Herbst in Rumänien: Spuren die vergehen

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In meinem zweiten Herbst in Rumänien – im Jahr 2008 -, an einem milden Oktobertag, stieg ich beim Victoria-Platz in die Untergrundbahn und fuhr zur Unirii-Station. Die Metro funktioniert gut in Bukarest. Ich benutze sie oft, auch wenn ich das Gedränge und das sinnlose, aggressive Drängeln und den Gestank von Schweiss im Sommer und die leeren Blicke der Menschen am Abend nach der Arbeit nicht mag. Aber die Gewissheit, dass die oben in den Autos auf der Strasse in endlosen Staus stehen, macht all das erträglich…

Ein Besuch beim Präsidenten der Föderation der jüdischen Gemeinden in Rumänien (FCER)

Simon Geissbühler (in Spuren, die vergehen, Kap. 3.)

Da ich zu früh war, schlenderte ich ganz gemächlich zum Choraltempel. Beim Einkaufszentrum Carrefour humpelte ein junger Zigeuner mit verkrüppelten Füssen an Krücken an mir vorbei. Sein Kind, ein vielleicht dreijähriger Knabe, ging an der Seite seines Vaters. Kränze stapelten sich vor der Gedenkstätte für die Opfer der Shoah vor der Synagoge. Einige Tage zuvor war der Holocaust-Gedenktag gewesen. Der Pförtner führte mich zum Gemeindehaus hinter der Synagoge, die gerade renoviert wurde. Emsiges Treiben, Kommen und Gehen.

Ausschweifend führte mich der Präsident durch die Geschichte der rumänischen Juden. Er verlor nie den Faden, trotz der mindestens fünf Telefonanrufe, die unser Gespräch unterbrachen. Fast 800’000 Juden hatten vor dem 2. Weltkrieg auf rumänischem Territorium gelebt, nach dem Holocaust waren knapp 400’000 übrig geblieben. In den kommunistischen Dekaden wurde die jüdische Gemeinde weiter dezimiert: Fast alle, die konnten, wanderten aus. Heute gibt es nicht einmal mehr 10’000 Juden in Rumänien. Vor dem Krieg existierten allein in Bukarest 140 Synagogen und Gebetshäuser, heute ist noch eine Handvoll übrig. Für die kleine Gemeinde ist es ein Ding der Unmöglichkeit, die 94 verbliebenen Synagogen im ganzen Land zu pflegen. Viele der Hunderten von jüdischen Friedhöfen verwildern.

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Antisemitismus gebe es zwar in Rumänien – so erklärte mir der Präsident -, er sei aber weniger virulent als beispielsweise in Frankreich. Ich hatte meine Zweifel. Zwei Wochen später wurde der jüdische Friedhof an der Giurgiului-Strasse in Bukarest geschändet. Uber 130 Grabsteine wurden zerstört. Die Reaktion der Behörden war langsam und halbherzig. Die Täter waren – so fand die Polizei ein paar Wochen später heraus – Schulbuben. Im April 2009 zerstörten Vandalen jüdische Grabsteine in Botosani.

Ob der Präsident sich fragte, was ich bei ihm wollte? Zu Hause hatte ich den Ort auf der Landkarte gesucht, das Schtetl, ganz im Nordosten Rumäniens, direkt an der Grenze zur heutigen Republik Moldau, wo der Präsident 1932 geboren wurde. Er war neun Jahre alt gewesen damals, als die Juden vertrieben und getötet wurden. Wie hat er die Deportation, den Todesmarsch, das Ghetto überlebt? Und seine Eltern? Oder hatte sich seine Familie rechtzeitig in Sicherheit bringen können? Und was ist übrig von seiner Heimat, seinem Schtetl? Was war er in der kommunistischen Zeit, im „byzantinischen Sozialismus“ (Norman Manea)? Ich hatte den Mut nicht, ihn zu fragen…

Die wilde Bautätigkeit in Bukarest sticht dem Neuankömmling ins Auge…

SPUREN, DIE VERGEHEN

Simon Geissbühler: Spuren, die vergehen – auf der Suche nach dem jüdischen Sathmar/Satu Mare

Der Autor, geboren 1973, ist Historiker und promovierter Politologe, seit 2000 Diplomat und seit 2007 1. Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Bukarest. Er beschäftigt sich vor allem mit dem jüdischen Leben in Rumänien und der Ukraine und hat bereits mehrere Bücher dazu veröffentlicht.