Einführung sonstiger Beiträge, zu schaffen.

Zum ersten Male wird uns auf diesem Kongresse die Emigrationsfrage beschäftigen. Die Regelung der Emigration, so eminent wichtig sie auch ist, gehört nicht zu unseren direkten Aufgaben, und obgleich wir uns hüten müssen, unsere Kräfte, die unserem eigenen Ziele gewidmet bleiben müssen, zu zersplittern, haben wir dennoch nie aufgehört, diesem überaus wichtigen Problem unsere ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Nicht nur, daß an allen Orten, wo die Auswanderung organisiert ist, eine außerordentlich große Anzahl Zionisten die anerkannt besten Dienste leisten, auch direkt haben wir uns schon mit diesem Problem beschäftigt. Ich erinnere nur an die Brüsseler Konferenz, die wir im Januar 1906 nach den fürchterlichen Pogromen zur Regelung der jüdischen Emigration einberufen haben. Unsere Bemühungen scheiterten damals hauptsächlich an dem Widerstande der Alliance Israelite Universelle und der Jewish Colonization Association, die durch die Personalunion ihres Vorstandes mit der Alliance eng liiert ist. Wir haben damals in dem Glauben gelebt, daß die Alliance, deren Devise lautet: „Kol Jisrael arebim seh baseh“, „Alle Juden sind einer für den andern verantwortlich“, selbst in erster Linie soviel Verantwortungsgefühl haben würde, daß sie in jener Schreckenszeit, in der Hunderttausende unserer russischen Brüder zum Wanderstabe greifen mußten, unsere und anderer großen jüdischen Organisationen Mitarbeit bei der Brüsseler Konferenz nicht zurückweisen würde. Wir haben uns damals getäuscht, wie auch vor kurzer Zeit, als wir uns an die Alliance mit der Bitte gewandt haben, sie möchte uns helfen, den von einzelnen Juden in der Türkei gegen den Zionismus geführten Verleumdungsfeldzug, der sich zu einer Gefahr für die gesamte türkische Judenheit ausgewachsen hatte, zu beenden.

Wir aber werden uns nicht beirren lassen und werden nach wie vor im Sinne unseres Arbeitsprogrammes unsere Aufmerksamkeit dem Emigrationsproblem zuwenden, dem Probleme, das für einen großen Teil unseres Volkes die ganze Schwere des Galuth verkörpert.

Auch mit unserer nationalen Sprache werden wir uns diesmal eingehender als zuvor beschäftigen. (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.) Die hebräische Sprache, ein Hauptbestandteil unserer jüdischen Kultur, hat stets unsere innigste Liebe und unser höchstes Interesse gefunden. (Beifall.) Haben wir doch sogar, der Zeit vorauseilend, Hebräisch zur offiziellen Sprache des Kongresses bestimmt. Die zionistische Organisation kann und soll aber auf diesem Gebiete nicht alles allein tun. Wir haben kleine Anfänge gemacht, einige hebräische Zeitungen mit Mühe und großen Opfern gegründet, die Herausgabe hebräischer Werke unterstützt. Aber unsere Aufgabe kann sich naturgemäß nur darauf beschränken, Anregungen zu geben und allen Unternehmungen auf diesem Gebiete unsere moralische und in beschränktem Maße unsere materielle Unterstützung zu gewähren. Zu unserer Freude ist jetzt die Histadruth, die Organisation für hebräische Sprache und Kultur, entstanden, die gewiß unserer aller Unterstützung sicher sein kann. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)

Der Frauenarbeit im Zionismus haben wir bis jetzt keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wir haben unsern Frauen von vornherein volles und gleiches Recht gegeben, aber die Pflichten, die mit diesem Rechte verbunden sein müssen, nicht deutlich genug umschrieben und nicht ernstlich genug gefordert. Wir müssen es jetzt endlich tun und müssen unseren Frauen den Weg zeigen zu einer ersprießlichen zionistischen Arbeit, damit auch sie ihre Pflichten erfüllen und, wie einst unsere Mütter in alter Zeit, an der Erlösung unseres Volkes mitarbeiten können.

Die allerwichtigste Aufgabe aber, die Sie diesmal zu lösen haben, ist die Einsetzung einer neuen Leitung. Ich trete von der Leitung zurück, weil ich muß. Ich muß es tun, sowohl im Interesse der Bewegung, als auch im Interesse meiner geschwächten Gesundheit, die mir Ruhe gebietet und es mir nicht mehr gestattet, der erste Diener unserer Organisation zu bleiben.

Geehrter Kongreß!

