Eine jüdische Religionshochschule im schwäbischen Krumbach

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Während die Christen im streng katholischen Krumbach, einer Kleinstadt in Bayerisch-Schwaben, am Karfreitag fastend der Kreuzigung von Jesus Christus gedenken, reinigen die Mitglieder der Jeschiwa am Ort eifrig ihre Räume vom Chumez, den letzten Brotkrümmeln. Am Abend beginnt das Pessachfest, bei dem die Juden die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei feiern. Eigentlich nichts Besonderes; würden wir uns nicht mitten in Deutschland im Jahre 1947 befinden…

Von Jim G. Tobias

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurde ausgerechnet das Land der Täter für einige Jahre Zufluchtsort für rund 200.000 Überlebende der Shoa, zumeist aus Osteuropa. In Auffanglagern, sogenannten Displaced Persons (DP) Camps, warteten die Juden auf eine Möglichkeit zur Auswanderung nach Palästina oder Übersee. In dieser Zeit entwickelte sich die fast vollständig vernichtete osteuropäisch-jüdische Kultur zu einer neuen Blüte, wobei die Gruppe der Gläubigen eine Minderheit bildete. „Die Annahme, dass das erfahrene Leid bei den Menschen eine religiöse Wiederbesinnung auslöst, ist nicht zu erkennen“, musste Koppel S. Pinson, Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, nach dem Besuch der „Wartesäle“ feststellen. „In keinem jüdischen Lager ist es beispielsweise möglich, das wahre Gefühl einer traditionellen Schabbatfeier zu erleben, wie dies in den kleinen Städtchen Galiziens, Polens und Litauens am letzten Tag der Woche üblich war.“

Nicht nur die Jahre der Verfolgung hatten deutliche Spuren hinterlassen und viele Juden in ihrem Glauben erschüttert. „Wir haben dort nicht philosophiert und auch keine Theologie betrieben“, schrieb der ehemalige Auschwitz-Häftling Rabbiner Emil Davidovic in seinen Erinnerungen. „Wir haben nur nachgedacht: Wie kann ich den heutigen Tag überleben?“ Wo das Überleben die Ausnahme und der Tod die Regel war, fragten sich viele Juden, wo Gott gewesen sei, als Millionen in den Gaskammern erstickten. Doch schon vor dem Krieg war eine zunehmende Säkularisierung in den osteuropäischen Gemeinden zu verzeichnen, die sich unter den Shoa-Überlebenden fortsetzte. Gleichwohl entwickelte sich inmitten der Gemeinschaft der Sheerit Haplejta (Rest der Geretteten) ein an den Buchstaben der Thora orientiertes jüdisches Leben. Für eine nicht zu übersehende Minderheit war es ein elementares Bedürfnis, die religiösen Vorschriften wieder einzuhalten, die vor der Entrechtung durch die Nazis ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört hatten. Davon zeugen die vielen Synagogen in den DP-Camps sowie Betstuben in den Communities. In einigen Städten und Gemeinden gründeten sich sogar Jeschiwot, religiöse Hochschulen, wie etwa in Bamberg, Windsheim, Eichstätt, Leipheim, Landsberg und Krumbach.

In der bayerisch-schwäbischen Kleinstadt Krumbach ist eine jüdische Gemeinde ab dem 16. Jahrhundert bis 1942 nachweisbar. Die Juden hatten zeitweise einen bedeutenden Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung Krumbachs und stellten sogar einige Stadträte. 1902 hatte der Israelitische Verein für Ferienkolonien mit Sitz in München zwei Bauernhäuser in der Brunnenstraße gekauft und sie zu einem Ferienheim für jüdische Jungen und Mädchen umgebaut. Noch im Sommer 1938 verbrachten Kinder aus Nürnberg und München hier ihre Ferien. Im November beschlagnahmten die Nationalsozialisten die Immobilie für das NS-Fliegerkorps. Ein Jahr später ging die Synagoge in Flammen auf; der letzte Jude wurde im August 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Nach dem Krieg kehrte kein Jude nach Krumbach zurück.

Die deutsche Flüchtlingsverwaltung brachte in das leerstehende jüdische Ferienhaus ab Mai 1945 ehemalige Zwangsarbeiter und deutsche Flüchtlinge unter. Von Sommer 1946 an wurden in dem Gebäudekomplex streng religiöse jüdische DPs aus Osteuropa einquartiert. Diese waren Anhänger der chassidischen Bewegung und trugen sich mit dem Gedanken, eine Jeschiwa, eine religiöse Hochschule, zu errichten.

