Jüdischer Respekt und Bewunderung für muslimische Religiösität

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In der jüdischen Tradition gibt es Quellen, die nicht nur Toleranz gegenüber Teilen muslimischer Religiösität ausdrücken; sie drücken echte Bewunderung sowie einen positiven intellektuellen wie religiösen Respekt aus. Es ist wichtig für beide, Juden und Muslime, sich mit diesen Quellen bekannt zu machen und daraus zu lernen…

Von Zvi Zohar

JERUSALEM – Hier nun verweise ich auf eine solche Quelle, die aus den Schriften des Rabbi Yitzhak Farhi von Jerusalem (1782-1853) stammt. Sie erzählt von der Beziehung zweier außergewöhnlicher Männer aus dem Damaskus des späten 18. Jahrhunderts: einem großen Sufi-Scheich und dem Oberrabbiner von Damaskus.

Einer der beiden Helden in Farhis Erzählung, der Sufi-Scheich, erlangte große Meisterschaft über die Sieben Weisheiten; das sind die Grundlagen des allumfassenden menschlichen Wissens. Weil eines Menschen Fähigkeit, diese Weisheiten zu beherrschen, dem Zufall unterliegt, war der Scheich darin allen Juden seiner Generation überlegen, mit Ausnahme des Rabbiners von Damaskus, der ihm gleich war, wenn nicht noch ein wenig überlegen, auf dem Gebiet dieser allumfassenden Weisheit.

Die Sieben Weisheiten sind selbstverständlich nur ein Aspekt religiöser Vollkommenheit: die höchste Form religiösen Strebens ist die Begegnung mit Gott und die Nähe zu Ihm. In diesem Gebiet, dem Gebiet der religiös-mystischen Erfahrungen, so läßt sich aus Rabbi Farhis Bericht klar herauslesen, war der Scheich auf einer höheren Ebene als der Rabbi. In diesem Bericht war es der Scheich, der den Rabbi auf Wegen mystischer Erfahrung leitete, durch den Garten und den Teich bis zu dem Eingang zum Heiligen des Heiligsten, zur Begegnung mit dem Göttlichen Selbst, widergespiegelt im göttlichen Namen. Die Worte auf dem goldenem Täfelchen, auf das sie starrten waren: „Ich habe den Herrn allzeit vor Augen“. Diese Formulierung kann in jeder Synagoge gefunden werden. Jedoch, wie sich durch Farhi beziehen läßt, derjenige, der das Versprechen, welches bei diesem Vers geboren war, erneuerte, die Person, die tatsächlich in der Lage war, sein Bewußtsein zu öffnen für: „Er Sprach und die Welt wurde erschaffen“, es war nicht der jüdische Rabbiner, sondern der muslimische Scheich.

Am Ende ihrer gemeinsamen Reise vergoss der Rabbi viele Tränen, erkannte den Vorsprung des Scheichs in diesem entscheidenden Gebiet an und schloss: „Es ist an uns, sogar mehr als dieses zu tun.“

Rabbi Yitzhak Farhi, der eine Leserschaft in Jerusalem und dem Osmanischen Reich des vierten Jahrzehnts im 19.Jahrhundert ansprach, stellte den Sufi-Scheich als eine geistige Größe dar, der die höchsten Höhen der Ehrfurcht vor Gott erreichte.

Nebenbei wird so auch dem Leser herausgestellt, daß der weise Sufi seinen jüdischen Kollegen auch in dem Bereich der persönlichen Vorzüge übertraf: er liebt die Wahrheit selbstlos; er entwickelt zu seinem jüdischen Kollegen eine Beziehung aus intellektueller Attraktion und ohne eigennützige Vorteilsnahme; er ist nicht eifersüchtig auf jemanden, dessen intellektueller Ruf größer als sein eigener ist; er zeigt aufrichtige Bewunderung dem Rabbi als einem Mann von Weisheit gegenüber, unabhängig von der religiös niedrigeren Stufe der Leute, zu denen der Rabbiner gehörte.

Aus der Erzählung läßt sich herauskristallisieren, daß auf dem höchsten Niveau religiöser Geistlichkeit ein Gutteil von Überschneidungen und Ähnlichkeiten zwischen Judentum und Islam besteht. Diese Überschneidung wird schon im ersten Teil der Erzählung ausgedrückt, wo der Leser entdeckt, daß es ein Gebiet eines universellen intellektuellen Diskurses gibt – die Sieben Weisheiten – welches ein hoch beachtetes Wissensfeld für den Scheich und den Rabbi darstellt. Außerdem wird offenbar, was diese Welten teilen ist nicht nur eine unspezifische intellektuelle Ebene, sondern erweitert sich in die praktischen Vorbereitungen zu mystischen Erfahrungen: Fasten, Reue, Waschungen und Kleidungswechsel. Und über all dem gibt es gemeinsame Elemente  und eine Verbindung in der mystischen Erfahrungswelt selbst – wie auch in der Zusammenfassung: „Er Sprach und die Welt wurde erschaffen.“ Kein muslimischer Gott, auch kein jüdischer Gott, der Gott jeder Existenz, der Schöpfer von allem.

Rabbi Yitzhak Farhi vermittelt seiner jüdischen Gemeinde in Jerusalem die Annahme, daß eine Person, herangewachsen und erzogen als Muslim, Ergebnis einer elitären muslimischen Erziehung, im Ergebnis nicht weniger befähigt ist (vielleicht sogar fähiger), sich mit der Göttlichkeit zu „verbinden“, als eine Person des vergleichbaren jüdischen Pfads. Einigen mag es unangemessen erscheinen, daß ein religiöser Lehrer solchen Respekt und Bewunderung gegenüber der Leistung einer Person hat, die in einer Tradition wurzelt, die nicht die eigene ist. Anderen, wie dem Schreibenden hier, drückt Rabbi Farhis Haltung eine geistige Größe aus, die uns allen gut täte berücksichtigt zu werden – und verinnerlicht zu werden.

