Große Zukunft: Kleinere und mittelgroße Gemeinden prägen entscheidend das jüdische Leben in Deutschland

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Das Eintreten für jüdische Belange ist für Dr. Josef Schuster ein integraler Teil seines Lebens. Jüdisches Engagement hat er bereits im Elternhaus erlebt, war doch sein Vater, David Schuster sel. A., Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Würzburg und Unterfranken – ein Amt, das der 1954 geborene Sohn Josef, von Beruf Arzt, seit 1998 ebenfalls innehat…

Interview mit Zentralrats-Vizepräsident Dr. Josef Schuster

Seit 1999 ist er zudem Mitglied des Präsidiums des Zentralrats der Juden in Deutschland und seit dem 28. November 2010 auch dessen Vizepräsident. Dr. Schuster sprach mit der Zukunft über die Probleme und Erfolge kleinerer und mittelgroßer jüdischer Gemeinden in der Bundesrepublik.

Herr Dr. Schuster, nach Ihrer Wahl zum Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland haben Sie sich als „die Stimme der kleineren und mittelgroßen Gemeinden“ im Vorstand des Zentralrats bezeichnet. Was bedeutet das?
Dr. Josef Schuster: Selbstverständlich ist der Zentralrat für die Stärkung aller jüdischen Gemeinden in Deutschland, unabhängig von Größe und Standort, verantwortlich. Das gilt für jeden seiner Amtsträger, also auch für mich. Allerdings kenne ich die Problematik kleinerer Gemeinden aus eigenem Erleben. Diese persönliche Erfahrung bringe ich in die Arbeit des Zentralrats und seiner Führungsgremien ein.

Wie viele Gemeinden gehören der Kategorie „kleiner und mittelgroß“ an?
Die allermeisten. Je nachdem, wie man eine Großgemeinde definiert, haben wir in der Bundesrepublik fünf bis zehn Großgemeinden. Das bedeutet, dass die rund einhundert anderen kleiner und mittelgroß sind. Ihnen gehört auch eine Mehrheit aller bundesweit registrierten Gemeindemitglieder an. Daher prägen die Herausforderungen, denen sich diese Gemeinden gegenübersehen, aber auch ihre Vorteile, das jüdische Leben in Deutschland in entscheidendem Maße mit.

Was sind die Herausforderungen, was sind die Vorteile?
Eine Gemeinde, die eintausend bis zweitausend, meist aber nur mehrere Hundert Mitglieder hat, verfügt über weniger Ressourcen, muss aber dennoch eine recht umfangreiche Infrastruktur unterhalten. Nach meiner Auffassung sind für jede jüdische Gemeinde, die ihrer Aufgabe gerecht werden will, drei Stützpfeiler unerlässlich: eine funktionierende Synagoge, in der es mindestens am Schabbat einen Minjan gibt – jeden Tag ist natürlich noch schöner, aber nicht immer möglich -, und die über ein Unterrichtswesen sowie über ein Begräbniswesen verfügt. Sozial- und Kulturarbeit oder Begegnungsstätten sind eine große Bereicherung und ich bin froh, dass es sie gibt, doch stellen die drei genannten Kernelemente die konstituierenden Merkmale einer jüdischen Kultusgemeinde dar. Nach meiner Schätzung erfüllen rund 80 Prozent der kleineren und mittelgroßen Gemeinden diese Kriterien. Aber natürlich ist die personelle Decke in kleineren Gemeinden dünner. Nicht alle haben einen eigenen Rabbiner, vielerorts würde man sich mehr Vorbeter, mehr Lehrer, eine besser ausgebaute Sozialabteilung und manches andere mehr wünschen. Das ist eine große Herausforderung.
Auf der positiven Seite ist das engere soziale Netz zu nennen, das die Mitglieder kleinerer Gemeinden aufbauen. Man kennt einander, so dass der Zusammenhalt der Gemeinde stärker ist. Diese Grundregel gilt natürlich nicht nur für jüdische Organisationen, doch hat sie sich im jüdischen Leben gut bewährt, nicht zuletzt bei der Integration der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.

Wie das?
In kleineren Gemeinden gab es kaum geschlossene Gruppen, die sich in sozialer Hinsicht selbst genügten. Da war es für die Zuwanderer leichter, Anschluss an die Gemeinde als Ganzes zu finden. Ich würde sagen, dass die Integration der Zuwanderer in den kleineren und mittelgroßen Gemeinden erfolgreicher als in den Großgemeinden war. Das hatte allerdings noch einen weiteren Grund. An kleineren Standorten erkannte man, dass die Zuwanderung eine Chance bot, den Erhalt der Gemeinde zu sichern. Ohne die Zuwanderung hätten wir heute in der Bundesrepublik vielleicht 25 Gemeinden, aber sicherlich keine 106.

Wie war es beispielsweise in Würzburg?
Würzburg ist in der Tat ein gutes Beispiel. Beim Fall der Berliner Mauer hatten wird rund 200 Mitglieder. Dann kamen Zuwanderer auch in unsere Stadt und in unsere Gemeinde. Die ersten Neuankömmlinge wurden schnell integriert und spielten eine wichtige Rolle bei der Integration der ihnen nachfolgenden Neumitglieder. Heute hat die Gemeinde 1.100 Mitglieder. Hätte es die Zuwanderung nicht gegeben, wären es vielleicht nur noch einhundert.

