„Forscht nach Leo Holzer!“

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Leo Holzer, Karl und Maria Brandl-Krotzer, die Toleranz benachbarter Feuerwehrleute und das Wunder der privaten tschechisch-österreichisch-bayerischen Versöhnung…

Von S. Michael Westerholz/Deggenau

Fortsetzung – III. Teil 

 

E. Anna Maria Brandl-Krotzer

Anna Maria Brandl entstammte einer Bauernfamilie in Neurohlau im Kreis Elbogen. Sie hatte eine Schwester Anastasia, verheiratete Götz, die 2003 in Allersberg starb. Deren Tochter Ilse und ihr Mann Norbert Saurborn erinnern sich an die lebhafte Tante Anna Maria. Die war vom ersten Mann, einem Lehrer, geschieden worden, während ihr zweiter Mann früh starb. Einige Zeit hernach ehelichte sie den Niederaltaicher Ex-Pater Gunther OSB unter seinem weltlichen Namen Karl Krotzer. Da Krotzer bis an sein Lebensende seine Kontakte in das Kloster hielt, wurde er auch in dem Klosterort an der Donau beerdigt. Seine Witwe hingegen wurde in Auerbach begraben, wo auch ihr zweiter Mann ruht. Einem Ort immerhin, der die erste Gründung des zwischen 731 und 741 eröffneten Klosters war.

Saurborns haben sich in der alten Heimat gründlich umgeschaut: Acht Kilometer nordwestlich von Karlsbad liegt Neurohlau, das 1930 erst 1125 Einwohner hatte. 1942 entstand hier ein KZ-Nebenlager von Ravensbrück für Häftlinge, die in der hierorts jungen Keramikfabrik ausgebeutet wurden. Später war das KZ ein Nebenlager von Flossenbürg – und nach der totalen Niederlage der Deutschen Internierungslager für Deutsche, die nun nicht minder gequält und geschunden, erniedrigt und ermordet wurden wie die KZ-Häftlinge zuvor. Sie fanden das in den Nachkriegsjahren sehr herunter gekommene Bauernhaus mit Kolonialwarenladen ihrer Vorfahren, die zusammen bei sehr viel Arbeit ein ausreichendes Einkommen gesichert hatten. Und sie hörten aus den Erinnerungen ihrer Mutter und der Tante, dass die Großeltern sich den ab 1938 ins Land eingefallenen Reichsdeutschen und den Nazis widersetzt hatten.

Dafür gibt es interessante Anhaltspunkte und Indizien: Der Region entstammten und ihn ihr wirkten zumeist in enger Zusammenarbeit mit den Tschechen und den hierorts meist zahlreichen Juden engagierte Nachkriegsrepräsentanten der deutschen Seliger-Gemeinde. Diese, heute eng mit der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung verbunden, hatte sich gleich nach dem Krieg unter Verzicht auf eine gegenseitige Abrechnung der Versöhnung verschrieben.

  • Richard Lorenz, 1888 – 1959, Porzellanmaler, Gewerkschafter, Sozialdemokrat;
  • Roman Wirker, 1907 – 1987, Sozialdemokrat, ab 1933 Helfer der deutschen Emigranten,
  • Ex-KZ-Häftling Ernst Paul, 1897 – 1978, Mitgründer der sozialdemokratischen Jugend, Sozialdemokrat, nach der Vertreibung Mitglied des Deutschen Bundestages;
  • Franz Kunert, 1911 – 1990, Jurist, Emigrant in Schweden und dort zusammen mit Willy Brandt politisch aktiv;
  • Adolf Hasenöhrl, 1911 – 1989, ab  1933 Helfer der nach Tschechien geflüchteten deutschen Sozialdemokraten, KZ-Häftling, nach der Vertreibung Mitglied des Landtages Baden-Württemberg;
  • Artur Schober, 1913 – 1999, Widerständler, Sozialdemokrat, in Schweden ebenfalls im Umkreis Willy Brandts aktiv, in der noch jungen Bundesrepublik trotz der eigenen Nöte, nach der Vertreibung und dem Verlust des gesamten Vermögens wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, einer der aktivsten Helfer für Displaced Persons (DP). Das waren die unglücklichen entwurzelten Zwangsarbeiter und Ex-Kriegsgefangenen, sowie vor allem die jüdischen Überlebenden der deutschen KZ.

