Zum 175. Geburtstag von Mendele Moicher Sforim

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Am 2. Januar jährt sich der 175. Geburtstag des jiddischen und hebräischen Schriftstellers Mendele Moicher Sforim, der als Begründer der modernen jiddischen Literatur gilt. Der vorliegende Text von Sigfried Schmitz wurde zum zehnten Todestag des Schriftstellers in der Zeitschrift „Menorah – Illustrierte Monatsschrift für die jüdische Familie“, die zwischen 1923 und 1932 erschien, veröffentlicht. Mit dem Wissen um die Schoah, die nur wenige Jahre später das jüdische Leben in Osteuropa vernichten sollte, klingen die Worte daraus besonders eindringlich: Mendele Moicher Sforim sei „zur objektiven, künstlerisch-analytischen Erfassung des gesamten jüdischen Lebens seiner Zeit [gekommen], (…) aus der, wie einmal gesagt wurde, das jüdische Leben dieser Zeit genau rekonstruiert werden könnte, wenn von ihm auch keine andere Kunde erhalten bliebe als Mendeles Werk“…

Mendele Moicher SforimMendele Mocher Sforim
(Zu seinem zehnten Todestag am 8. Dezember)

Von Sigfried Schmitz
Erschienen in: Menorah, Heft 12, 1927

Vor zehn Jahren wurde der Schöpfer zweier Literaturen zu Grabe getragen. Schalom Jakob Abrahamowitsch, der unter dem Pseudonym „Mendele der Bücherkolporteur“ in der jüdischen Masse volkstümlich wurde, kann sprachlich und künstlerisch als der Begründer der neuhebräischen und der neuen jiddischen Literatur bezeichnet werden. In beiden Sprachen gab es selbstverständlich schon vor Mendele Mocher Sforim, dessen hauptsächliche literarische Tätigkeit in die zwei Jahrzehnte zwischen 1863, wo sein erstes Werk erschien, und die erste Hälfte der Achtzigerjahre fällt, Literatur, nicht nur, wie es gewöhnlich angenommen wird, religiös traditionellen, sondern auch profanen Inhaltes; dennoch hat erst das dichterische Werk des Mendele Mocher Sforim diesen beiden Literaturen die Wege zu ihrer Entwicklung gewiesen. Die Dichtungen von Bialik, Tschernichowsky, Schimonowilsch, welche die hebräische, die Werke von Perez Morris Rosenfeld, Schalom Asch, Scholem Alejchem, welche die jiddische Literatur zu einer über die Sprachen- und Volksgrenzen hinausreichenden Bedeutung brachten, wären nicht möglich ohne die Grundlagen sprachlicher- und künstlerischer Art, die Mendele Mocher Sforim geschaffen hat. Als er vor zehn Jahren die Augen schloß, war das jüdische Volk um eine der stärksten geistigen Potenzen, die es besaß, ärmer.