Die Geschichte unserer jungen Bewegung ist in zwei Perioden einzuteilen. Die erste, die Glanzperiode mit Herzl an der Spitze, spielte sich in Wien ab. Es ist geradezu sündhaft, wenn jetzt versucht wird, die Bedeutung dieser großen Zeit herabzusetzen und zu behaupten, daß sie praktisch nicht produktiv gewesen sei. (Stürmischer, langandauernder Beifall und Händeklatschen.) Die größten praktischen Arbeiten sind gerade in diesem Zeitabschnitt geleistet worden. Die Organisation selbst, der Kongreß, die jüdische Kolonialbank, die Anglo-Palestine-Company und der Jüdische Nationalfonds, lauter Institutionen, die die Grundsäulen unserer Bewegung geworden sind, der feste Kitt, der unsere Organisation in den allerstürmischsten Zeiten zusammengehalten hat und noch jetzt zusammenhält. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Allerdings waren diese Schöpfungen, wie es auch nicht anders sein konnte, noch nicht fest gefügt, da uns damals doch noch jede Erfahrung auf diesem ganz neuen Gebiet gefehlt hat.

Erst der zweiten Periode, die ich als die „Kölner“ bezeichnen will, ist die Festigung und der Ausbau dieser Institutionen vorbehalten geblieben. Diese Kölner Periode hat unter den denkbar ungünstigsten Umständen begonnen. Dr. Herzl, der Schöpfer unserer modernen Bewegung, der geniale Führer, der Moses unserer Zeit, war mitten in seinem Wirken plötzlich gestorben. Der Ugandastreit tobte in allen Ecken und brachte uns das Schlimmste, was eine junge Bewegung treffen kann, den Riß, die Spaltung. Gleich darauf brach in Rußland die Schreckenszeit der Pogrome herein, die unsere Organisation dort lahmlegte und eine Zeitlang nicht nur die Leitung, sondern auch die gesamte Organisation gänzlich in Anspruch nahm. So folgte Schlag auf Schlag, und es erforderte mehrere Jahre, bis wir uns erholen und wieder sammeln konnten. Mit Einsetzung der größten Energie ist es uns schließlich doch gelungen, manche Schäden auszubessern, die in der ersten Periode begonnenen Arbeiten zu entwickeln und auch manches Neue hinzuzufügen.

Unsere Organisation wurde fester, die Banken einträglicher, und der Nationalfonds erreichte den jetzigen hohen Aufschwung. Außer den Filialen der Anglo-Palestine-Company haben wir in dieser Periode die Anglo Levantine Banking Company neu geschaffen. Eine gute zuverlässige Vertretung an den wichtigsten Punkten, in Palästina und in der Hauptstadt des türkischen Reiches, haben wir uns eingerichtet und in allen Zweigen unserer Verwaltung uns einen tüchtigen Beamtenstab herangebildet. (Beifall) Die Siedlungsgenossenschaft und noch eine ganze Reihe anderer Institutionen sind teils direkt von uns gegründet, teils indirekt durch unsere Mithilfe entstanden, und andere sind noch in der Entstehung begriffen. Dies, geehrter Kongreß, sind die praktischen Leistungen der zweiten, der Kölner Periode! (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Der zionistische Geist hat auch in dieser Zeit nicht geruht. Wir hören seine Schwingen lauter und kräftiger rauschen als jemals zuvor.

Mit diesem Kongreß treten wir in den dritten Zeitabschnitt der zionistischen Geschichte ein, in eine neue Periode. Diese beginnt erfreulicherweise unter günstigeren und glücklicheren Bedingungen als die vorherige. Möge sie auch fernerhin vom Glücke begünstigt werden und möge es ihr gelingen, uns zum heißersehnten Ziele zu führen, nach Zion. (Stürmischer, langandauernder Beifall und Händeklatschen.)

Geehrter Kongreß!

Im Namen des Großen und Engeren Actionscomités und auch in meinem eigenen Namen begrüße ich Sie alle, die Delegierten und auch die Gäste, die hergekommen sind, um unserem Zehnten Kongreß beizuwohnen! Möge dieser Kongreß seine hohe Mission erfüllen und seine Aufgaben glücklich lösen. Möge er uns vor allem das bringen, was uns am meisten nottut, die Einigkeit. (Erneuter, stürmischer Beifall und Händeklatschen.) Die Uneinigkeit hat viel dazu beigetragen, daß wir von unserem Land entfernt worden sind. Nur durch Einigkeit können wir die Rückkehr ins Land beschleunigen. Einigkeit und Einheit muß unser Losungswort sein. Ein Gott, ein Volk, eine Sprache, ein Land, ein Zionismus! (Stürmischer, langanhaltender, sich immer wieder erneuernder Beifall und Händeklatschen im Saale und auf der Galerie. — Hüte- und Tücherschwenken im Saale und auf der Galerie.)

Präsident Wolffsohn (hebräisch):

Ich eröffne den Zehnten Kongreß!“

–> Grundlagentexte des Zionismus

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