Alle diese Persönlichkeiten von großartigem Charakter und schier unglaublichem mitmenschlichen Engagement waren vor dem Einmarsch der Deutschen häufig in enger Zusammenarbeit mit den Tschechen politisch und parteipolitisch aktiv gewesen, unter anderem als Bürgermeister, Stadt- und Gemeinderäte, einige gar als Parlamentarier. Einige überlebten unvorstellbare Strapazen bei den KZ-Todesmärschen. Und es war die besondere Tragik einiger dieser Persönlichkeiten, dass sie in Schweden einen Plan entwickelten, durch persönlichen Einsatz in ihrer mährisch-böhmischen Heimat die bekannten Pläne des tschechischen Politikers und Nachkriegspräsidenten Dr. Edvard Benés (im Londoner Exil) zu unterlaufen, die die Vertreibung aller Deutschen in der tschechoslowakischen Republik vorsahen. Bei ihrer heimlichen Passage durch das von Deutschen besetzte Dänemark wurden diese Politiker von der Gestapo gefasst. Nur wenige Monate später begannen tschechische Banden mit der zu diesem Zeitpunkt des Jahres 1945 von den Siegermächten noch nicht beschlossenen Vertreibung, die völkerrechtlich nie legalisiert werden konnte, die mit grauenvollen Massenmorden einherging und nach mittlerweile immer zahlreicheren Massengräber-Entdeckungen erst seit wenigen Jahren auch in Tschechien zum Diskussionsthema geworden ist. Allerdings hat der Schriftsteller und Dichter Vaclav Havel als demokratisch freigewählter Präsident des Landes mehr als einmal öffentlich Abbitte geleistet für die Verbrechen der Vertreibung.

Was als „Benés-Dekrete“ bis heute das Klima vor allem zwischen organisierten Sudetendeutschen und misstrauischen Tschechen vergiftet, hatte eine Vorgeschichte: Zwischen 1939 und 1945 wurden rund 250.000 Tschechoslowaken Opfer der Deutschen – nicht nur der Besatzer. Eine Mehrheit von ihnen waren Tschechen. Benés Exilregierung in London erarbeitete von 1940 bis 1945 insgesamt 143 Dekrete, die ab Oktober 1945 vom ersten neugewählten Parlament in Prag gebilligt wurden. Nur acht dieser Dekrete betrafen die deutsche (und ungarische) Minderheit. Sie nahmen ihr alle Rechte, alles Vermögen, ihr Dasein im Lande. Und legalisierten, was gleich nach der Kapitulation der Deutschen mit der wilden Vertreibung und zahllosen Morden begonnen hatte.

Was da passierte, traf aber auch die Juden im Lande: Bei der letzten Volkszähling im Jahre 1930 hatten sich 40.000 Juden als Deutsche deklariert. Nur maximal 3000 von ihnen überlebten den Holocaust. Doch die wenigen Heimkehrer wurden – mit ganz seltenen Ausnahmen. Leo Holzer darunter,  – erbarmungslos aus dem Lande vertrieben. Die meisten mussten nun ausgerechnet im Lande der Täter Schutz suchen.

Anna Maria Brandl hatte Pädagogik, Sprachen und Theologie studiert. Bis zur erhofften Übernahme in den CZ-Schuldienst nahm sie zur Entlastung ihrer Eltern jede sich bietende Arbeit an, zuletzt eine Sekretärinnenstelle in Leo Holzers Firma. Im Gegensatz zu einer Mehrheit der Deutschstämmigen insgesamt hatten sich ihre Eltern, ihre Schwester und sie persönlich aus pragmatischen Gründen in dem neuen Staat Tschechoslowakei voll integriert, die Landessprache Tschechisch erlernt und sich von jeglicher Deutschtümelei ferngehalten. „Der Staat war ja nun Wirklichkeit geworden, ein völkerrechtlich anerkanntes Gebilde, in dem wir Deutsche eine Minderheit bildeten. Sicher gab es da anfangs massive Völker- und Grundrechtemängel, überwog bei den Tschechen ein ungezügelter Nationalismus – aber welchen Sinn machte es denn, sich gegen diesen Staat zu stemmen? Gewiss, noch kämpfte Kaiser Karl um seinen Thron, wodurch wieder und wieder Kämpfe aufflammten. Aber zu glauben, der neue Staat, in dessen Grenzen wir nun lebten, würde noch einmal aufgelöst, war doch reine Utopie. Genau wie jene, die überwiegend von Deutschen bewohnten Landesteile (und das gesamte Rest-Österreich!) würden endgültig dem Deutschen Reich zugeschlagen. Es waren vor allem Sozialdemokraten, die sich zu dem neuen Staat bekannten, so wie meine Eltern und ich – und sie begannen nun auch mit einer Politik, die auf lange Sicht die volle Gleichberechtigung der deutschen Minderheit bescheren und sichern sollte. Mir hat das imponiert!“