Zvi Zohar ist Professor für Sefardisches Recht und Ethik an der Bar Ilan Universität, wo er auch dem Rappaport Center for Assimilation Research and Strengthening Jewish Vitality vorsteht. Er ist Senior Research Fellow am Shalom Hartman Institut for Advanced Judaic Studies in Jerusalem. Eine komplette Übersetzung, Analyse und Diskussion von Rabbi Farhis Bericht wird bald im Jewish Studies Quarterly unter dem Titel „The Rabbi and the Sheikh“ veröffentlicht. Dieser Artikel ist Teil einer speziellen Reihe zu Juden und Muslimen in der jeweils anderen Betrachtung und wurde für Common Ground News Service (CGNews) geschrieben.

Deutsche Übersetzung: A.mOr

16 Kommentare

  1. Hallo jim,
    eine kurze Rückmeldung Deines links wegen. Ich sehe, daß der Hinweis „Gehorsam“ eine ungenügende Beschreibung ist. Der Kommentar von Dir ist hoch zu bewerten, und so möchte ich auch allgemein meine Zustimmung geben.
    Zu Deiner auf dieser Seite gegebenen Empfehlung zum darüber angesprochenen Aspekt „Minderheit“: „Trotz allem ist es aber ungeheuer wichtig, immer und permanent auf dieses, mittlerweile gesicherte Wissen, siehe zB die Aggressions- bzw. Antisemitismusforschung, hinzuweisen, die entsprechende Phänomenomenologie aufzuzeigen und zu warnen.“
    Also, am Ball bleiben.
     
    „menomeno“, nettes Wort.
    Schabat Schalom (Alehem), das Licht leuchtet durch Ihn in uns.

  2. Entschuldige, lieber A.mOr, aber ich bin krank, will noch schnell schreiben, bevor der Strang zuklappt.
     
    Von Dir kann ich sehr viel lernen. Danke für Deine schöne Antwort. Ja wir bleiben in Verbindung.
     
    Alles Liebe, Jim

  3. Hallo jim,
     
    etwas schmunzeln muß ich, wenn Du bei dieser berühmten Hillel-Passage vergißt -das entscheidende!!!- (;warte, warte…) zu erwähnen, daß der Frager das Judentum in der Zeit erklärt haben wollte, solange er es schafft auf einem Bein zu stehen (war doch so, nicht wahr?). Insofern ist die Antwort des Hillel von tiefen Mitgefühl, um nicht zu sagen von Mit-Humor geprägt: er wollte sich von dem anderen auf einem Bein stehend wohl nicht die Odyssee erklären lassen…
    „Jetzt geh und lern!“: Schammai darf jetzt auch schmunzeln.
     
    Zu Rabbi Samuel Laniado, ich picke raus: „…‘du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst’ wörtlich zu verstehen, denn der Nächste ist wie du…so erachte ich das als Liebe zu Mir, denn Ich Bin…“ (Den Trick mit den Buchstaben hast Du bemerkt?).
    Ja, denke, das habe ich in den Zeilen oben bereits angedeutet. Es gibt diesen bekannten Satz: „Tötest du einen, tötest du alles.“/ „Rettest du einen, rettest du alles.“
    Oder anders, diese Worte des Rabbis sprechen auf eine tatsächlich gelebte Spiritualität an, sozusagen, wie ich es auch oben erwähnte, etwas „urjüdisches“, nämlich die Verbundenheit des Menschen (etwa, wie in „Umkehr“-tschuwa), der in sich einer ist und doch in der Seele alle. Und so macht das Ganze auch Sinn.
     
    Aber es macht keinen Sinn für atheistische Menschen, nicht so. Für sie ist der Glaube nicht relevant. Trotzdem kann man eben auch atheistischen Menschen ganz gut erklären, warum dieser Aspekt der Weisheit (wenn ich es so nennen darf) für sie Bedeutung hat.
    Deshalb erlaube ich mir einen Atheisten (?) zu zitieren;
    habe mal etwas von Dalai Lama gelesen, und es ist weise:
    „Menschen empfinden Leid, aber möchten für sich Leid vermeiden. So kann man auch verstehen, daß andere kein Leid zugefügt haben wollen, und es vermeiden.“
    Mit dem Buddhismus kenne ich mich nicht sehr aus, aber diese Worte gaben mir in meiner Haltung Bestätigung, und als einfache Formel (letztlich wie Hillel, nur ohne der „Bürde“ des Glaubens) sind sie leicht wiederzugeben.
     
    Als Menschen in dieser schönen, großen, weiten Welt, sind wir nicht nur Juden, und/oder Religiöse, deshalb, im gemeinsamen Interesse, finde ich es sinnvoll, die jüdische Weisheit als Empfehlung auch zu vermitteln an jene, die anderen Glaubens oder nicht-Glaubens sind, denn wir teilen uns eine Welt, viele Welten in einer, jedoch mindestens mit Grenzen, die sich berühren. Und viel wahrscheinlicher, Grenzen, die sich überschneiden. Und in diesen Feldern der Überschneidung sollte wenigstens ein Bemühen um Verständigung bestehen.
    Als Menschen an sich haben wir viele Gemeinsamkeiten, die uns Verständigung ermöglichen, auch ohne dem Mittel der Sprache; aber wir benötigen die Bereitschaft dazu.
     
