Die Ewigkeit Israels

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Parascha 388. Ansprache für Freitag, den 15. Juli 2011 (Pinchas)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Auf Hebräisch heißt das vierte Buch Moses, das wir zurzeit in der Synagoge hören: BaMidbar, Durch die Wüste. Gelegentlich wird es auch Buch der Musterungen (Chomesch HaPekudim) genannt. Dem entspricht die griechische und lateinische Übersetzung: Numeri, d. h. Zahlen. Das Buch der Zahlen wird nämlich von zwei großen Volkszählungen eingerahmt, die erste, ein Monat nach dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten (Num 1, 1 ff.), die zweite, die wir diese Woche hören, vierzig Jahre später, vor dem Einzug ins Land Israel (Num 26, 1ff.). Es wird nicht das ganze Volk gezählt, sondern nur diejenigen, auf die es im Kriegsfall ankommt, die wehrfähigen Männer. Zwischen den beiden Zählungen liegt eine bittere Durststrecke. In der Wüste haben Kriege, Aufstände, Hungersnöte und Krankheiten eine ganze Generation zugrunde gerichtet (Num 26, 64-65). Aber wie durch ein Wunder ergibt die zweite Volkszählung fast die gleiche Zahl wie die erste. In der ersten Zählung waren es ungefähr sechshunderttausend diensttaugliche Männer (Num 1, 46), in der zweiten sind es ein paar weniger, aber immer noch über sechshunderttausend. Die Botschaft der Zahlen ist klar: Obwohl eine Generation in der Wüste unterging, blieb das Volk erhalten.

Die gleiche Botschaft geht aus einem anderen Ergebnis der Volkszählungen hervor. Das Volk wurde nach Stämmen und Sippen gezählt. Die Zählung am Ende des Buches Numeri ist darum eine der längsten Namenslisten der Bibel. Der Sinn dieser Liste wird deutlich, wenn wir sie mit einer anderen vergleichen. Am Ende des ersten Buches Moses sind die Namen der 70 Personen aus dem Haus Israels verzeichnet, die vom Land Israel nach Ägypten hinab zogen (Kap. 46). Am Anfang des zweiten Buches Mose, das auf Hebräisch „Namen“ (Schemot) heißt, wird noch einmal wiederholt, dass insgesamt siebzig Kinder Israels nach Ägypten kamen (Ex 1, 5; Deut 10, 22). Siebzig ist in der Bibel eine runde, heilige Zahl und symbolisiert wie alle Siebener und ihre Vielfachen – Vollzähligkeit. So gibt es nach der Völkertafel im ersten Buch Mose siebzig Nationen auf Erden (Gen 10) und nach dem Moseslied im fünften Buch Moses siebzig Schutzengel der Völker im Himmel (Num 32, 8). Zählen wir nun die Namenseinträge in der Liste am Ende des Buches Numeri nach, kommen wir ebenfalls auf siebzig Sippennamen, die mit den Personennamen am Ende des ersten Buches Moses fast identisch sind. Das heißt, es sind genau so viele Personen aus dem Gelobten Land nach Ägypten hinabgezogen, wie Sippen ihrer Nachkommen aus Ägypten ins Gelobte Land wieder hinaufgezogen sind. Versklavung, Flucht und vierzig Jahre Wüstenwanderung haben dem Volk in seinen Gliederungen nichts anhaben können. Gewiss, manche Sippen wurden in der Wüste dezimiert, wie z. B. die  Korachs, die sich gegen Mose und Aron aufgelehnt hatte, aber die Liste in unserem Wochenabschnitt vermerkt ausdrücklich, dass „die Söhne Korachs nicht umgekommen seien“ (Num 26, 11).

In den trockenen Zahlen und Listen scheint das unglaubliche Phänomen der Dauer Israels auf, das jüdische wie nichtjüdische Beobachter schon immer in Staunen versetzte: Wie ist es möglich, dass die jüdische „Schmerzenskarawane“ (H. Heine) die zweitausendjährige Wanderung durch die Wüste des Exils überstanden hat? Wie ist es möglich, dass das Volk Israel immer wieder aus der Asche aufersteht? Wie kann man diesen aller Wahrscheinlichkeit spottenden Erhaltungssatz der jüdischen Lebensenergie erklären? Das Phänomen hat so manchen eingefleischten Skeptiker ins Wanken gebracht. Friedrich der Große erklärte einmal, die Fortdauer des jüdischen Volkes, die er als König nach Kräften behinderte, sei das einzige Wunder, das er anerkenne. Baruch Spinoza, der jüdische Zweifler aus Amsterdam, hatte dafür eine recht profane Erklärung. Es seien die Judenverfolger, die die Juden in ihrem Sein erhielten, oder, wie es ein moderner jüdischer Sozialhistoriker einmal ironisch formulierte: Der Antisemitismus sei „eine Weltverschwörung zur Erhaltung der Juden“. Spinoza führt das Beispiel seiner eigenen portugiesischen Vorfahren an. Obwohl sie getauft waren, hat man sie niemals als vollwertige Christen akzeptiert und integriert – deswegen seien sie schließlich wieder Juden geworden.

Dass Außendruck zusammenhält, ist eine Binsenwahrheit. Solcher Zusammenhalt löst sich aber gleich wieder auf, wenn der Druck nachlässt. Darum ist die Unterdrückung der Juden als Erklärung ihrer Erhaltung nicht ausreichend. Zu den negativen, äußeren müssen noch positive, innere Faktoren hinzukommen. Einen solchen Faktor geben unsere Namenslisten beiläufig preis. Aus ihnen kann man nämlich ersehen, dass die Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten immer noch die gleichen hebräischen Namen wie ihre Vorfahren vor dem Einzug trugen: Ruben, Simon, Levi, Juda usw. (Num 1, 5 ff.). Durch ihre Namen haben sie in der Fremde ihre unverwechselbare israelitische Identität erhalten. Das meint das Wort unserer Weisen, wonach die Israeliten wegen ihrer hebräischen Namen aus Ägypten befreit worden seien (Mech 5; PRE 48).

Und noch eine letzte wichtige Erkenntnis lässt sich aus diesen Namenslisten gewinnen. Die Botschaft aus dem Buch der Zahlen könnte leicht so missverstanden werden, als ob es nur auf die großen Zahlen, auf die Volksgemeinschaft als Ganze und nicht auch auf den Einzelnen ankomme. Gegen diesen Totalitarismus setzt die Bibel die Politik der Eigennamen. Ein Eigenname ist wie ein ausgestreckter Zeigefinger und weist auf ein unverwechselbares Individuum hin. Jeder wird in den biblischen Verzeichnissen bei seinem Eigennamen gerufen. Die vielen Namen, die sich gleichwohl alle irgendwie auf die Namen des einzigen Gottes reimen, fallen nicht dem Vergessen anheim, ihnen wird ein ewiges Gedächtnis gestiftet.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2, Freitag um 15:05 Uhr

2 Kommentare

  1. Interessant ist auch das 1948  600.000 Juden in Eretz Israel waren genauso viel wie beim Auszug aus Mizraim.

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