Die ‚Palestine Papers‘

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Ein Interview über die 1700 Dokumente, die Al Dschasierah (und The Guardian) durchsickern lassen…

von Amy Goodman, 24.01.2011 — Democracy Now!

Die Dokumente, die derzeit veröffentlicht werden, sollen beweisen, dass palästinensische Verhandlungsführer bei Verhandlungen mit der Israelischen Regierung damit einverstanden waren, große Gebiete der Westbank und fast das gesamte Ost-Jerusalem abzutreten. Doch dies ist nur eine von vielen Enthüllungen aus den so genannten „Palestine Papers“.

Es handelt sich um über 1700 Dokumente – Insider-Wissen aus 11 Jahren israelisch-palästinensischer Verhandlungen (1999 bis 2010). Der Nachrichtensender Al Dschasierah startete am Sonntag eine detaillierte Veröffentlichung der Dokumente. Wir sprechen nun mit Prof. Rashid Khalidi, von der Columbia University.

Unser Gast ist Rashid Khalidi – Edward-Said-Professor für Arabischen Studien im Fachbereich ‚Geschichte‘, an der Columbia-Universität; Khalidi ist Autor zahlreicher Bücher, u.a. ‚Sowing Crisis: American Dominance and The Cold War in the Middlle East‘ und ‚Iron Cage: The Story of the Palestinian Struggle for Statehood‘.

Amy Goodman: Die soeben durchgesickerten Dokumente scheinen zu belegen, dass palästiensische Verhandlungsführer, bei Friedensgesprächen mit der israelischen Regierung, heimlich damit einverstanden waren, große Gebiete der Westbank abzutreten.
Dies ist nur eine von vielen Enthüllungen aus den so genannten ‚Palestine Papers‘ .
Dabei handelt es sich um mehrere tausend Seiten mit vertraulichen Aufzeichnungen der palästinensischen Seite über ihre Verhandlungen mit Israel. Sie erstrecken sich über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahre. Vom größten ‚Leck‘ in der Geschichte des Nahost-Konflikts ist bereits die Rede. Die mehr als 1700 Dokumente umfassen den Zeitraum zwischen 1999 bis 2010. Der TV-Sender Al Dschasierah ist im Besitz der Dokumente und veröffentlicht seit vergangenen Sonntag Teile daraus.
Die kontroverseste Enthüllung ist (bislang) ein angebliches Angebot (der palästinensischen Seite) in Bezug auf Ost-Jerusalem. Die Dokumente berichten über einige Minuten eines palästinensisch-israelischen Treffens, das 2008 stattfand. Bei diesem Treffen hätten die palästinensischen Verhandlungsführer Israel angeboten, alle illegal gebauten (palästinensischen) Siedlungen im besetzten Ost-Jerusalem (an Israel) abzutreten, mit einer Ausnahme. Eine Gegenleistung hätten sie nicht gefordert.
Chef-Unterhändler Saeb Erekat wird mit den Worten zitiert: „Wir bieten euch das größte Yerushalayim in der jüdischen Geschichte“. (Er benutzte den hebräischen Begriff für ‚Jerusalem‘.) Doch offensichtlich wies die israelische Seite das Angebot zurück. Die damalige israelische Außenministerin, Tzipi Livni, sagte den Palästinensern (zitiert aus den Dokumenten): „Wir mögen diesen Vorschlag nicht, weil er nicht unseren Forderungen entspricht, (und) wahrscheinlich ist Ihnen diese Überlegung nicht leicht gefallen, aber wir wissen sie wirklich zu schätzen“.
Laut Al Dschasierah werden weitere Dokumenten-Veröffentlichungen folgen, die zeigen sollen, zu welchen Kompromissen die Palästinenserbehörde (PA) bereit war – Konzessionsbereitschaft in der Flüchtlingsfrage und beim Rückkehrrecht, eine Sicherheitskooperation zwischen PA und Israel, Korrespondenz zwischen PA und Israel über die UN-Ermittlungen zum Angriff auf den Gazastreifen (2008) sind die Themen.
Offizielle Mitarbeiter/innen der PA bestreiten den Wahrheitsgehalt der Dokumente. Chef-Unrterhändler Saeb Erekat spricht von einem (Zitat) „Haufen Lügen“.
Um mehr zu erfahren, ist nun Rashid Khalidi in unserem Studio in New York. Er hat die Edward-Said-Professor der University of Columbia inne und ist Verfasser zahlreicher Bücher (siehe oben).