    Im Übrigen aber empfinde ich es etwas ungerecht nur von jüdischer Weisheit zu sprechen, denn diese Exklusivität ist letztlich gegen die Weisheit.
    In dem Artikel oben hält Farhi es für möglich, gibt anhand des Sufiweisen ein konkretes Beispiel, daß eben auch ein Nicht-Jude zu großer Weisheit fähig ist. Auch ohne dieses Beispiel wäre es töricht solches nicht anzunehmen (und es wäre „unjüdisch“, wage ich zu behaupten – aber,
    Deppen, klar, gibt es überall; aber wer bin ich schon?).
     
    Du zitierst einen Satz aus dem Artikel (das „mystische Schlendern…“) und kommst zum Schluß, daß der eigentliche Gegenstand der Betrachtung, bzw die Quintessenz die Liebe ist:
    die Liebe als Immanenz Seiner Allgegenwärtigkeit, so sagst Du es, nicht wahr?
    Schätze, genau so kann es interpretiert sein. Irritiert (kein „Buhhh“! bitte) bin ich nur durch das Wort „Liebe“ selbst, weil es soviele, so schillernde Bedeutung hat.
    So müssen wir diese Liebe wohl vergleichen mit etwa „Bruderliebe“.
    Warum ich mich ziere…frag Dich selbst, wie beschreibst Du Deine Liebe zu Ihm Dem Ewigen?
     
    Und zu Rumi, Du verstehst, daß Rumi in der Zeile „Wohl endet Tod des Lebens Not“ auch ausdrückt, wie wir als Mensch einerseits der Nächstenliebe zustreben, andererseits dazu nicht fähig sind? Ich interpretiere zusätzlich, von Deinem vorhergehenden Kommentar, daß das ein Aspekt von dem ist, was Du als „Kerndilemma“ bezeichnest.
     
    Praktizierte Nächstenliebe und das Ideal Nächstenliebe, das sind sicher zwei verschiedene Schuhe.
    Mit den Idealen ist es nun so, wie es dieses nette Sprüchlein ausdrückt: „Sie sind schöne, leuchtende Sterne und doch zu weit, um sie zu greifen“.
    Leider kann man diesen Spruch oft hören von „desillusionierten“ Menschen, die konsequent das Ideal als Unmöglichkeit ablehnen. Das ist auch verständlich, und hat wohl verschiedene Gründe.
    Einer sagt, es ist unlogisch greifen zu wollen, was man nicht greifen kann. (da fällt mir gerade ein: wie logisch war es den berühmten Apfel zu greifen, nur weil er gegriffen werden konnte? Nu, ja…)
    Der andere will vermeiden, nochmal enttäuscht zu werden, der nächste will sich erst gar nicht enttäuschen lassen. Wieder dem nächsten ist klar, daß es kein Ideal gibt. Und dann wären da noch Zyniker, bitter vom Leben enttäuschte, nicht zu vergessen jene, die den Himmel vor Augen haben…
     
    Die „Sterne“ nicht greifen zu können und es dennoch zu probieren ist eigentlich die Herausforderung, der „spirituelle Weg“, ich denke, das steckt eben auch in dem Wort Nächstenliebe, oder Ahawat Jisrael.
    Es zu probieren, weil es ohnehin keinen Sinn macht, scheint der vernünftigere und einfache Weg, aber der schwerere ist der bessere. Nicht, weil wir uns quälen sollen, sondern weil ein hohes Ziel eben nicht leicht erreichbar ist…
     
    Im übrigen verstehe ich in dieser Zeile Rumis auch einen viel „trivialeren“ Aspekt, nämlich das es einem im Leben geschehen kann, aufgrund großer Qual sich „leichtfertig“ den Tod herbei zu wünschen (um die Qual zu beenden), andererseits aber doch am Leben hängt.
     
    Mein nick? Also wenn Du schon vor lauter Licht das Licht nicht siehst, dann schließe Deine Augen und höre auf das Schlagen Deines Herzens. Schließe sie etwas länger und erspüre, daß Du lebst.
    Wenn Du in die Finsternis geworfen bist, und sie an Deiner Seele zerrt, dann spüre in die Finsternis Deiner Selbst hinein, und Du wirst ein Licht entdecken. Es ist der Anker, wie beweglich Du auch sein solltest, der Dich immer daran bindet und Dich nährt, daß unsere Seele eins ist.
    Es gibt immer die Möglichkeit sich zu verlieren (Verhüte!), doch solange Dein Herz schlägt, solange ist Sein Licht. Es gibt ein Jenseits der Hoffnung, aber so lange Dein Herz schlägt, schlägt auch die Hoffnung-Sie brennt in Dir wie ein Licht, das Du schon verloren wähntest.
    Anders gesagt (und siehe oben in dem Artikel):
    -Die Worte auf dem goldenem Täfelchen, auf das sie starrten waren: „Ich habe den Herrn allzeit vor Augen“-
    Kurioserweise, es ist dies der Satz, den Du bei Deinem Text-Zitat nicht mehr erwähntest, der aber genau daran anschließt.
     
    Ansonsten kann man wohl vieles in dem nick sehen/lesen, volle Absicht, und ein wenig stolz bin ich auch darauf. Tja, alle die „Smiley’s“, die ich hier schon hätte verwenden können. Vielleicht sollte ich soetwas auch mal probieren.
     