Wie bei so vielen Größen des Geistes, war das äußere Leben des Mannes, der die Entwicklung zweier Literaturen maßgeblich bestimmte, so wenig bewegt und so wenig romanhaft, daß es in kurzen Worten umrissen werden, kann. Schalom Jakob Abrahamowitsch wurde im Jahre 1836 in Kopyl, einem kleinen Städtchen in Litauen als Sohn einer achtbaren, wenn auch nicht vermögenden Familie geboren. Der Cheder und die Jeschiwoth in Wilna und Minsk bezeichnen den Bildungsgang der Kinderzeit des Dichters. Der Vater starb, als der Sohn 14 Jahre alt war. Ein sonderbares Erlebnis führte den 18jährigen Abrahamowitsch nach Wolhynien (er hat es später in seiner Erzählung „Fischke der Krumme“, allerdings dichterisch verklärt, wiedergegeben). Durch einen Mitbürger aus Kopyl, der unter dem Namen „Awrejmel der Schicker“ bekannt war, hörte der Jüngling viel von Wolhynien und Podolien, wohin damals gerade eine Art von Binneneinwanderung der Juden einsetzte. Auf die Anregung des erwähnten Awrejmel reiste der junge Abrahamowitsch mit einer Tante, die ihren verschollenen Mann suchen wollte, in diese Gebiete, die damals, noch vor der jüdischen Entdeckung Amerikas, eine Art gelobtes Land darstellten. Die beiden unerfahrenen Reisenden wurden von ihrem Begleiter weidlich ausgebeutet und nur durch einen glücklichen Zufall, der Abrahamowitsch in der Nähe von Kamenetz einen Jugendgespielen treffen, ließ, aus den Händen des Awrejmel gerettet. Unser Dichter ließ sich dann in Kamenetz nieder, und dort führte ihn der Verkehr mit dem Schriftsteller Gottlober in die Welt der ostjüdischen Aufklärung, der Haskalah, ein. Im Jahre 1856 wurde er Lehrer an der Kronschule in Kamenetz, an der auch Gottlober wirkte. Nach mehrjährigem Aufenthalt übersiedelte er nach Berditschew, der damals volkreichsten jüdischen Gemeinde dieses Gebietes, mußte aber die Stadt im Jahre 1869 verlassen, da ihm sein inzwischen erschienenes dramatisches Werk „Die Taxe“, in welchem er heftige Angriffe gegen die Mißstände im jüdischen Gemeindeleben richtete, förmliche Verfolgung einbrachte, der er nur durch die Übersiedlung nach Schitomir, dem Zentrum der ostjüdischen Aufklärung, entging. Dort lebte Abrahamowitsch als Schriftsteller und wirkte gleichzeitig als Lehrer an der bekannten jüdischen Schule der Stadt, um dann im Jahre 1881 Leiter der Gemeindeschule in Odessa zu werden. In Odessa floß sein Leben gleichmäßig, wenn auch von manchem Familienmißgeschick getrübt, bis zu seinem am 8. Dezember 1917 erfolgten Tode dahin.

In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens war Abrahamowitsch nur wenig schriftstellerisch tätig, er befaßte sich in dieser Zeit hauptsächlich mit der Umarbeitung seiner Dichtungen. Es sind ihrer verhältnismäßig nicht viel an Zahl, und doch stellen sie ein gewaltiges geistiges Werk dar. Im Jahre 1863 erschien, schon damals unter dem Pseudonym Mendele Mocher Sforim, Abrahamowilsch‘ erster jiddischer Roman „Dos klajne Menschale“ in der damals in Odessa erscheinenden jiddischen Zeitschrift „Kol-Mewasser“, welche eine Beilage zu dem bekannten hebräischen Organ des Haskalah-Publizisten Zederbaum, dem „Hameliz“, bildete. Neben einer Anzahl von Skizzen und kleineren Erzählungen hat Mendele in jiddischer Sprache einige Romane geschrieben, die zu den reizendsten erzählenden Werken der gesamten Literatur gehören.

In die Literatur überhaupt trat Mendele im Jahre 1860 mit einem hebräischen Werk ein, welches ebenso wie seine ersten jiddischen Werke nach Art der Aufklärung Erziehungsfragen behandelte. Das bekannteste seiner erzählenden hebräischen Werke ist der im Jahre 1868 erschienene Roman „Väter und Söhne“. Eine Anzahl seiner jiddischen Erzählungen und Romane hat Mendele selbst auch in hebräischer Sprache bearbeitet.