Sie war sich der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Mängel im neuen Staat durchaus bewusst. „Aber ich ging davon aus, dass sich auch hier ein gütliches Zusammenleben entwickeln würde. Dass sich Österreich und das Deutsche Reich zu Beiständern der deutschen Minderheit in unserem Land ernannten, dass von außen her immer wieder in das Land hineinzuregieren versucht wurde, empfand ich als krassen Fehler, ja als gefährlich. Es war unübersehbar, dass bei  Deutschstämmigen, aber auch bei Tschechen nicht Versöhnung auf der Agenda standen, sondern Hass und Auseinanderdriften!“

Den Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei und die Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ empfand sie als Völker- und Menschenrechts-Verbrechen. Sicher hatte der Staatspräsident ein dementsprechendes Abkommen mit Hitler-Deutschland unterschrieben – doch unter welchem grauenvollen Druck?! Anna Maria Brandl  verweigerte jegliche Kollaboration, versteckte ihren Chef Holzer einige Zeit, half Verfolgten und deutschen Emigranten, die nun eiligst das Land verlassen mussten. Sie ging schließlich in den Untergrund und wurde mit falscher Identität im Riesengebirge Lehrerin an einer geheimen Schule.

Trotzdem wurde auch sie 1945 von Tschechen gefoltert und schließlich im 6. Arrestuntergeschoss der Egerer Burg eingekerkert. Sie wurde vergessen – erst 1951 entdeckte ein tschechischer Offizier bei einer Inspektion der Egerer Kerker die ihm schon vor dem Krieg bekannte Anna Maria Brandl in dem dunklen Verlies. Er stammte aus dem Heimatdorf der Brandl, hatte die geheime Schule abgeschirmt und als Partisan gegen die Deutschen gekämpft. Er befreite die nun schwerkranke Frau, verschaffte ihr einen Erholungsaufenthalt in Marienbad und schickte sie dann mit einem viersprachigen Passierschein nach Bayern: Doch da solch ein Papier nie zuvor gesehen worden war, verdächtigten nun US-Verhör-Spezialisten Anna Maria Brandl als Spionin und sperrten sie neuerlich ein. Erst als einstige Landsleute durch einen Brandl-Kassiber über ihr Schicksal informiert wurden, den deutsche Wachen im Dienst der US-Besatzer aus dem Gefängnis geschmuggelt hatten, und als insgeheim sogar Prager Diplomaten ihre Geschichte bestätigten, wurde sie entlassen.

Anna Maria Brandl lebte mit ihrem dritten Mann, dem im chriistlich-jüdischen Dialog engagierten Theologen Karl Krotzer in Auerbach unweit Deggendorfs. Ihr Haus füllte sich vom Eingang bis unters Dach mit Büchern zahlreicher Wissenschaften. Stunden, ja ganze Tage konnten sie damit zubringen, sich gegenseitig über wissenschaftliche Neuigkeiten zu informieren, neue Thesen und Themen zu diskutieren und persönliche Standpunkte festzulegen. Ihren Mann nannte sie „meinen Hohen Herrn“, aber das hinderte Anna Maria Brandl-Krotzer nicht, eigene Standpunkte zu verteidigen, wenn sie erst einmal zu einer Festlegung gekommen war. Beide Eheleute schenkten sich in Diskussionen nichts – aber sie stritten nie; denn eine absolute Gemeinsamkeit war die gegenseitige Toleranz und jene für alle Mitmenschen – ausgenommen Extremisten. Unisono lautete eine ihrer Erkenntnisse: „Nicht einmal der Großverleger Axel Cäsar Springer steht so überzeugt und unerschütterlich hinter Juden und Israelis, wie wir!“ Eine Generalabsolution für Fehler israelischer Regierungen und für Straftaten jüdischer Mitbürger war damit nicht verbunden. „Glaube niemand, dass wir blauäugig sind!“

Die Eheleute starteten von Auerbach aus ihre Feldzüge gegen das Vergessen, gegen Intoleranz, gegen den zunehmend wiederauflebenden Antisemitismus, gegen kirchliche Sünden wider die Juden, die sich unbeeindruckt vom Holocaust wieder ausbreiteten, gegen den Einzug von neonazistischen Rechtsextremen in deutsche Parlamente.

In all den Jahren seit ihrer Befreiung hatte Anna Maria Brandl-Krotzer nach ihrem Ex-Chef und engem Freund ihrer Familie, Leo Holzer, gesucht, den sie 1940 letztmals gesehen hatte. Noch gab es keine Computer und kein Internet als Suchhilfsmittel, und hunderte Briefe in alle Welt verschickt brachten keine Klärung des Holzer-Schicksals. Angehörige, Freunde und der immens große Bekanntenkreis kannten die Geschichte Brandl-Holzer, und wer immer in das Nachbarland reiste, hörte ihre Bitte: „Forscht nach Leo Holzer!“  Das war schwieriger als gedacht, denn auch die böhmische Staatssicherheit war praktisch überall, hörte und sah ALLES!