    So, zum Abschluß, einen leichten Hang zum Ausschweifen habe ich, dabei bin ich nicht einmal weit gekommen. Die Themen, die wir hier aufgeworfen haben, interessieren auch mich. So bedaure ich, daß ich auch schon wieder recht müde bin, habe noch nicht einmal Deinen link überprüft, bin auf die anderen Sachen noch nicht eingegangen. Soviel, es ist mir ein Vergnügen unser Gedanken-Austausch! Ein wenig lesen (Deinen link zum „Gehorsam“) wollte ich noch, aber den Text hier schon mal abschicken.
    Wünsche laila tov, Frieden mit der Nacht, wir bleiben in Verbindung.

  4. hallo lieber A.mOr,
     
    bei Gelegenheit könntest Du mal die Bedeutung Deines Nick erklären, würd mich interessieren. :,)
     
    Zu Deiner Frage bezüglich dieser Minderheit und was diese tun könnte: Nun, im Anlassfalle denke ich – nichts! Es sind immer die ersten, die weggesperrt werden. Trotz allem ist es aber ungeheuer wichtig, immer und permanent auf dieses, mittlerweile gesicherte Wissen, siehe zB die Aggressions- bzw. Antisemitismusforschung, hinzuweisen, die entsprechende Phänomenomenologie aufzuzeigen und zu warnen.
     
    Im Zusammenhang zu „Gehorsam“ – da hab ich vor kurzem etwas hier geschrieben, …
     
    http://test.hagalil.com/2010/11/01/mainz-2/comment-page-1/#comment-16177
     
    … eventuell geeignet, zum Verständnis beizutragen – Stichwort: „Konformitätsdruck und Entsprechungszwang“ – Autoritarismus.
     
    Bei solch virtuellen Diskussionen besteht leider immer die Gefahr, sich in Detailanalysen zu vertiefen und so vom vorgegebenen, dem eigentlichen Thema abgelenkt zu sein. Deshalb würde ich nun gerne auf das Ursprüngliche zurückkommen, weil es mir am Herzen liegt. Hier also noch mal der Satz aus obigem Artikel, der mich veranlasst hat, hier Rumi zu zitieren:
     
    »In diesem Bericht war es der Scheich, der den Rabbi auf Wegen mystischer Erfahrung leitete, durch den Garten und den Teich bis zu dem Eingang zum Heiligen des Heiligsten, zur Begegnung mit dem Göttlichen Selbst, widergespiegelt im göttlichen Namen.«
     
    Denke, damit ist ganz schlicht „die Liebe“ gemeint. „Die Liebe“ als das göttliche Selbst, die sich widerspiegelt im göttlichen Namen, eben genau so, wie bei Rumi geschildert, die „Nächstenliebe“, aber eben auch die Unmöglichkeit, besser noch, unsere Unfähigkeit dazu, wie er sie in ‘Wohl endet Tod des Lebens Not’ beschreibt.
     
    Letzten Endes geht es um die Vervollkommnung. Um das Paradies. Dabei wäre es so einfach, siehe Hillel, eine Episode, die Du kennst:
     

    Zu Rabbi Schammai kam ein Grieche (kein Jude) und fragte recht forsch nach einer Erklärung der Lehre (des Judentums), er habe aber nicht viel Zeit, Schamai solle sich also kurz fassen. Schamai stiess ihn weg.
    Zu Rabbi Hillel kam derselbe und fragte recht forsch nach einer Erklärung der Lehre, er habe aber keine Zeit, Hillel solle sich gefälligst kurz fassen. Hillel sagte: „Was du nicht möchtetst, dass Dein Nächster Dir tue, das tue Deinem Nächsten nicht an. Dies ist die Torah, der Rest ist Kommentar, jetzt geh und lerne“.
     
    bzw. Rabbi Samuel Laniado:
     
    „Erstens, wenn die Seelen so sind, wie sie sein sollten, so sind sie alle ein Teil Gottes. Und da die Seele eines Menschen und die Seele seines Nächsten beide auf dem gleichen Thron der Pracht geschnitzt wurden, darum ist das Gebot ‚du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ wörtlich zu verstehen, denn der Nächste ist wie du. Und zweitens, wenn deine Liebe zu deinem Nächsten der Liebe zu dir selbst gleich ist, so erachte ich das als Liebe zu Mir, denn ich bin JHWH.“
     
     
     
     
     
     

  5. Hallo jim,
     
    bin die Sachen mal durchgegangen, habe mich schon etwas damit beschäftigt. Mir ist in einem ersten Rückschreibversuch allerdings aufgefallen, daß es recht viel Raum kostet, darauf schriftlich einzugehen. Das hat damit zu tun, daß ich zu Gruen pro und contra finde, wobei es auch daran liegen könnte, daß die beiden Absätze Deines Beispiels aus einem größeren Zusammenhang gerissen sind.
    Bei Lévinas geht es mir im Prinzip auch so, nur das der erste Absatz scheinbar zu einem anderen Kontext als der zweite gehört.
    Bei Gruen wiederum ist der zweite zum ersten eine dringend notwendige Ergänzung, zumindest habe ich auf das im zweiten genannte im ersten „bitter“ gewartet (die Ursache für emotionale/empathische Kälte).
     
