Arche des Lebens

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Parascha 379. Ansprache für Freitag, den 13. Mai 2011 (Behar)…

Von Prof. Dr. Daniel Krochmalnik, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

Wenn wir in einer sternenklaren Nacht zum Himmel aufblicken, dann fühlen wir unsere Winzigkeit. Nach dem kosmologischen Standardmodell liegt unser Sonnensystem, eines von hundert Milliarden, am Rande einer Galaxie, eine von hundert Milliarden. Angesichts dieser Größenverhältnisse drängt sich die Frage auf: „Was ist der Mensch?“. Die Frage ist nicht neu, aber die neuen astronomischen Erkenntnisse verleihen ihr eine ungeahnte Brisanz. Der österreichische Popsänger, Rainhard Fendrich, bringt das Lebensgefühl des Menschen in der kosmischen Einöde auf den Punkt:

Doch jeder Blick nach oben macht uns immer wieder klar
als Herrscher san ma ziemlich lächerlich
In ana Nacht unsagbar groß
schwebt irgendwo bedeutungslos
a winzig klaner Tropfen Zeit
verdampft in der Unendlichkeit
a Funken Leben der verlischt
und die Vergänglichkeit verwischt
was scheinbar groß und mächtig war

Früher glaubten die Menschen ihren Augen und meinten, das ganze All drehe  sich um die Erde. Die kopernikanische Revolution hat ihnen diese Illusion geraubt. Einer der Pioniere der modernen Naturwissenschaft, Blaise Pascal, hat mit ähnlich melancholischen Bildern wie der Austropopstar den Verlust der Mitte und die Verlorenheit des Menschen beklagt, er beschreibt aber auch die merkwürdige Relativität der Stellung des Menschen im Sein. Im Vergleich zum unendlich Großen ist der Mensch in der Tat  verschwindend klein, im Vergleich aber mit dem Unendlichkleinen ist er wiederum unendlich groß. So steht er unentschieden zwischen beiden Unendlichkeiten, ein Gulliver gleichsam, der gleichzeitig in Lilliput und Brobdingnag landet. Als der tieffromme Pascal diese Gedanken notierte, hatte er vermutlich Psalm 8 im Sinn.

König David fragt schon in diesem Psalm: „Herr, wenn ich ansehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du eingerichtet: Was ist da der Mensch, dass du dich seiner erinnerst, das Menschenkind, dass du seiner achtest?“ (Ps 8, 5). Martin Buber übersetzt die Frage: Ma Änôsch noch anschaulicher: „Was ist das Menschlein?“ Ein anderes Mal klingt die Frage Davids noch melancholischer: „Was ist der Mensch (Ma Adam)“, fragt er Gott im 144. Psalm, „dass Du auf ihn achtest, der Menschensohn (Ben Änôsch), dass du ihn würdigst? Der Mensch, er gleicht einem Hauche (Hewel), seine Tage sind wie ein enteilender Schatten (Zel). Manch ein Leidgeprüfter wäre sogar froh, wenn ihn Gott ganz übersehen würde: „Was ist der Mensch (Ma Enosch)“, fragt Hiob, „dass du ihn so groß hältst, und auf ihn stellst deinen Sinn? Dass du ihn heimsuchst jeglichen Morgen, und jeglichen Augenblick ihn prüfst?“ (Hi 7, 17). In der Antwort des Psalms auf die Frage: „Was ist der Mensch?“ ist aber keine Spur von Melancholie. Es spricht vielmehr der Überschwang des Winzlings aus ihm, der sich gleichwohl von Gott beachtet fühlt: „Wenig nur“, so lautet diese Antwort, ließest Du ihm fehlen zum Gottwesen, mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn gekrönt“ (6). Der Mensch wird nicht mit einem weisen: „Erkenne dich selbst“ in die Schranken gewiesen, er wird nicht wie in den Gedanken Pascals in Selbstzweifel gestürzt. Gewiss, auch das „Ich“ im Psalm 8 weiß genau, dass es im Vergleich zum All ein lächerliches Nichts ist, zugleich aber weiß es sich vom unermesslichen göttlichen „Du“ zu Großem berufen. Er ist wie der Psalm schildert, der Herr allen Lebens: „Du machtest ihn zum Gebieter über das Werk deiner Hände, alles hast du unter seine Füße gelegt: das Kleinvieh und die Rinder allesamt, sogar die wilden Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was durchzieht die Bahnen des Ozeans“ (7-9).