Es ist als besonders bezeichnend für das Wesen des Dichters anzuführen, daß er ein deutsches naturwissenschaftliche Werk ins Hebräische übersetzte. Denn auch als Dichter hat Mendele geradezu naturwissenschaftlich gearbeitet. Als er schriftstellerisch begann, war durch die Aufklärung, die Haskalah in die jüdische Masse des Ostens ein kultureller Gärstoff getragen worden, der für die damals einsetzende und bis heute eigentlich noch nicht abgeschlossene Tendenz auf Verbreiterung des traditionellen jüdischen Kulturinhalles nach der profanen Seite hin von starker Wirkung wurde. Um nun in dieser Gärung und Bewegung künstlerisch Bleibendes zu schaffen, bedurfte es eines wichtigen Faktors: der Fähigkeit, alle diese Tendenzen und Formbildungen in einer im wesentlichen unorganisierten Masse, wie es die jüdische war, als Ganzes zusammenzufassen. Der diese Fähigkeit besaß, mußte zum schöpferischen Genius einer Literatur werden, und Mendele Mocher Sforim besaß diese Fähigkeit. Wohl war er, wie alle geistigen Potenzen seiner Zeit unter den Juden des Ostens, im Kreise der Aufklärungstendenzen der Haskalah aufgewachsen. Er sah aber mehr als den Teil des jüdischen Problems, den der Aufklärer, der Maskil sah, und so kam er aus der satirischen Tendenz, welche seine ersten Werke kennzeichnet, zur objektiven, künstlerisch-analytischen Erfassung des gesamten jüdischen Lebens seiner Zeit, eben zu jener bereits als naturwissenschaftlich charakterisierten Gestaltung dieses Lebens, die ihn künstlerisch dem französischen Dichter Flaubert an die Seite stellt und aus der, wie einmal gesagt wurde, das jüdische Leben dieser Zeit genau rekonstruiert werden könnte, wenn von ihm auch keine andere Kunde erhalten bliebe als Mendeles Werk. Er spürte, was eben nur das schöpferische Genie spürt: die Wirklichkeit in ihrem immerwährenden Fluß, dem mit einseitigen Dogmen nicht beizukommen ist. Während die Haskalah von gnädig gewährten Rechten träumte, die gewissermaßen durch kosmetische Arbeit an der Judenheit erlangt werden könnten, sah Mendele die Wirklichkeit: eine unorganisierte jüdische Masse, in welcher jeder der von dem Dichter so köstlich beschriebenen Orte Tunedajewka, Glupsk, Kabzansk, deren Urbilder ja in der Wirklichkeit existierten, im Sinne ihrer Bewohner den Mittelpunkt der Welt bildet, einer Welt, die durch die fürchterliche Enge des Raumes unproduktiv und daher nicht von Dauer sein kann. Es ist gewissermaßen vorweggenommene Romantik, die aus Mendeles Werken spricht.

Diese schöpferische Tat einer Zusammenfassung des jüdischen Lebens seiner Zeit, wie sie in wahrhaft modernem dichterischen Sinne kein zweites Mal geglückt ist, gab die Grundlage für die nachfolgende, geradezu stürmische Entwicklung der jiddischen und hebräischen Literatur der späteren Jahrzehnte. Aber Mendeles Geist bewirkte mehr: seine sprachschöpferische Genialität schuf beiden Literaturen den sprachlichen Unterbau. Er fand zwei Sprachen vor, die eine, die jiddische, ebenso wie ihre Träger unorganisierte Masse an Formen und Ausdrücken für den Gebrauch des täglichen Lebens, die andere, die hebräische, im überlieferten religiösen Traditionsinhalt geradezu zur Erstarrung geheiligt und später durch die hebräische Schriftstellerei der Aufklärung in leblosen formalen Schwulst zerzogen; diese beiden Sprachen packte die kleine Hand eines in zartem Körper wohnenden Genies mit gewaltigem Griff, knetete und formte sie zu Instrumenten lebendigen dichterischen Ausdrucks. Er schweißte aus den Stilelementen der hebräischen Sprache, dem biblischen, dem talmudischen und dem von der Aufklärung geformten hebräischen Arabeskenstil, dem sogenannten melizischen Hebräisch, eine lebendige Literatursprache und hat so den Weg gewiesen, auf dem die Entwicklung des Neuhebräischen bis heute vorwärts geht. In der jiddischen Sprache nahm Mendele das Volkstümliche, Ursprüngliche, das nicht mit der Tendenz irgend welcher sprachlicher Abkehr zu den Weltsprachen verknüpft ist; er entnahm der an und für sich starker Nuancierung fähigen Sprache die Farbensteinchen, die seine musivische Darstellung bedurfte, und fügte sie zusammen, daß das Ganze ein Bild von intensiver Leuchtkraft ergab. Er schuf erst aus dem Volksidiom eine Sprache. Und wenn man sich in den europäischen Großstädten anläßlich der Gastspiele der Wilnaer jiddischen Theatertruppe darüber wunderte, daß das Jiddische wirklich den Eindruck einer Sprache macht, so ist dies nicht zuletzt Mendeles Werk.

So hat dieser Dichter zwei Literaturen schöpferisch befruchtet und ihnen Wege der Entwicklung gewiesen, die gerade in der letzten Zeit die ganze Welt auf ein neues Instrument in der Symphonie ihrer Kultur horchen ließen.