    Jetzt habe ich bald den dritten Absatz von Gruen unterschlagen, den, so scheint es mir bald, verstehe ich entweder falsch oder will ihn nicht verstehen.
    Erster Satz: „Gehorsam verursacht den Verlust einer eigenen Identität“, „scheinbar/vorübergehend/oberflächlich“ möchte ich ergänzen. Als absolute Aussage finde ich das nicht hinnehmbar. Es kann zwar so stehen bleiben, und es stimmt dann auch, aber eben nur solange, wie diese Situation besteht (und das ist dann eine ziemlich „konstruierte“ Situation).
    Der Gehorchende wird zwar, gewissermaßen unter „Idealbedingung“ Werkzeug des Befehlenden, dennoch büßt er nicht seine Identität ein, seinen Intellekt, seinen „Herzschlag“ etc.
    Selbst, wenn der Gehorchende seinen Namen als Identitätsmerkmal einbüßt um dann Nummer soundso zu heißen, so gelten immer noch die Bedingungen der individuellen Perspektive, selbst im Erleben einer Fremdbeherrschung ist es das eigene Erleben. Die Identität im Sinne von Selbstbestimmung, die ist allerdings -im Idealfall des „absolutistischen“ Befehlsgebers- verloren, sehr beschnitten.
    Der Satz aber, der darauf folgt stört mich noch mehr, er scheint fälschlich in der Syntax, zumindest schwant es mir so. Auch finde ich die Folgerung (der Verlust der Identität wird verschleiert durch ein scheinbares autonom-Empfinden in der Hinwendung zu einem „höheren Ziel“) nicht schlüssig.
    Der Satz endet damit, daß der Gehorchende von seiner eigentlichen Absicht -„Macht und Kontrolle über andere Menschen auszuüben“- abgetrennt wird. Da mag ich flappsig reagieren: bravo!
    Aber, wie angemerkt, der ganze Satz erscheint mir unstimmig, möglicherweise deshalb, weil er aus einem größeren Gedankengang/Zusammenhang herausgerissen ist.
     
    Wenn es Dich interessiert, würde ich mir noch etwas mehr Gedanken machen (mehr schreiben über meine Gedanken dazu) – möglicherweise bin ich aber auch schon etwas müde und habe versehentlich etwas zum besseren Verständnis übersehen.
     
    Danke auf jeden Fall, die Psychoanalyse, die Philosophie insgesamt halte ich auch für sehr wichtig, für einen wichtigen Aspekt in der vielfältigen Betrachtung der noch vielfältigeren Lebensmöglichkeiten/-welten.
     
    Abschließend, zunächst einmal wenigstens: daß die Psychoanalyse (sowie jegliches Denken zum Denken, gerade auch dem Denken anderer, hinterfragen, nachdenken, etc) von Fundamentalisten und sonstigen Anhängern starrer Dogmen abgelehnt wird, erscheint doch logisch.
    Wenn die Einfältigkeit zur ultimativen Wahrheit wird, dann wird alles andere zur „Lüge“.
    Und wenn wir schon bei „Verbrechern“ sind: finstere Machenschaften wollen nicht beleuchtet sein!
     
    Nocheinmal danke, weil ich schon denke, daß Dein Hinweis auf die psychoanalytischen Untersuchungen hinsichtlich von Phänomen wie „Haß“ wichtig sind.
    Andererseits, so erscheint es mir, wird es nicht trotzdem nur das „Vergnügen“ einer Minderheit bleiben, sich mit solchen Themen eingehender zu beschäftigen? Was kann die Minderheit aus dieser Minderheit sinnvolles tun, damit es irgendwelchen Bösewichten nicht gelingt, Massen von Menschen mit ihren Lügengeschichten zu ihrer Selbstzerfleischung aufzurufen?

  6. Hallo A.mOr,
     
    natürlich hast Du in allen Punkten Recht und ich stimme Dir zu, es ist schlicht so, wie Du sagst. Der Kontext allerdings, in dem ich die Psychoanalyse hier angeführt habe, ist ein anderer. Hier geht es um das Verstehen, um das Begreifen psychodynamischer Prozesse, die letztlich zu Realitäten führen, mit welchen wir tagtäglich konfrontiert sind, um das Ergünden menschlicher Destruktivität, das Erforschen der intraspezifischen Aggression, und dazu ist die Psychoanalyse ein unverzichtbares Instrument.
     
    Das ist auch der Grund, warum die Psychoanalyse, insbesondere von Rechts abgelehnt, vom Fundamentalismus jeglicher Couleur, sei er nun christlich, jüdisch oder moslemisch angefeindet, in ihrer Wissenschaftlichkeit delegitimiert wird: Man fühlt sich schlicht erkannt und durchschaut.
     
    Allein die Psychoanalyse aber ist geeignet, uns Psychodynamik verständlich, und damit den Ursprung von zum Beispiel Hass, und diesen in all seinen Ausprägungen und Derivaten zu erklären.
     
    Gebe ich Dir, nur ganz kurz, ein Beispiel:
     
    http://forum.hagalil.com/cgi-bin/a/show.pl?tpc=8&post=173675#POST173675

    Arno Gruen, in „Der Fremde in uns“ S 20 und S 137:

    Ob Volkermorde, Folter oder die alltägliche Erniedrigung von Kindern durch ihre Eltern – eines haben all diese Beispiele für Gewalt and Haß gemeinsam: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem «Fremden». Die Täter stufen sich selbst als «Menschen» ein, doch das Gegenüber verdient diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert. Es ist, als würde man sich durch diesen Vorgang selber reinigen. Indem man andere abtut and sie peinigt, befreit man sich vom Verdacht …

  7. Hallo jim,
     
    vielen herzlichen Dank für diese wertvollen Informationen!

    An einer Stelle zum Bedenken: zur Psychoanalyse & Co finden sich oft Menschen wegen anderer Nöte, als das von Dir als „Kerndilemma“ bezeichnete. In einem „Kreis“ unter Menschen kann auch ein „Kerndilemma“ der Auslöser sein für die seelischen Nöte einer anderen Person (so, wie der Stein, den ich gegen den Feind werfe, und der meine Lieben am anderen Ende der Welt trifft), tatsächlich aber sind die Ursachen der seelischen Nöte sehr vielfältig und unterscheidbar von dem von Dir angesprochenen „Kerndilemma“. Kann sein, daß Du dieses Faß nicht öffnen wolltest, aber ich möchte gerne vermeiden, daß die tatsächliche seelische Not der Klienten in der Psychoanalyse, -therapie & Co „bagatellisiert“ wird.
     