Ist dieses biblische Menschenbild überholt? Keineswegs, wie eine einfache Rechnung beweist. Je größer die kosmische Einöde, je unwahrscheinlicher das Leben in ihr, desto größer ist der Wert des kleinsten Lebewesens. Was zählt schon der ganze Andromeda-Nebel im Vergleich mit dem verschwindend kleinen menschlichen Beobachter, der im Fernrohr allein seine Schönheit schätzen kann? Pascal hat diesem Gedanken seine klassische Form gegeben: „Ein Schilfrohr nur ist der Mensch das schwächste in der Natur; aber ein denkendes Rohr. Es ist nicht nötig, dass das ganze All sich wappne, um ihn zu zermalmen: Ein Hauch, ein Wassertropfen genügt, um ihn zu töten. Aber würde das All ihn zermalmen, wäre der Mensch doch edler als das, was ihn tötet, weil er weiß, dass er stirbt und dass das All stärker ist als er: Das All weiß nichts davon!“ Die Bedeutung des Menschen wächst noch, wenn man bedenkt, dass er das gesamte bekannte Leben im All unter seinen Fuß gebracht hat.

Die Würde des Menschen als „Krone der Schöpfung“ ist daher zugleich eine enorme Bürde. Der jüdische Ökosoph, Hans Jonas, hat die daraus erwachsende „kosmische Pflicht“ des Menschen so formuliert: „dass in unsere unsteten Hände, jedenfalls in diesem irdischen Winkel des Alls, das Schicksal des göttlichen Abenteuers gelegt ist und auf unseren Schultern die Verantwortung dafür ruht. (…), denn es ist ein kosmisches Experiment, das wir mit uns scheitern lassen, in uns zuschanden machen können“. Wenn wir von hier aus die biblische Bestimmung des Menschen einschätzen, dann erscheint sie nicht mehr so naiv und überheblich, wie ihr immer nachgesagt wurde. Mehr denn je erkennt der heutige Mensch, dass die Erde ein einzigartiges Wunder in der endlosen kosmischen Leere ist, und mehr denn je begreift er, dass dieses Wunder ihm anvertraut ist. Von hier aus bekommen die biblischen Reden vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ (Ps 8, 6), als „Hüter“ (Schomer) des Paradieses (Gen 2, 15) und als „Kapitän“ der Arche des Lebens ihre Aktualität zurück.

Radio Schalom. Sendung des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern auf Bayern 2Freitag um 15:05 Uhr

1 Kommentar

  1. Mich erinnert das an Yom Kippur:
    „Wir sind wie Staub, dem Erdboden gleich. Der Natur und der Welt gegenüber sind wir gering. G’tt gegenüber aber sind wir aufgefordert zur Partnerschaft. All unsere Nichtigkeit in dieser Welt steht im Gegensatz zu unserer Bedeutung für G’tt. G’tt sucht sich in uns. Für G’tt sind wir keinesfalls nichtig, sondern alles: Sinn und Zweck und Erfüllung.
    G’tt gibt uns mit der Freiheit Würde und Verantwortung. G’tt ruft nach uns und fordert uns. Wir sollen uns ihm zuwenden und ebenbürtig mit ihm diese Welt gestalten. Egal wie begrenzt und ohnmächtig wir uns auch fühlen mögen, wie sehr wir auch erkennen mögen, dass unser Verstehen und Wissen, unser Können und unsere Kraft jeden Tag an Grenzen stoßen und bedeutungslos erscheinen…“
    http://test.hagalil.com/judentum/feiertage/kippur/elul-bereshith-2.htm
     

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