Willkommen bei Democracy Now!, Prof. Khalidi. Können Sie uns etwas zu diesem Wust an Dokumenten sagen, den Al Dschasierah (unverständlich)….
Rashid Khalidi: Nun das íst nur der erste Schub. Al Dschasierah plant, vier Tage hintereinander Dokumente zu veröffentlichen – auch die britische Tageszeitung The Guardian. Beim ersten Teil der Veröffentlichungen ging es offensichtlich in erster Linie um das Thema ‚Jerusalem‘. Was da durchgesickert ist, schockiert schon ziemlich. Entscheidend ist, meiner Meinung nach, nicht nur, wie weit die palästinensischen Verhandler anscheinend bereit waren zu gehen, sondern vor allem, wie wenig die israelische Seite bereit war, diese Konzessionen zu akzeptieren. Da stellt sich allen Ernstes die Frage, ob Israel überhaupt etwas anderes akzeptieren würde als die totale Kapitulation – das hieße, die Palästinenser müssten auf alle ihrer Forderungen verzichten, egal zu welchem Thema. Zunächst ging es (in den Dokumenten) um das Thema ‚Jerusalem‘. Wir werden vermutlich noch weitere Dinge erfahren.

Und noch etwas sticht ins Auge, wenn man sich den Inhalt der Dokumente ansieht und zwar, welchen massiven Druck die USA auf die Palästinenser ausübten und wie unverschämt die amerikanischen Diplomaten der US-Vorgängerregierung – ob nun Hillary Rodham Clinton oder Außenminister Condoleezza Rice – mit den Palästinenser umsprangen, wie sehr sie sich als „unsere Anwälte für Israel“ aufspielten (Aaron David Miller hat es einmal so ausgedrückt. Was aus den Dokumenten hervorgeht, ist allerdings weit schlimmer, als das, was Miller sagte, derv viele Jahre in die Verhandlungen miteingebunden war.)

Warum sagt Saeb Erekat, das alles seien ein „Haufen Lügen“?
Nun, sowohl Al Dschasierah als auch The Guardian behaupten, die Glaubwürdigkeit der Dokumente sehr sorgfältig überprüft zu haben. Die Zukunft wird zeigen, ob das wahr ist – ich habe nicht die Möglichkeit, es nachzuprüfen. Ich denke, niemand von uns weiß genau, aus welcher Quelle sie stammen. Uns wurde gesagt, viele der Dokumente stammten von der assistierenden Einheit, die es bei diesen Verhandlungen gibt. Ich habe mir gestern Abend Al Dschasierah angesehen und kam zu der Überzeugung, dass sie (die Dokumente) von Leuten aus dem palästinensischen Verhandlungslager stammen müssen – angesichts der Briefköpfe und so weiter. Natürlich weiß niemand, ob nicht gefälscht worden ist.

Viele der Informationen, die in den Dokumenten enthalten sind, waren uns, so denke ich, bereits bekannt – wenigstens in etwa. Das liegt daran, dass sowohl Personen auf palästinensischer als auch auf israelischer und amerikanischer Seite schon viel über die Verhandlungen geredet haben – vor allem zwischen 1999 und 2008. Das gilt auch für die massiven Konzessionen, die von der PA in Ramallah angeboten wurden. Im Großen und Ganzen war das also bekannt , ebenso wie die israelische Haltung, die Konzessionsangebote einfach abzulehnen – oder sie zu bunkern, um dann irgendwann zu sagen: „Aber jetzt wollen wir noch mehr. Es reicht nicht, dass ihr bereit seid, jede einzelne Siedlung in Jerusalem aufzugeben, außer einer. Wir wollen alle. Es reicht nicht, wenn ihr sagt, wir sind zu Konzessionen bereit, was die Altstadt von Jerusalem betrifft. Wir wollen mehr, siehe Haram-al-Sharif“. Am auffälligsten sind die Details. Ich bezweifle wirklich,dass sich jemand ernsthaft die Mühe machen würde, Fälschungen vorzunehmen bei Dingen, die genau zeigen, wie der Prozess damals abgelaufen ist. Ich denke, wir werden zu dem Fazit kommen, dass die meisten der Dokumente echt sind.

Prof. Khalidi, was hat Sie so daran schockiert, dass die PA bereit war, (palästinensische) Gemeinden aufzugeben, wie es in den Dokumenten heißt?
Nun, was Israel betrifft, so gibt es mehrere Themen. Da sind zum Beispiel die USA, die von sich behaupten, die Positionen des internationalen Rechts zu unterstützen. Das internationale Recht vertritt jedoch die Auffassung, dass sämtliche (jüdischen) Siedlungen entlang der ‚Grünen Linie‘ (Grenzverlauf vor dem Sechstagekrieg) und sämtliche (jüdischen) Siedlungen, die innerhalb der Besetzten Gebiete liegen, illegal sind und gegen die Vierte Genfer Konvention verstoßen. Gleichzeitig drängen die USA die Palästinenser – was dieses Prinzip angeht ,- Konzessionen einzugehen. Die USA argumentieren so: Ihr werdet keinen Deal bekommen – ich glaube, die damalige US-Außenministerin Rice hat das gesagt -, wenn ihr nicht einlenkt. Ich glaube, es ging damals um die (jüdische) Siedlung Ma’ale Adumim, die östlich von Jerusalem liegt. Wie es scheint, haben die Palästinenser tatsächlich eingelenkt. Der Punkt ist: Es handelt sichum palästinensisches Gebiet und häufig auch noch Privateigentum. Und das ist überall so, in dieser Regionen entlang der ‚Grünen Linie‘. Dieses Territorium wird von Israel illegal besetzt gehalten. Israel hat seine eigenen Bürger dorthin exportiert – auch das war ein Verstoß gegen die Vierte Genfer Konvention. Nun, vielleicht schockiert es nicht allzusehr, dass die USA gegen internationales Recht verstoßen, indem sie eine illegale Position unterstützen – aber wenn man es so direkt vor sich sieht, in dieser Form, ergeben sich, meiner Meinung nach, zumindest gewisse Zweifel an der Ehrlichkeit der amerikanischen Unterhändler und an Amerika in diesem Prozess, mehr noch, man beginnt am gesunden Menschenverstand all jener zu zweifeln, die in Amerika einen guten Verhandlungsführer und Vermittler – was Israel angeht -, sehen.