Bei Ihnen gab es wenigstens Anschluss an eine bestehende Gemeinde. Es gibt aber auch kleinere Gemeinden, die faktisch nur aus Zuwanderern bestehen. Wie geht es dort zu?
Vor allem in den neuen Bundesländern kam es zu solchen Konstellationen. Aber auch dort ist der Aufbau der Gemeinden fast überall gelungen. Gewiss: Durch Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft hat das jüdische Wissen vieler Juden in der Sowjetunion gelitten, doch waren sich die meisten ihres Judentums bewusst. Zudem gab es auch durchaus solche, die Jüdischkeit noch aus dem Elternhaus kannten oder aber selbst den Weg zur Religion gefunden hatten. Daher waren die Zuwanderer durchaus in der Lage, ein Gemeindeleben aufzubauen. Das ist ihnen hoch anzurechnen.

War es für kleine Gemeinden aber – bei allen sozialen Vorteilen – nicht überproportional schwierig, die Integration zu bewältigen?
In mancher Hinsicht schon, doch haben die Gemeinden auch Unterstützung erfahren. Auf der sozialen Ebene erhielten Gemeinden finanzielle Hilfen seitens der Behörden. Dabei muss man wissen, dass die jüdischen Gemeinden ihren zugewanderten Mitgliedern neben der Integration in die jeweilige Kultusgemeinde auch erheblichen Beistand bei der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft geleistet haben. Das wurde vom deutschen Staat anerkannt und – unter aktiver Fürsprache des Zentralrats und der Landesverbände – auch honoriert. Auf religiöser Ebene hatte und hat zwar nicht jede kleinere Gemeinde einen eigenen Rabbiner, doch wurde die religiöse Betreuung erheblich ausgebaut. Heute sind mehr als 50 Rabbiner in den Gemeinden tätig. Ende der achtziger Jahre waren es nur zehn bis zwölf. Auch die Zahl der Religionslehrer ist gestiegen.
Zudem bleibt die Situation nicht statisch. Am Anfang mussten praktisch alle Gemeinden ihre Tätigkeit durchgehend in zwei Sprachen durchführen: Russisch für die Zuwanderer, Deutsch für die Alteingesessenen. Das war für kleinere Gemeinden eine besondere Belastung. Heute hat sich die Zweiteilung großenteils verwischt. Für jüngere Erwachsene, Jugendliche und Kinder, die in jungem Alter aus der ehemaligen Sowjetunion gekommen sind, ist Deutsch die Hauptsprache. In der Jugendarbeit und im Religionsunterricht für Schüler brauchen wir heute keine zweisprachigen oder russischsprachigen Betreuer mehr. Für die ältere Generation der Zuwanderer wird ein russischsprachiges Angebot benötigt und wird auch künftig bereitgestellt.

Wäre es nicht einfacher, wenn eine große Mehrheit der Juden in Großgemeinden leben würde?
Die Frage stellt sich nicht. Es ist ja nicht so, dass die Mitglieder für die Gemeinde da sind, sondern umgekehrt. Wenn es Städte gibt, in denen Juden leben, so haben auch sie ein Recht auf eine eigene Gemeinde, solange ihre Zahl zumindest für eine Kleingemeinde reicht. In Deutschland gab es übrigens, historisch gesehen, stets viele kleine Gemeinden. Vor der NS-Zeit wurden allein in Franken – der Region, in der ich lebe – mehr als einhundert Gemeinden gezählt. Die allermeisten waren klein, viele hatten vielleicht zehn oder zwanzig jüdische Familien.

Gibt es keine Abwanderung aus kleineren in größere Gemeinden?
Es gibt mitunter eine Abwanderung aus kleineren Städten in Großstädte und Ballungsräume. Das hängt vor allem mit der Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen zusammen, ist hauptsächlich in strukturschwächeren Regionen ausgeprägt und gilt für Juden wie für die allgemeine Bevölkerung. Natürlich verlieren die betroffenen jüdischen Gemeinden dadurch Mitglieder, doch ist die Lage nicht dramatisch.

Sind die kleineren und mittelgroßen Gemeinden auch auf lange Sicht überlebensfähig?
Die meisten ja. Der Auffassung, dass wir in absehbarer Zeit zwangsläufig nur noch einige wenige Großgemeinden haben werden, widerspreche ich entschieden. Zwar wird es leider auch Gemeinden geben, die sich langfristig nicht halten können, doch haben sich die Strukturen weitgehend stabilisiert. Selbstverständlich passiert das nicht von allein, sondern verlangt von uns Anstrengungen. Und diese werden auch unternommen. Wir werden in den kommenden Jahren mehr in Deutschland ausgebildete Rabbiner haben. Die Ausbildung der Religionslehrer wird ebenfalls ausgebaut. Mit den von den Landesverbänden mit den jeweiligen Landesregierungen geschlossenen Staatsverträgen wurde auch eine materielle Zukunftssicherung geschaffen. Daher gehe ich gehe davon aus, dass es in vierzig Jahren 70 bis 80 jüdische Gemeinden in Deutschland geben wird. Das wird nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern auch die deutsche Gesellschaft als Ganzes bereichern.