    Wenn ich noch etwas anderes aus den Zeilen herauslese? Scharlatane, überforderte Menschen, persönlich charakterlich ungeeignete Menschen für Dinge der Therapie, Beratung, dem Anspruch von Weisheit, etc., sie gibt es leider viel zu viele unter den „Psychos“, genauso, wie unter Mystikern, Rabbinern, Ärzten, die Liste ist lang, und zwar natürlich auch vor Etablierung der Psychoanalyse.
    Diese „Formel“, wie ich sie Arik im vorhergehenden Kommentar aufstelle: „je lauter, desto weniger vertrauenswürdig“, sie mag auch hier Anwendung finden.
    (Anderseits, natürlich, nicht jeder, der flüstert, spricht die Wahrheit…,
    und mancher Schmerzensschrei ist ein aufrichtiger Schrei aus Schmerz.)
     
    Noch eines, von Dir abgeschrieben: „…Liebe und deren Umwandlung in Hass.“
    Weiß gerade nicht, wer das sagte, es geht so: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern die Gleichgültigkeit“. Das hebt wohl nicht auf, was Du geschrieben hast, aber es ist ebenso weise.
     

  8. Hallo Arik,
     
    „Anbiederung“, wie ich erwähnte, ein wenig hart. Es könnte aber durchaus so herausgelesen werden.
    Die Sorge (zB „hau drauf“ oder plötzlich „kuscheln“), indes , ist sicher berechtigt. Beim Thema „Gemeinsamkeiten“ sollte man auch nicht übertreiben, das Schlüsselwort in dem Zusammenhang ist für mich: Akzeptanz.
     
    Gemeinsamkeiten kann man leicht finden, Gegensätze auch, entscheidend ist die Absicht desjenigen, der sucht.
    Zu einem sinnvollen Diskurs ist eben die Bereitschaft notwendig, den anderen nicht dominieren zu wollen.
    Es ist auch nicht so entscheidend, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, gemeinsam sollte nur die Bereitschaft sein, den anderen zu akzeptieren.
    Ansonsten ist die Eigenart einer Partei, einer Person durchaus förderlich für einen sinnvollen Diskurs.
    Wenn nach Verwaschungen, Vermischungen, Gemeinsamkeiten auf Biegen und Brechen gesucht wird, dann ist der Diskurs viel eher gestört (wie etwa in „multikulti“), als wenn man zunächst die Eigenheiten aller Gesprächsteilnehmer akzeptiert.
    Das ist sicher auch eine gute Empfehlung für den „Gartenzaun“.
     
    „Toleranz“ gehört für mich, leider, inzwischen zu einem der meist mißbrauchtesten Wörter im Deutschen.
     
    Und was das sonst übliche „hau drauf“ betrifft, oder die Dominanz-/Machtspiele der Parteien:
    genau diese Leute, die Hass säen, die spotten, die ausgrenzen, sind leider die lauten Leute.
    Je lauter, könnte man als Formel bemühen, desto weniger vertrauenswürdig.
    Mit dieser Formel freilich könnte man schon einen „leicht skeptischen“ Blick Richtung Medien oder Politik als Veranstaltung bekommen…
     
    Um es von dem Artikel herzuleiten: die Spiritualität des Sufiweisen, des Weisen also, ist sicher überhaupt nicht laut.

  9. Ja, Rumi ist sehr bekannt, wenngleich auch nicht besonders populär, was aber in der Natur der Sache liegt. Du kannst, wenn Du nach ihm googelst, auch eine ganze Menge finden.
     
    Diese Gedichte sind aus „Die Sonne von Tabriz“ bzw.,  dieses großartige Gedicht voller Weisheit: ‚Wohl endet Tod des Lebens Not‘ aus „Die Mauer des Herzens geht in tausend Wogen“. Ein Gedicht voller Wahrheit, worin im Wesentlichen, und das Jahrhunderte vor der Psychoanalyse, das Kerndilemma der Menschheit wunderbar auf den Punkt gebracht ist: Die Sehnsucht nach Liebe bei gleichzeitger Angst vor der Liebe und deren Umwandlung in Hass.
     
    Es freut mich aufrichtig, dass Dir diese Gedichte so sehr gefallen, sie sind in der Tat etwas Besonderes. Eine Entsprechung in jüdischem Denken und jüdischer Philosophie findest Du, von obigem Artikel einmal abgesehen, insbesondere auch bei Levinas und dessen Arbeit zum Verhältnis des „Ich“ zum „Anderen“.

  10. Hallo jim,

    Rumi, das ist ein sehr bekannter Sufi? Sind alle Zeilen (bis auf das erste Zitat) von Rumi?
    Es sind berührende Zeilen, die das Denken anregen, die das Herz anrühren. Weise Worte auch. Danke.

     

  11. Von „Anbiederung“ kann eigentlich keine Rede sein, jedoch im Kontrast zum sonst üblichen „Hau drauf“ erscheint schon die Erwähnung von Gemeinsamkeiten oder Toleranz verdächtig. Das ist was mir am meisten Sorgen macht, zur Zeit, in diesem Zusammenhang.