Nun zu weiteren Punkten, um die es in den Dokumenten geht – zum Beispiel zum Thema Haram-al Sharif (Tempelberg/Felsendom). Für viele Menschen in der arabischen und muslimischen Welt muss das ein Schock gewesen sein. Schließlich hat die Palästinenserbehörde, laut dieser Dokumente, einer „geteilten Souveränität“ über eines der größten Heiligtümer des Islam (von insgesamt drei) zugestimmt.

Das Gebiet, auf dem es steht, ist nicht nur heilig, sondern gehört dem ‚Islamic Waqf‘ in Jerusalem. Dass die Palästinenserbehörde zugestimmt haben soll, dass ein international besetztes Komitee – aus Arabern, Briten, Amerikanern, Ägyptern usw. – diese Stätte gemeinsam kontrollieren soll… eine Stätte, die für ganz Palästina und für alle Muslime heilig ist -, das ist schon ein Hammer.

Eine weitere Nachricht, die uns gerade erreicht, ist, dass ein (israelischer Kommissions-)Bericht die Israelische Regierung von jeglicher Schuld bezüglich des Angriffs auf die Mavi Marmara, einem Schiff der Gaza-Hilfsflotte, die am 31. Mai angegriffen wurde, freigesprochen hat. Was sagen Sie dazu, Prof. Khalidi?
Nun, das war absolut zu erwarten. Die Israelische Regierung hat diese Kommission ja selbst eingesetzt – anstelle einer internationalen Kommission. Es handelt sich also um eine Kommission, die von der Regierung eingesetzt wurde, um eine abhängige Kommission und nicht um eine von der Israelischen Regierung unabhängige Kommission. Diese Kommission kam zu dem Schluss, die Israelische Regierung (von der sie ernannt wurde) sei reinzuwaschen. Warum sollte sich irgendwer darüber wundern? Ich sehe keinen Grund dazu. (Die Entscheidung) entspricht genau der Linie der Propaganda-Offensive der Israelis, die noch am Tag des Angriffs auf das Schiff ausgegeben wurde. Güter der Grundversorgung in die Blockade von Gaza miteinzubeziehen, verstößt gegen die internationalen Menschenrechte. Laut israelischer Progaganda ist dies jeodch legal. Ebenso sei alles, was die israelischen Soldaten, die das Schiff angriffen, taten, legal gewesen – auch das Töten von 9 Türken, einschließlich eines türkisch-amerikanischen Passagiers. So weit wir seinen Inhalt bereits kennen, lässt der Bericht darauf schließen, dass er im Grunde von Leuten verfasst wurde, die für die israelische Propaganda maßgeblich zuständig sind – zumindest könnte er von ihnen geschrieben worden sein. Sie haben mehrere Monate gebraucht, um ihn vorzulegen, dabei hätte ihn selbst der israelische Regierungssprecher mühelos selbst verfassen können. Fast jedes wichtige Argument in diesem Kommissions-Report wurde von Sprechern der Israelischen Regierung – zu Beginn der Affäre – schon einmal genannt.

Prof. Khalidid, danke, dass Sie heute bei uns waren. Prof. Rashid Khalidi ist Edward-Said-Professor für Arabische Studien an der Columbia-Universität.
Es war mir ein Vergnügen.

Er ist Verfasser zahlreicher Bücher – unter anderem ‚Sowing Crisis: American Dominance and the Cold War in the Middle East‘ und ‚Iron Cage: The Story of the Palestinian Struggle for Statehood‘
Anmerkung d. Übersetzerin
Nähereres zu den ‚Palestine Papers‘ finden Sie auf der Internetseite von ‚The Guardian oder unter transparency.aljazeera.net

Amy Goodman ist Moderatorin des TV- und Radioprogramms ‚Democracy Now!‘, das aus rund 500 Stationen in Nordamerika täglich/stündlich internationale Nachrichten sendet.

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