Israel in Nahost: Eine Villa im Dschungel?

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Wir sind inmitten eines geologischen Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava. Die Menschen fürchten sich vor der Veränderung. Wenn dies geschieht, neigen sie dazu, dies zu leugnen, zu ignorieren, geben vor, dass nichts wirklich Bedeutendes geschieht…

Uri Avnery

Die Israelis sind hier keine Ausnahme. Während im benachbarten Ägypten erderschütternde Dinge geschehen, war Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee beschäftigt. Der Verteidigungsminister verabscheut den amtierenden Stabschef und macht daraus kein Geheimnis. Der mutmaßlich neue Chef wurde als Lügner enthüllt, und seine Ernennung wurde zurückgezogen. Das waren die Schlagzeilen.
Aber was jetzt in Ägypten geschieht, wird unser Leben verändern.

WIE GEWÖHNLICH sah es keiner voraus. Der viel gefeierte Mossad war total überrascht, genau wie der CIA und all die anderen gefeierten Dienste dieser Art.

Doch sollte es überhaupt keine Überraschung gewesen sein – abgesehen von der unglaublichen Wucht des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben wir viele Male hier erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine Menge junger Leute heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre Führer hat, und dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen werde. Dies waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne Analyse von Wahrscheinlichkeiten.

Der Aufstand in Ägypten wurde durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die Armut, die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu Grunde liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem Wort zusammengefasst werden: Palästina.
In der arabischen Kultur ist nichts bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber keine Demütigungen.

Was jeder junge Araber von Marokko bis Oman täglich sah, war , dass seine Führer sich demütigten, indem sie die palästinensischen Brüder im Stich ließen, um Gunst und Geld von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen Besatzung und katzbuckelten vor den neuen Kolonialherren. Dies war für junge Leute zu tiefst demütigend, die mit den Errungenschaften der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer Kalifen aufgewachsen sind.

Nirgendwo war der Ehrverlust offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen Führung kollaboriert, in dem es die schändliche Blockade über den Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.

Ich habe viele Male – laut – darüber nachgedacht, wie ich mich als 15-jähriger Junge in Alexandria, Amman oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen, während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an. Warum sollte ein arabischer Junge anders sein?

Ein Diktator kann toleriert werden, wenn er die nationale Würde reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind wird ihn zu Fall bringen.

Für mich gab es nur die Frage, wo es in der arabischen Welt anfangen würde. Ägypten – wie auch Tunesien – standen unten auf der Liste. Doch genau hier in Ägypten findet die große arabische Revolution statt.

DIES IST ein Wunder für sich selbst. Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.

Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann, aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.
Die Ägypter, die man auf den Straßen trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen der Ärmsten der Armen sind eine unglaublich geduldige Gesellschaft Sie sind mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor ausgestattet. Sie sind auch unheimlich stolz auf ihr Land und seine 8000 jährige Geschichte.

Für einen Israeli, der an seine aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollkommene Fehlen von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine besondere Szene: ich saß in einem Taxi in Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken. Und dann hielten beide plötzlich inne und brachen in ein Gelächter aus.

Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt, mag er dieses oder hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf. Geduld ist grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld plötzlich ein Ende haben kann.

Es ist wie ein defekter Deich an einem Fluss. Das Wasser steigt kaum wahrnehmbar und geräuschlos hinter dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht der Deich und überschwemmt alles.

MEINE EIGENE erste Begegnung mit Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar Sadats beispiellosem Besuch in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde niemals den Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass dem korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn durch und wurde immer verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“ Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen drei Israelis in der riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert. Beinahe erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen Ägyptens liebten dies.

Es dauerte nur ein paar Monate, bis sich dies zu tiefst veränderte. Sadat hoffte – und glaubte ehrlich– dass er auch den Palästinensern Befreiung gebracht hat. Unter intensivem Druck von Seiten Menachem Begins und Jimmy Carters stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass Begin nicht im Traume daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen. Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg gegen die Palästinenser zu intensivieren.

Die Ägypter vergaben dies niemals – das begann bei der kulturellen Elite und sickerte bis zu den Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen armen Verwandten zu verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist. Die Millionen, die „Mubarak, geh weg!“ schrieen, schrieen – bewusst oder unbewusst – auch aus dieser Verachtung.

