Wie schön sind deine Zelte, Jakob

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Die Zeltrevolution in Israel – eine Zusammenfassung…

Von Benjamin Rosendahl

Am Anfang war Daphna Lif. Als sich die 26-jährige Filmstudentin an jenem geschichtsträchtigen Datum – dem 14. Juli, Jahrestag der Stürmung der Bastaille – entschloss, mit ihrem Zelt auf dem Rothschild-Boulevard in Tel-Aviv niederzulassen, da war das nicht mehr als ein Kurios. Die meisten Tel-Aviver interessierten sich an dem Tag eher für die kostenlose Freilicht-Oper im Park ha-Yarkon, und weder die Medien noch die Politiker schenkten dieser Aktion viel Aufmerksamkeit. Der Grund für die Zelt-Aktion waren die hohen Mietpreise Israels (und Tel-Avivs im Besonderen), derentwegen Daphna aus ihrer Wohnung herausgeschmissen wurde. Sie berichtete über ihre Aktion bei Facebook und schon am selben Abend gesellten sich einige „Camper“ zu ihr.

Die Anzahl der Zelte auf dem Rothschild-Boulevard vermehrte sich in den nächsten Tagen, und wurde zum Zeichen der frustrierten Mittelklasse Israels, die trotz gutbezahlter Vollzeitarbeit kaum über die Runde kommen – hohe Mietpreise (oft die Hälfte des Gehalts), teure Lebensmittel, schwer erschwingbare Kindergärten, Benzin, die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Und während die Mittel- und Arbeitsklasse ums Überleben kämpft, bereichern sich in Israel die Tycoone ins Unendliche, was auch einer der Gründe für die Wahl des Rothschild-Boulevards war: „If I was a Rothschild…“ war einer der ersten Slogans.

Innerhalb der ersten Woche wuchs die Anzahl der Zelte bis auf einen Häuserblock – und mit ihr das Medieninteresse. Politiker, die sich erhofften, mit einem kamerabegleiteten Auftritt Kapital zu schlagen und Stimmen zu fangen, wurden – wie der Bürgermeister Ron Huldai und die Likud-Ministerin Miri Regev – von den wütenden, meist jungen Menschen, verjagt. Wer sich allerdings Zeit nahm, mit den Protestierenden zu sitzen und zu diskutieren, wie z.B. Nitzan Horovitz (Meretz) und Dov Henin (Chadash), dem wurde zugehört.

Kritik gab es von Anfang an: Es handele sich um „verwöhnte Tel-Aviver“, die den ganzen Tag im Café sitzen, und sich dann wundern, dass sie sich keine Wohnung kaufen können, und die nicht bereit wären, irgendwo anders als in Tel-Aviv, der teuersten Stadt des Landes, zu leben. „Lebt doch in der Peripherie, Ihr verwöhnten Sushi-Esser und Nargila-Raucher“, hörte man die Kritiker sagen. „Was diese Menschen vergessen“, sagte eine Sprecherin aus Kiryat-Shmone bei der ersten Massendemonstration, bei der Zehntausende marschierten – und das am Samstagabend, wo das Finale von „Kochav Nolad“ (der israelischen DSDS) gesendet wurde – ist, „dass es in der Peripherie weniger Arbeit gibt, und wenn es sie gibt, dann verdient man weniger.“ Bei der Demonstration sprachen auch Vertreter der Sozialarbeiter, Lehrer und Ärzte, alles unterbezahlte Berufe in Israel. „Ich war bestimmt auf tausend Demonstrationen, habe aber noch nie so viel Wut und Energie gespürt wie auf dieser“, sagte Ran Cohen, ein ehemaliger Politiker am nächsten Tag. Ein neuer Slogan fegte durch das Land, und war überall zu hören: „ha-Am rotze Zedek Chevrati“ (das Volk will soziale Gerechtigkeit). Noch gab es keine politische Reaktion, und Staatspräsident Shimon Peres bevorzugte es, die Gewinnerin von „Kochav Nolad“ als Gast im Präsidentenpalast zu haben statt die Demonstranten.

In der zweiten Woche vermehrte sich die Anzahl der Zelte auf über 300 und umfasste mehr als die Hälfte des Rothschild-Boulevards. Die Studentenvereinigung und andere Organisationen schlossen sich der Bewegung mit ihren eigenen Zelten an. Überall im Lande wurden Zelte aufgestellt, sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie. Die Medien berichteten fast täglich von Rothschild aus, teils wurde live gesendet. Schon bald wurde der ha-Bima-Platz (Ecke Rothschild, wo die ersten Zelte standen) in „Tahrir-Platz“ umgenannt. Später sagte Daniel Cohn-Bendit, dass „dem arabischen Frühling der israelische Sommer folgte.“ Der Vergleich hinkt natürlich, denn der Protest blieb unpolitisch, und so hatte Premierminister Bibi Netanyahu ein Leichtes, sie zu ignorieren, oder mit seinem allseits bekannten herablassenden Lächeln und ebensolchen Bemerkungen („eine populistische Welle überflutet das Land“) als irrelevant zu bezeichenen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft in Israel boomt und die Arbeitslosenzahl sehr gering ist, was – so Bibi, und Stanley Fisher, der Präsident der israelischen Zentralbank – ein Zeichen dafür ist, dass der Kapitalismus, gegen den hier protestiert wird, gut funktioniert. „Was er vergisst“, so ein Verteter der Studenten im Fernsehen, „ist die Tatsache, dass 60% der Familien, die unter der Armutsgrenze leben, arbeiten! Kann man dann stolz auf die geringe Arbeitslosenzahl sein? Und von der wachsenden Wirtschaft profitieren nur ein paar Tycoone – der Rest arbeitet, und kommt nicht über die Runden.“