  12. »In diesem Bericht war es der Scheich, der den Rabbi auf Wegen mystischer Erfahrung leitete, durch den Garten und den Teich bis zu dem Eingang zum Heiligen des Heiligsten, zur Begegnung mit dem Göttlichen Selbst, widergespiegelt im göttlichen Namen.«

     
    „Für die, welche lieben, gibt es nicht Moslems, Christen, Juden.“
     
    „Bisweilen sind wir sichtbar, bisweilen verborgen, bisweilen Muslime, Christen oder Juden; wir durchlaufen viele Formen, bis unser Herz Zufluchtstätte für alle wird.“
     
    „Wohl endet Tod des Lebens Not,
    doch schauert Leben vor dem Tod.
    Das Leben sieht die dunkle Hand,
    den hellen Kelch nicht, den sie bot.
    So schauert vor der Lieb‘ ein Herz,
    als wie von Untergang bedroht.
    Denn wo die Lieb‘ erwachet, stirbt
    das Ich,
    der dunkele Despot.
    Du laß ihn sterben in der Nacht.“
     
    Djallaledin Maulana Rumi.

  13. eines noch, aus dem Text des Zvi Zohar die Zeile: „Ich habe den Herrn allzeit vor Augen“.
    Das ist mein eigenes Vergnügen, wie meine eigene Qual, es ist mein eigenes, meine eigene Sicht, mein Bewußtsein, meine Spiritualität, mein Recht.
    Niemanden muß ich meine Sicht aufdrängen, denn es ist einfach nicht möglich.
    Es ist doch leicht, das zu akzeptieren.
    Und so ist es auch leicht, wenn man will und es zuläßt, den anderen zu akzeptieren.
    Und so, wenn es sich ergibt, kann man miteinander sprechen.
    Der andere ist nicht besser oder schlechter, sondern ein Mensch wie ich.
    Mag sein, er ist anders, der Kultur nach, dem Charakter nach, und so weiter.
    Es ist nachvollziehbar, wenn dem Fremden mit Angst begegnet wird.
    Aber dem Fremden ist man selbst ebenso fremd.
    Bei aller gebotenen Vorsicht, nicht nur der Angst sondern auch des Respekts wegen, sollten wir uns bemühen unsere Angst zu akzeptieren, sie aber nicht über unser Bewußtsein stellen.
    Auf diese Weise lassen sich bestimmt nicht alle Schwierigkeiten beseitigen, aber zumindest helfen sie uns dabei.
    Wenn ich „den Herrn allzeit vor Augen“ habe, dann ist das ersteinmal mein privates, individuelles Erleben. Wenn ich das einfach so hinnehme, dann fällt es mir leichter auch bei dem anderen seine Privatsicht zu akzeptieren, dabei ist es nicht von Bedeutung, ob der andere religiös ist, oder eine andere Glaubensrichtung hat.
     
    Der Sufi mit seinen mystischen Erfahrungen und seinem Charakter, wie Zohar ihn über Farhi „zu Leben erweckt“ ist für mich sehr inspirierend.
    Allerdings -ein kleiner Privatausflug- ich selbst, kein Muslim, wurde von Freunden der Bahai-Glaubensrichtung mit dem Spitznamen „Sufi“ bedacht. Es waren also (ausgerechnet aus dem „muslimischen“ Iran vertriebene) Bahai, die mir zu dieser Bezeichnung für mein Leben eine gute Bedeutung mitgaben. So kann interreligiöser Diskurs funktionieren.

  14.  
    Akzeptanz ist der erste Schritt
     
    Ich möchte zugeben, daß mich an Zvi Zohars Text ein wenig die Anbiederung (um es etwas hart zu benennen) stört, und zwar die Anbiederung des Juden an den Muslim, genauso wie umgekehrt.
     
    Die Zeile „Kein muslimischer Gott, auch kein jüdischer Gott, der Gott jeder Existenz, der Schöpfer von allem.“ stört mich deshalb, weil sie eher Wunschdenken und Absicht ausdrückt (vielleicht gar „Verwaschung“), während eine konsequente Umsetzung eines solchen Gedankens bald unmöglich erscheint.
    Schon oft habe ich einen solchen Satz auch von Christen gehört.
     
    Tatsächlich aber beanspruchen die Muslime ihre „enge“ Sichtweise der Religion, genauso, wie die Christen ihre spezielle Auslegung haben. Nicht zu sprechen von der jüdischen Auslegung, die allerdings das „Ältesten-Recht“ hat.
    Ein gravierendes Problem im interreligiösen Diskurs sehe ich da, wo folgende Frage auftaucht:
    „wen hat Gott geheiligt als sein Volk?“
    Christen interpretieren „ihren“ Gott über den „König/Messias“ Jesus und das „Neue Testament“, und die Muslime interpretieren ihren Allah über die Prophetie des Mohammed, der mit dem Koran das „Geheiligte Wort“ weitergibt.
    Beide beziehen sich zwar auch auf die Tora und den Ahnen Awraham, integrieren sozusagen jüdische Lehre in ihre eigene, jedoch etwas spitzfindig könnte ich fragen, wer hat sie gerufen, um die ursprüngliche Lehre neu zu interpretieren?
     
    Dabei kann ich auch nicht den missionarischen Charakter der Glaubensrichtungen Christentum und Islam vergessen, der viele Menschen, und viele Juden darunter, das nackte Leben kostete.
    Wie also kann man trotzdem in einem Dialog treten und einen friedlichen Weg finden, der die sogenannten „Abrahamitischen Religionen“ nebeneinander akzeptiert?
     
    Gerade im jüdischen Religionsverständnis finde ich da mehrere Lösungen.
     