BEI JEDER Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“ . Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die Volksmassen und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich zu schießen weigern, ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen Panzer, ElBaradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz. Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland flieht, wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.

Dann gibt es noch den „Berliner Moment“, wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was er tun soll, und nur die anonymen Massen genau zu wissen scheinen, was sie wollen: sie wollten, dass die Mauer fällt.

Und es gibt noch den „Ceaucesco Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er. Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.

WENN MUBARAK die Realität nicht mehr sieht, so trifft dies auch auf Binyamin Netanyahu zu. Er und seine Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser Ereignisse für Israel zu begreifen.

Wenn Ägypten sich bewegt, wird die arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten geschieht – Demokratie oder eine Militärdiktatur – so ist das nur die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor die Diktatoren in der ganzen arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität ohne Generäle schaffen.

Alles, was die israelische Führung in den letzten 44 Jahren der Besatzung oder der 63 Jahre seiner Existenz getan hat, ist obsolet geworden. Wir stehen vor einer neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen, dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie Ehud Barak es einmal bekanntermaßen sagte – oder einen passenden Platz in der neuen Realität finden.

Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger Luxus. Es ist eine absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar Frieden schnell. Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit den demokratischen Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit den vernünftigen islamischen Kräften (wie Hamas und den Muslimbrüdern, die sich sehr von der Al-Qaida unterscheiden), Frieden mit den Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall aufzutauchen.

Übersetzt von Ellen Rohlfs

4 Kommentare

  1. Immerhin hat Hagalil, ‚Avnerys Text noch vor der nationalbolschewistischen Jungen Welt publiziert.
    Gut zu wissen, dass der Mossad auch nicht gewußt hat, was da kommt. Avnery weiß es, denn er möchte den Anschein erwecken, dass er die Mossadmeldungen täglich erhält.
    Doch wie immer man es dreht oder wendet 97% der Ägypter sind antisemitisch engestellt.
    http://probeinternational.org/library/wp-content/uploads/2011/02/Pew-Global-Attitudes-Muslim-Report-FINAL-December-2-20101.pdf
    und
    http://probeinternational.org/library/wp-content/uploads/2011/02/START_Apr07_rpt1.pdf
    Aber Avnery wird uns auch sein Wunderrezept dagegen geben. Israel soll sich zurückziehen auf die Waffenstillstandslinien 1949 usw.
     
     

  2. Lieber Sebaldius,

    Halbwahrheiten sind manchmal schlimmer als Lügen. Ihre Kritik an der israelischen Politik ist ja nicht ganz falsch, blendet aber total die arabischen Staaten und die Palästinenser als Akteure im Nahostkonflikt aus.
    Hier schaukeln sich seit langem die Konfliktparteien gegenseitig hoch, was nicht einseitig Israel anzulasten ist, sondern auch islamistischen Kräften in den besetzten Gebieten, wie auch in den arabischen/muslimischen Staaten, die betonen, dass sie Israel „von der Landkarte fegen“ wollen.
    Und zu Ihrer Behauptung, dass Israel von den „westlichen Mächten als Judenstaat gewaltsam in diese Region verpflanzt worden“ sei“, berücksichtigen Sie dazu bitte, dass Großbritannien als Mandatsmacht die Einwanderung von Juden nach Palästina – speziell nach dem Zweiten Weltkrieg – zu verhindern suchte, während die Sowjetunion den jungen Staat Israel unterstützte.
    Passend dazu hat sich das Vereinigte Königreich bei der entscheidenden UNO-Generalvollversammlung über den Palästina-Teilungsplan enthalten, während die meisten UN-Mitglieder diesseits des Eisernen Vorhangs, aber auch alle Ostblockstaaten, die in den vereinten Nationen vertreten waren, sich für die Teilung in einen jüdischen und einen arabischen Staat aussprachen.
    Ihre Thesen zu „Verwurzelung in der Region“ vs. „künstliches Implantat“ erinnern mich an rassistische/antisemitische Äußerungen gegenüber Immigranten oder Juden in Deutschland.
    Und zu guter Letzt: Als die Pyramiden in Ägypten gebaut wurden, befand sich auch Europa bereits in der Bronzezeit.