Eine weitere Massendemonstration später wurde das ganze Land mit Zelten und Demonstrationen überschwemmt – von Müttern („Kinderwagen-Marsch“) über Ärzte (die weniger als Krankenschwestern verdienen) bis zu Milchbauern. Das politische Establishment konnte die Proteste nicht mehr ignorieren und traf sich mit der Führung (d.h., mit den „Pionier-Sieben“, die den Protest anfingen) und machte einige kosmetische Gesetzesänderungen. In der Zwischenzeit hagelte es an interner Kritik: Die apolitische Natur der Proteste sei falsch, hieß es von radikalern Zirkeln: So sei die Wohnungskrise mit den Milliarden-Zuschüssen an die Charedim und die Siedler klar verbunden. Und tatsächlich waren weit und breit fast keine Religiösen zu sehen. Weitere interne Debatten waren, ob das kapitalistische System mit Sozialstaat verbessert werden solle oder gar ganz abgeschafft, ob das enorme Militärbudget gekürzt werden solle oder nicht, und ob die Regierung gestürzt werden, oder lediglich zu Kompromissen geführt werden müsse.

Der Rotschild-Boulevard entwickelte sich unterdessen zu einem Konglomerat aus Woodstock, Camping-Trip und Vergnügungspark: Filme wurden gezeigt, Diskussionsgruppen gegründet, Musikkonzerte fanden statt, berühmte Schriftsteller kamen zu Besuch etc. Wie bei vielen Protesten, so teilte sich auch hier der Protest in viele Untergruppen: Alleinerziehende Väter, Tierschützer, Bretslaver Chassidim, sudanesische Flüchtlinge, Hippies, Studenten, Intellektuelle, Künstler – jede Gruppe hatte ihren Zeltabschnitt.

Dann kam der dritte Samstagabend, und die bis daher größte Demonstration des derzeitigen Protests, und eine der größten in der Geschichte Israels: 250,000 Demonstranten in Tel-Aviv und mehr als 50,000 im Rest des Landes gingen auf die Straße und riefen: „ha-Am doresh Zedek Chevrati“ (das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit), sowie „ha-Tshuva la-hafrate – M-A-H-A-P-E-C-H-A“ (die Antwort auf Privatisierung – R-E-V-O-L-U-T-I-O-N). Einer der Hauptredner der Demonstration war Charly Bitton, der vor 40 Jahren die israelischen „Black Panthers“ anführte, eine der größten sozialen Protestbewegungen Israels damals: „40 Jahre habe ich auf diesen Tag gewartet,“ sagte er, „auf den Tag, wo das Volk wieder seine Stimme erhebt.“

Und jetzt? Bald feiert die „Zeltrevolution“ ihren ersten Monat. Die Knesset ist in der Sommerpause, im September werden die Palästinenser ihren Staat in der UNO ausrufen und danach sind jüdische Feiertage – und Regen. Es wird sich zeigen, was dann von der Revolution übrig bleiben wird: Neue Gesetze, eine neue Partei, ein neues politisches und wirtschaftliches System gar? Oder aber Erinnerungen an eine Zeit, wo die „verwöhnten Tel-Aviver“ in der unerträglichen Hitze und Feuchtigkeit des Sommers die gemütliche Couch der Aircondition-gekühlten Wohnung für ein einfaches Zelt austauschten, jeden Morgen durchgeschwitzt und mit Rückenschmerzen aufwachten, aber nicht aufgaben: Genug ist genug. Und Daphna Lif? Das Mädchen mit dem Gentleman-Hut ist zum Symbol einer Revolution geworden, ihr Look konkurriert mit Che Guevera. „Pitom kam Adam, ve hechlit she-hu Am, ve-hitchil lalechet“, heißt es in einem populären Lied in Israel: „Auf einmal entschied sich ein Mensch, dass er ein Volk ist, und schritt los…“

Ein Eindruck zum Schluß: Neben dem ha-Bima-Platz stehen zwei Männer auf einem Balkon und schauen sich die Demonstration an. Einer ist wie (der erste israelische Premierminister) David Ben-Gurion gekleidet, ein anderer wie Theodor Herzl (der die Grundlege des politischen Zionismus legte). Sie halten ein Schild hoch, auf dem einer der bekanntesten Slogans von Theodor Herzl steht, der Satz, den er 1897 über die Gründung eines Judenstaats sagte: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Traum.“