„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“

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Im Januar 1911 erschien das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis…

Von Jim G. Tobias

Seit exakt hundert Jahren wissen wir, wie das Weltende aussieht: Es stürmt, die Flüsse treten über die Ufer, der Eisenbahnverkehr ist gestört, viele Menschen sind verschnupft und an den Küsten werden die Dämme überspült.

„Weltende“ – mit diesem Gedicht schrieb Jakob van Hoddis Literaturgeschichte und sah in visionärer Untergangsahnung die Geschichte des 20. Jahrhunderts voraus: Krieg, Vernichtung, „Weltende“. Zugleich machten seine Worte einen ungeheuren Eindruck auf die Berliner Bohème der Weimarer Republik, wie sich der spätere Kulturminister der DDR Johannes R. Becher erinnerte. Alle hätten diesen Text auswendig gelernt und sich gegenseitig über die Straße wie Losungen zugerufen, schwärmte Becher. Zu dieser Zeit war der Dichter aber schon lange aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Dennoch gehörte van Hoddis zu den wichtigen Vertretern des literarischen Expressionismus und fasste mit seinen Gedichten die Stimmung einer revoltierenden Jugend in eine neue Form. In seinen Texten thematisierte der Lyriker mit Sprachwitz, Zynismus und zarter Poesie das Großstadtgetümmel des neuen Jahrhunderts und entwarf dabei Momentaufnahmen einer Welt, die sich zwischen Aufbruch und Untergang befand. Seine Texte überraschen aber auch heute noch durch ihre Modernität.

Hans Davidsohn, wie der Lyriker mit bürgerlichem Name hieß, war mit Beginn des Ersten Weltkrieges in geistige Umnachtung gefallen und wurde deshalb jahrelang wegen Schizophrenie psychiatrisch behandelt. Als Patient eines Sanatoriums bekam er vom politischen Aufstieg der Nationalsozialisten kaum etwas mit. Als seine Familie Hals über Kopf Deutschland verließ, vertrieb er sich in der Nervenklinik die Zeit mit Rauchen, Schachspielen, Essen und Spazierengehen. Dass mit der Emigration seiner Angehörigen auch die regelmäßigen Unterhaltszahlungen ausblieben, war ihm wohl nicht bewusst. Im Herbst 1933 wurde Jakob van Hoddis in die Israelitische Heil- und Pflegeanstalt nach Bendorf-Sayn verlegt. Dieses war die einzige jüdische Anstalt, die es damals in Deutschland noch gab.

Ob er sich zu dieser Zeit noch an seine über hundert Gedichte und Prosatexte erinnerte, bleibt nur zu vermuten. Fast vergessen ist heute auch das Werk des genialen Poeten in der Öffentlichkeit, da er kaum handschriftliche Zeugnisse hinterließ. Diese soll er nämlich immer bei sich getragen, und wohl bei seinen nächtlichen Wanderungen durch die Berliner Cafés einfach verloren haben. Deshalb sind über seine kreativste Phase, in den Jahren zwischen 1908 und 1914, nur Informationen aus zweiter Hand überliefert. Mit Georg Heym verband ihn eine problematische Freundschaft, während Else Lasker-Schüler bei Karl Kraus ein gutes Wort für van Hoddis einlegte, sodass einige Gedichte 1911 in der Zeitschrift Die Fackel abgedruckt wurden. Doch lediglich acht Zeilen aus seiner Feder haben Bestand und tauchen in vielen Lyriksammlungen oder Lesebüchern auf.

„Weltende / Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut / In allen Lüften hallt es wie Geschrei / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut // Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“

Bis 1942 lebte Jakob van Hoddis gemeinsam mit etwa 100 Patienten in der Geborgenheit der Israelitischen Heilanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz. Er wurde nicht mit Medikamenten ruhiggestellt, nicht mit Elektroschocks gequält, sondern durfte im Garten spazieren gehen. Dabei begrüßte er freundlich alle Tiere, ob Schmetterling, Ameise oder Hund mit „sechs- bis siebenmaliger Verbeugung oder durch Abnahme des Hutes“, wie in der Krankenakte nachzulesen ist. Am 30. April 1942 räumten die Nazis das Sanatorium. Zusammen mit dem Pflegepersonal wurden die Insassen in den Distrikt Lublin verschleppt. Wenige Wochen darauf wurde der Jude Hans Israel Davidsohn im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Unter dem Titel „Weltende“ sind im Arche-Verlag Jakob van Hoddis zu Lebzeiten veröffentlichte Gedicht erschienen. Hervorragend kommentiert und editiert von Paul Raabe. 2001 zeigte die Stiftung „Neu Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ eine vielbeachtete Ausstellung über Jakob van Hoddis. Der vorzügliche und umfangreiche Katalog „Alle meine Pfade rangen mit der Nacht“, Stroemfeld Verlag Frankfurt, ist leider vergriffen jedoch noch antiquarisch zu erhalten.

Fotos: repro jgt

3 Kommentare

  1. Interessant zu wissen wäre, WANN genau Hans Davidsohn alias Jakob van Hoddis  „in geistige Umnachtung“ fiel. Mit Kriegsbeginn?
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    Denn metapherhaft gelesen:
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    „mit Beginn des Ersten Weltkrieges in geistige Umnachtung gefallen“
    waren wohl alle, die diesen Weltkrieg vom Zaune brachen und Abermillionen Leid und Elend und vielfältigsten Tod brachten, „geistig umnachtet“. Gilt im Prinzip für alle Kriege. Nur existieren für angriffslustige  Militärs und Kriegshetzer leider – noch – keine Pflegeanstalten, in die sie einzuweisen wären.
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    Da fragt sich im konkreten Fall, ob Jakob van Hoddis, der, wie berichtet wird, allem Lebenden allerhöchsten Respekt entgegenbrachte, nicht klar sah und wer den „Schnupfen“ hatte: er oder vielmehr die Genannten, denen dieser Satz von Bertha von Suttner nichts bedeutet:
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    „Wer die Opfer nicht schreien hören, nicht zucken sehen kann, dem es aber, sobald er außer Seh- und Hörweite ist, gleichgültig ist, dass es schreit und zuckt – der hat wohl Nerven, aber – Herz hat er nicht.“
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    efem

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