  3. Avnery hat völlig Recht mit seiner Einschätzung, dass für Israel die Zeit davonläuft.
     
    Aber nicht wegen Ägypten. Israel braucht sich nun wirklich keine Sorgen zu machen um das Wohlergehen Ägyptens. Denn Ägypten ist schliesslich eine Wiege der menschlichen Zivilisation und einer der Ursprünge aller menschlichen Kultur, und hat im Verlauf der Geschichte schon so viele Katastrophen überstanden, dass man getrost annehmen darf, dass es auch diese Revolution überleben wird. Ägypten ist nicht nur verwurzelt in der Region, sondern ist per se eine der Wurzeln an sich. Die haben da in der Steinzeit schon sowas Gewaltiges wie die Pyramiden gebaut.
     
    Ganz im Gegensatz dazu Israel, das von den westlichen Mächten als Judenstaat gewaltsam in diese Region verpflanzt worden ist, so wie ein künstliches Implantat, gegen die natürlichen Abwehrreaktionen der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung. Israel wurde, wie jede Kolonie, am Grünen Tisch der Militärstrategen geplant und gegründet, und hat es bis heute nicht geschaftt, sich friedlich in seine nichtjüdische Umgebung zu integrieren. Bis heute hat Israel total komplett versagt, auch nur die elementarsten Grundvoraussetzungen eines Staates zu erfüllen, zum Beispiel die Festlegung der Staatsgrenzen seines eigenen Hoheitsgebietes. Geschweige denn sie international anerkennen zu lassen. Bis heute betreibt Israel ein bösartiges, repressives und rassistisches auf Apartheid beruhendes Unterdrückungssystem gegen die einheimische palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Ein Herrschaftssystem,  das auf Landraub, Kolonisierung, Entrechtung, Ghettoisierung, Vertreibung und ethnischer Säuberung und Trennung beruht.
     
    Dabei kann Israel nicht existieren und nicht überleben ohne die permanente Hilfe des Westens. In Form von Waffen, Geld, Technologie und sonstiger politischer Unterstützung aus USA und Europa. Und die traurig-tragische Ironie dabei: Israel betrachtet sich selbst noch als „Vorposten“ der angeblich „aufgeklärten“ westlichen Demokratie inmitten einer angeblich barbarischen arabischen Umgebung. Liest man die talk backs der Leserkommentare in israelischen Zeitungen, dann bekommt man dort einen Rassenhass gegen Araber zu spüren, der einfach nur noch krank und abartig ist. Ein Grossteil der Juden in Israel empfindet offenbar nichts anderes als tiefe Verachtung gegen alle arabischen oder muslimischen Länder.
     
    Israel wäre gut beraten, sich lieber Sorgen um seine eigene Zukunft zu machen. Denn allein mit Atombomben und Waffen und Geld aus dem Westen ist die nicht langfristig zu sichern. Als die Briten ihre Kronkolonie Hongkong gegründet hatten, war England eine Weltmacht gewesen und China lag nach den verlorenen Opium-Kriegen völlig kaputt am Boden. Aber, wie man weiss,  Zeiten ändern sich: Heute ist China auf dem Weg zur Weltmacht und hat England überholt, wirtschaftlich, militärisch, weltpolitisch.  Die Briten konnten noch froh sein, ihre Kronkolonie Hongkong halbwegs ehrenvoll räumen und an China zurückgeben zu dürfen.
     
    Ägypten wird ganz sicherlich als Staat und als Nation langfristig überleben. Aber Israel, ohne friedliche Integration in seine arabisch-muslimische Umgebung, hat Israel keine Zukunft. Allerdings, so wie es ausssieht und man den Eindruck gewinnen könnte, verfolgt man die israelische Politik, ist das wohl das Allerletzte, was Israel will.
     
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    BTW, warum liefert die Google- Abfrage nach HaGalil den Hinweis:
    „Diese Website wurde möglicherweise manipuliert und kann schadhaft sein.“
    Trojaner, Viren, Würmer, wird man hier ausspioniert???

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