    Nehmen wir „Nächstenliebe“, diese ist, wie vielleicht nicht jedem bekannt, kein originär „christlicher“ (also von Jesus neu erfundener) Anspruch, sondern ein urjüdischer.
    Natürlich, könnte man meinen, hat der Jude Jesus gerade diese so wichtige Botschaft an unser menschliches Mühen ebenfalls hochgehalten. Und es gibt unter Muslimen ebenso religiös inspirierte Menschen, deren Ausrichtung eben nicht die Unterwerfung aller anderen Menschen ist. Diese unter den Christen und unter den Muslimen sollen unsere Ansprechpartner sein, wenn es um die Akzeptanz der verschiedenen Glaubensausrichtungen geht. Mag sein, das man frei formuliert „Er ist der Schöpfer von allem“, aber der Mensch lebt in seiner Vielfalt, er kann sich bekriegen oder er kann sich versöhnen, zumindest kann er sich akzeptieren.
     
    „Versöhnung“, „Nächstenliebe“ sind urjüdische Prinzipien, die sich leider nicht immer so einfach auf die menschliche Realität übertragen lassen, aber es ist an uns Menschen, „vor Seinem Antlitz“, uns darum zu bemühen; immer, für jeden Moment.
    Das darf auch gelten für alle Nichtgläubigen unter den Menschen oder für die Gläubigen anderer Richtungen, ob sie nun den Gottesbegriff kennen oder nicht.
    Im Kern, so glaube ich, ist das ein sinnvolles Bestreben, denn es bedeutet in der Konsequenz ein „besser“im Miteinander der Menschen.
     
    Noch ein Beispiel aus dem Jüdischem ist der Talmud, im Grunde nichts anderes als ein stetes Interpretieren und Auslegen der „Heiligen Botschaft“.
    Wenn wir also in aller Freundlichkeit ganz offen damit umgehen, dann könnte man diverse christliche wie muslimische Glaubensinterpretationen als „talmudische Bemühungen“ begreifen.
    Der Bezug christlicher wie muslimischer Gelehrter auf die Tora-Lehre kann also als Auslegungssache verstanden werden, die uns im interreligiösen Diskurs sogar helfen kann.
    Wir können in aller Freundlichkeit verschiedene Blickwinkel teilen und uns mit dieser „Mehrerkenntnis“ gegenseitig befruchten, bereichern, voranbringen.
     
    Warum reden wir miteinander, wenn wir uns nicht gegenseitig befruchten wollen?
    Was für einen großen Sinn hat ein Gespräch, wenn wir uns nur harte Argumente entgegenwerfen, die unnachgiebig und rechthaberisch „bis aufs Blut“ verteidigt werden, bzw. zu „wortgestalteten Schwertern“ mißbraucht werden: allzuschnell wird aus Wort Stahl, aus Stahl wird Leid und unnötiger Schmerz. Und daraus erwächst die uns nur allzugut bekannte „Spirale der Gewalt“.
     
    Eines ist klar, um „gute“ Gespräche miteinander führen zu können, darf keine der Parteien mit dem Anspruch beseelt sein, die anderen zu dominieren, zu unterwerfen.
    Akzeptanz ist der erste Schritt, der uns zu sinnvollen Gespräch führt.
    Um das Bild des Ritters, des Kavaliers zu bemühen: das Visier muß offen sein.
     
    Nun erwarte ich die Frage: wer beginnt?
     
    Das ist nicht immer leicht zu beantworten, man kann auch leichtfertig, gelassen entgegnen: „mal sehen…“
     
    In diesem Text aber, wie Zvi Zohar ihn uns zur Verfügung stellt, ist es ein Jude, der von einem Juden (Rabbi Yitzhak Farhi) schreibt, der seiner jüdischen Gemeinde von seiner Bewunderung gegenüber eines muslimischen Sufiweisen berichtet. Das, immerhin, ist ein sehr schönes Beispiel.
    Entgegen so mancher üblen Meinung Israel gegenüber, es ist eine urjüdische Haltung, die sich am Beispiel eines Farhi ausdrückt.
    Natürlich sind auch Juden nur Menschen, begehen Fehler, sind nicht ohne Fehl und Tadel: die Tora ist voll solcher Beschreibungen!
    Und deshalb war es ein „Christ“, der Jude Jesus, der genau dieses herausstellte, als er bei der Absicht eines Mobs sprach: „Wer von euch keine Schuld trägt, der werfe den ersten Stein!“
    Diese Aussage verrät große Weisheit und Freundlichkeit dem Menschen gegenüber, und es ist diese Weisheit, an die wir immer denken sollten, wenn wir einen anderen bei einem Fehler ertappen.
    Und es ist diese Weisheit, die uns Menschen helfen kann miteinander zu sprechen, weil wir uns als Menschen akzeptieren.
     
    Wer Haß sät, der hat sich offensichtlich nicht um Weisheit bemüht und macht sich schuldig an dem Menschen.
     
    Wer sich jedoch um Weisheit bemüht, der versteht, das „Liebe Israel“ nicht einfach nur auf „Israel“ bezogen ist, sondern auf jeden Menschen.
    Das ist urjüdische Weisheit, und es ist die Weisheit aller Weisen aller Völker und aller Kulturen.
     
    Der Ewige hat dem Menschen die Bürde der freien Entscheidung gegeben.
    Es ist nicht gerechtfertigt, wenn der Mensch andere für seine eigenen Verfehlungen anklagt.
    Wenn der Mensch einen Fehler macht, dann soll er aufrichtig reuen und seine Haltung verbessern, wenn der Fehler daher rührte.
    Der Mensch tut das in seinem eigenen Interesse, denn der Stein, den ich hier werfe, er wird am anderen Ende der Welt meine Lieben treffen.

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