Ihre Geschichte vom „LÄO“ war allgegenwärtig, ihr Satz: „Ich fühl´s – der Läo lebt. Fragt sich nur, wo?“ war zum Leib- und Magenspruch geworden. Mir trug Anna Maria Brandl sie exakt an dem Tag vor, an dem der Feuerwehrchef Stadler mir den Brief Holzers anvertraut hatte. Verbunden mit der Bitte, das Schicksal der Überlebenden von Theresienstadt im Deggendorfer Stadtarchiv zu klären und Holzer zu informieren.

Ich fand Unterlagen im Stadtarchiv, erwarb weitere beim Leo-Baeck-Institut in New York und in anderen, meist jüdischen Archiven. Stadler, der Holzer seit Jahren aus freundschaftlichen und Wettbewerbs-Begegnungen von deutschen, österreichischen und tschechischen Feuerwehren kannte, arrangierte im Sommer 1986 ein Treffen mit Holzer in Bad Ischl. Die nicht informierte Maria Brandl-Krotzer reiste aus Neugierde, weil sie das alte Kaiserschloss und das naheliegende „Franz-Léhar-Operettentheater“ besichtigen wollte, mit in den Kaisergarten in Bad Ischl – ich war sicher: Unser Feuerwehr-Holzer und Anna Maria Brandl-Krotzers Holzer sind identisch!. Es kam zu einer bewegenden Begegnung zweier Menschen, die in aller Not niemals ihre humanitären Ziele aus den Augen verloren hatten.

Als Leo Holzer im Januar 1989 starb, erlaubte die Prager Regierung seinen ausländischen Freunden, darunter Krotzer, Aschenbrenner und Stadler, die durch heftige Schneefälle schwierige Einreise zur Beerdigung in Prag inmitten chaotischen Verkehrs über die Bayer- und Böhmerwald-Pässe. Ungeachtet der Tatsache, dass unter den Ausländern, die in zahllosen Feuerwehrfahrzeugen anreisten, viele Kommunal- und Landespolitiker aller Parteien waren, blieb zwei Tage der Eiserne Vorhang offen, ruhte der Kalte Krieg und verneigten sich Diplomaten aus zahlreichen teils heftig verfeindeten europäischen Ländern vor einem toten tschechisch-jüdischen Weltbürger. Und jeder Redner, darunter für den Deutschen Feuerwehrverband der Passauer Aschenbrenner aus böhmisch-bayerischer Familie, erinnerte an das große Ziel Holzers: „Vergebung, Versöhnung, Frieden im zwischenmenschlichen und im staatlichen Bereich!“    

Quellen

Leo Holzers Brief an Ferdinand Stadler.
Klaus-Dieter Alicke: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (3 Bände), Gütersloher Verlagshaus, 2008
Seliger-Gemeinde und Friedrich-Ebert-Stiftung über Persönlichkeiten im Vorstand der Vereinigungen
S. Michael Westerholz: Schwindende Schatten Die schwierige Nachbarschaft von Bayern und Böhmen in DER SONNTAG, Beilage zum DONAUKURIER Ingolstadt vom 22./23. September 2007
Jüdisches Lexikon, unveränderter Nachdruck der Originalausgabe von 1927, vier Bände, hier Band IV/2
Freundliche Mitteilungen von Fam. Sauborn/Allersberg, Verwaltungsleiter der Gemeinde Auerbach, Robert Alfery, Ehrenkommandanten der Freiwilligen Feuerwehren in den Landkreisen Deggendorf und Passau, Ferdinand Stadler und Josef Aschenbrenner; Notizen zu meinen vielen Gesprächen und Diskussionen mit den Eheleuten Karl und Anna Maria Krotzer-Brandl sowie zu insgesamt vier Treffen mit Leo Holzer on Bad Ischl/Oberösterreich, im Sanatorium am Hausstein, Gemeinde Schaufling/Bayern, und in Brüssel/Belgien.
Leo Holzer: Aus der Feuerwehrgeschichte: Lagerfeuerwehr im KZ/Getto Theresienstadt  in Magazin der Feuerwehr (Nr.) 112/1985, Österreichisches Fachblatt
www.ghetto-theresienstadt, Theresienstadt 1941 – 1945, Ein Nachschlagewerk
Theresienstädter Studien und Dokumente No. 4 / 1997, publiziert vom Institut Terezinské iniciativy – Sefer, Jáchymova 3, Praha 1, CZ 
haGalil.com , Terezin: Theresienstadt, 2006