Hoffnung oder Gefahr: Religiöse Interpretation im israelisch-arabischen Konflikt

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US-Senator Daniel Patrick Moynihan sagte einmal: Jjeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“. Leider wird im arabisch-israelischen Konflikt die Religion viel zu oft missbraucht, um die jeweils eigene Position zu untermauern. So meinte einmal ein palästinensischer Vertreter, er müsse der Klagemauer jede jüdische Bedeutung absprechen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sogar historische Tatsachen umgedeutet werden. Ähnlich gefährlich sind rabbinische Aussagen, die die Vermietung von Wohnungen von Juden an Nichtjuden untersagen wollen. Auch hier wird zur Durchsetzung einer politischen Ideologie versucht, religiöse Aussagen zu verbiegen…

21-12-2010 / von Michael M. Cohen

Versuche, religiöse Argumente für politische Zwecke zu nutzen, sind ausserordentlich gefährlich, weil religiöse Aussagen, aus dem Zusammenhang gerissen, enorme Sprengkraft entfalten und die Dynamik des Konflikts in noch größere Dimensionen katapultieren können. Aus dem Zusammenprall zweier nationaler Bewegungen wird so ein Religionskampf, dabei besagt eine der deutlichsten Lehren der Geschichte, dass religiös aufgeladene Konflikte zu den am schwersten lösbaren gehören.

Dies liegt teilweise an der Ansicht, dass eine enge und wörtliche Auslegung der Schriften und der Theologie die wahre und einzige Stimme authentischer Religion sei. Die Mär von der „einen Stimme“ wird dann dazu benutzt, offenere und weniger starre Interpretationen zu unterdrücken. Trotz allen Lärms den die Vielen machen, die meinen, sie müssten im Rahmen des arabisch – israelischen Konflikts Partei ergreifen und sich Gehör verschaffen, sei daran erinnert, dass gerade die Aussagen der Religion, egal welcher Religion, auch eine Stimme für Ausgleich und Hoffnung sein können.

Im Judentum gibt es unter mehreren Strömungen eigentlich nur eine, die orthodoxe, deren Authentizität vom Staat Israel anerkannt wird. Doch entgegen verbreiteter Ansicht, gibt es sogar im Orthodoxen Judentum eine breite Vielfalt möglicher Lesarten. Die gilt ganz besonders für Fragen, die den Friedensprozess berühren.

Zum Beispiel die SchaS, die politisch einflussreiche Partei der sephardischen Orthodoxie, die schon früher einen territorialen Kompromiss mit den Palästinensern unterstütze, z.B. in der Regierung Rabin in den 90-er Jahren, als sie den Oslo-Prozess begrüsste. Obwohl die Schas, wie viele andere in der Gesellschaft, nach rechts gerückt ist, blieb sie in der Frage der Gebietsrückgabe flexibel. Flexibler als viele der anderen Parteien in Israel.

Wie erklärt dieSchaS (Schomrej-Torah Sefardim, Sefardische Torah-Wächter) ihre Bereitschaft zum Kompromiss?

Zusätzlich zum Gebot („der Ewige redete zu Moscheh in den Steppen von Moab, am Jarden“) ins Land Israel zu ziehen und dort zu wohnen (Num., BaMidbar, 33.53, Jischuw haArez), gibt es das Gebot Leben zu retten (Pikuach Nefesch, Levitikus, 18.5, Vajikra: „Und wahret meiner Satzungen und meiner Vorschriften, die der Mensch tue, dass er lebe durch sie. Ich bin der…“), das in der Lage ist, andere Gebote außer Kraft zu setzen. Es gibt nun eine Ansicht, die davon ausgeht, dass wenn Israel aus den palästinensischen Gebieten, die im Jahr 1967 besetzt wurden (Sechs-Tage-Krieg), abziehen würde, damit die Palästinenser einen eigenen Staat aufbauen können, dies ein Ende des militärischen Konflikts sei und dadurch Menschenleben gerettet werden könnten.

Im Gegensatz dazu sehen die Parteien, die den territorialen Kompromiss ablehnen, das Gebot der Besiedlung des Landes vorrangig zum Gebot Leben zu retten. Wie das Beispiel zeigt, kann man die Frage, ob der Rückzug Israels aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen als ein Fall von „Leben retten“ anzusehen ist, unterschiedlich beantworten.

Für die Rabbiner im Talmud war klar, dass zu jedem Text mehrere Interpretationen gehören. Der Talmud zitiert den Propheten Jeremia (23,29): „Ist nicht mein Wort wie Feuer?, spricht der Ewige; und wie ein Hammer, der Felsen sprengt?“. Woraus die Rabbiner schlossen, dass die Worte G’ttes unterschiedliche Aspekte haben und aus der Vielfalt von Splittern machten sie eine Analogie für „zahlreiche Lesarten eines einzelnen Textes“.

Im Talmud werden die Worte eines Rabbiners häufig mit den Aussagen eines anderen verknüpft, der eine andere Ansicht vertrat. Der Talmud (Eruvin XIII, b) berichtet von einer Stimme, die vom Himmel kam, als Widersprüche und Streit zwischen beiden Lagern immer hitziger wurde: „Diese und jene sind Worte des lebendigen G’ttes“!“ Dies bedeutet, dass trotz der unterschiedlichen Interpretationen beide Entscheidungen „Wort Gottes“ seien, die Unterschiede zwischen ihnen also integraler Bestandteil der Polarität eines heiligen Dialogs.

In der Regel folgte man ohnehin den Entscheidungen Hillels, der die versöhnlichere Haltung vertrat. Als Beispiel sei eine Entscheidung zum baldigen „Neujahrstag der Bäume“, einem jüdischen Feiertag, der Ende Januar gefeiert wird, zitiert. Hillel und Schammai debattierten über die Festlegung des Termins für den Feiertag, wobei sich Hillel versuchte, sich nach dem Willen der Mehrheit zu richten, um den G’ttesdienst so vielen wie möglich so leicht wie möglich zu ermöglichen.

Diese Lektionen sind wichtig, wenn es um die Rolle der religiösen Interpretation im arabisch-israelischen Konflikt geht. Auf der einen Seite können wir sehen, dass es keine einzige authentische Interpretation eines Textes gibt, dass vielmehr ein Prozess der Auslegung eine Vielzahl von Meinungen ermöglicht. Darüber hinaus lernen wir von Hilel, dass auch eine offene und nachgebendere Haltung unsere Schritte leiten kann.

Rabbi Michael M.. Cohen leitet zahlreiche Projekte im „Arava Institute for Environmental Studies“, einem Zentrum zur Ausbildung von Juden, Moslems und Christen zu Umwelt-Experten im Nahen Osten.

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