Nach Recherchen des Heimatforschers Herbert Auer sind auf einem Meldebogen der Stadt Krumbach vom 27. Februar 1947 erstmalig 32 Rabbinerschüler sowie zwei Rabbiner registriert. Gleichwohl ließ die Anerkennung der religiösen Hochschule noch einige Zeit auf sich warten. In einer im Juni 1947 verfassten Aufstellung aller religiösen Einrichtungen sucht man die Jeschiwa Krumbach vergeblich. Über die Situation der DPs liegt jedoch ein Bericht vor: „Krumbach ist eine ländliche Gemeinde; die jüdische Bevölkerung verfügt über zwei Gebäude, in einem ist die Verwaltung, die Rabbinische Schule und ein Schlafsaal für die Rabbiner untergebracht, im anderen wohnen Familien. Obwohl es schon Mittag war, schliefen viele der Rabbiner noch. Insgesamt ist das Haus mit 86 Personen, inklusive sechs Kleinkindern belegt. Alle sind sehr orthodox und leben gemäß ihrer Tradition; die Kinder tragen Pejes. Zurzeit ist der Bau einer Mikwe in Vorbereitung.“ Damit war offensichtlich die Renovierung eines bereits bestehenden, von Quellwasser gespeisten Ritualbads gemeint, das von den Nationalsozialisten nicht zerstört worden war.


Das Gebäude der ehemaligen Ferienkolonie beherbergte nach 1945 die jüdische Religionshochschule Krumbach (Repro: Herbert Auer).

Im Frühjahr 1947 hatte Rabbiner Mendel Rubin das Amt des spirituellen Leiters in Krumbach angetreten. Wenig später nahm die Religionshochschule mit zwei Abteilungen, eine für Junggesellen, die andere für verheiratete Männer, ihren Lehrbetrieb auf. Mendel war Anhänger des Rabbiners Jehezkiel Jehuda Halberstam, der als einer der wenigen großen chassidischen Gelehrten die Shoa überlebt hatte. Da Halberstam vor dem Krieg im rumänischen Klausenburg tätig war, nannte man die Schar seiner Schüler und Anhänger auch die Klausenburger Bewegung. Neben der Unterstützung durch die ultraorthodoxe Vereinigung „Vaad Hatzala“ (Rettungskomitee) erhielt die Jeschiwa Krumbach Geldmittel vom American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC). Denn mit dem ihr zur Verfügung stehenden knappen Budget war es unmöglich, die laufenden Ausgaben für Mendel Rubin, zwei rabbinische Lehrer und 35 Studenten zu bestreiten. Im Winter 1948 beantragten die Krumbacher Juden beim AJDC weitere finanzielle Zuwendungen, um „die Mikwe auch während der kalten Jahreszeit nutzen zu können“. Die Hilfsorganisation versprach monatlich 100 Mark zur Verfügung zu stellen: „Ich persönlich meine, dass es unsere Pflicht ist, diesen Menschen zu helfen, damit sie gemäß ihrer religiösen Tradition leben können“, meinte der zuständige Sachbearbeiter.

Im Jahr 1949 lebten in Krumbach noch 113 Juden, 1950 waren es noch 83. Die letzten jüdischen DPs verließen die Stadt im September 1951. Wann die Jeschiwa ihren Lehrbetrieb einstellte, ist nicht bekannt.

Mehr über die Aktivitäten der jüdischen Orthodoxie in der Nachkriegszeit lesen Sie in dem Beitrag des Autors „Leben nach Gottes Geboten“ in: Peter Fassl/Markwart Herzog/Jim G. Tobias (Hrsg.), Nach der Shoa. Jüdische Displaced Persons in Bayerisch-Schwaben 1945–1951 (Irseer Schriften: Studien zur Wirtschafts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte, NF Bd. 6), erscheint im Herbst 2011.

1 Kommentar

  1. Was für ein schöner, angemessener Beitrag, den uns der Filmemacher, Historiker und Publizist Jim G. Tobias zur Verfügung gestellt hat! Eine Erinnerungsarbeit, die wirklich ihren Namen verdient. Jüngst las ich noch das von ihm herausgegebene „Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts“, 2010 (Antogo Verlag, Nürnberg), mit durchgängig gut geschriebenen und recherchierten Beiträgen. Danke, mehr davon.

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