Seehofers Thesen zur Einwanderung – Das Boot ist voll, schon wieder.

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Flacht die Erregungskurve einer gut ausbeutbaren öffentlichen Debatte zu früh ab, darf man gewiss sein, dass einer kommt und neues Öl ins Feuer gießt. Einer wie Horst Seehofer. Im Gefolge der Sarrazin-Aufwallungen fällt es dem CSU-Vorsitzenden leicht, noch mehr verbale Wucht zu liefern, um Gehör zu finden…

Essen – WAZ – Leitartikel von Dirk Hautkapp – Die Furcht vor einer Parteigründung rechts von der Union liefert zusätzliche Legitimation zum rhetorischen Holzhacken. Vor diesem Hintergrund ist das bewusst unscharf gehaltene Plädoyer zu sehen, Deutschland müsse für bestimmte Kulturkreise – allen voran: Türken und Araber – die Schotten dicht machen. Das macht es aber nicht weniger töricht und verzichtbar.

Ausgerechnet an dem Wochenende mit der Das-Boot-ist-voll-Parole loszugranteln, als die Kanzlerin mit dem türkischen Premier erfreulich unfallfrei das verminte Integrationsfeld abschreiten sollte, ist mehr als eine stilistische Blutgrätsche unter Schwesterparteien. Es ist auch der gedankenarme Versuch, vermeintlich weit verbreitete Bauchgefühle eines Wahlvolks zu bedienen, anstatt den gewiss gewaltigen Problemen im Integrationsalltag Rechnung zu tragen. Dabei polemisiert Seehofer, nicht zum ersten Mal, wider besseres Wissen.

Dass Deutschland sehr wohl Zuwanderung „aus anderen Kulturkreisen“ benötigt, ist praktische Regierungspolitik. Im Koalitionsvertrag ist festgeschrieben worden, dass „die Attraktivität Deutschlands für Hochqualifizierte“ gesteigert werden muss. Also auch für die aus Ankara und Abu Dhabi.
Entlang dieser Linie argumentieren und handeln Arbeitgeber, Wirtschaftsverbände und Bundesagentur für Arbeit, wenn sie weltweit ausländisches Fachpersonal für den Standort Deutschland anwerben. Was schwer genug ist. Deutschland ist für global bewegliche Arbeitssuchende keine erste Adresse. Seehofers Personal-Protektionismus muss darum bis in die Konzern-Zentralen Kopfschütteln auslösen. Der Debatte über eine sinnvolle Zuwanderungs- und Integrationspolitik hat Seehofer vor allem mit seiner Tonlage einen Tort angetan.

Wie eine Rating-Agentur unseriöse Banken, so stuft Bayerns Ministerpräsident pauschal Türken und Araber herab. Argumente mit Tiefgang? Keine. Politische Hilflosigkeit pur.
Der Eindruck, beglaubigt durch den Chef einer Regierungspartei, ist fatal: Ausgerechnet in der Industrienation Deutschland, in der gut ausgebildete Menschen das wichtigste und knappste Kapital darstellen, sind qualifizierte Ausländer nicht mehr generell willkommen. Oder doch, Frau Merkel?

Konkrete Probleme, abstrakter Streit: Realitätsverweigerung in der Zuwanderungsdebatte

Berliner Zeitung – Wir waren schon weiter. Dass Deutschland jetzt darüber streitet, ob der Islam zu Deutschland gehört oder ob die Zuwanderung von Menschen aus dem „muslimischen Kulturkreis“ zu begrenzen sei, offenbart Realitätsverweigerung. Es gibt Hunderttausende muslimische Deutsche, die zu uns gehören. Gleichzeitig beobachten wir seit einigen Jahren den Wegzug qualifizierter Türken aus Deutschland. Die Zahl der Menschen mit ausländischem Pass sinkt. Hier das Gespenst einer muslimischen Überfremdung durch Zuzug an die Wand zu malen, wie es Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer tut, ist absurd.
Nicht einmal Thilo Sarrazin verlangt eine so pauschale Abschottung gegen Türken oder Araber, wenn er die unbestreitbaren Integrationsprobleme eines Teils der Migranten beschreibt. Hochqualifizierte Leute sind dem leidenschaftlichen Provokateurdurchaus willkommen in Deutschland. Sarrazin verlangt ebenso wie der Integrationsexperte und Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky ein System, dass Zuwanderung nach deutschen Interessen regelt. Das sagt auch Seehofer. Aber man kann nicht ernsthaft eine rationale Auswahl von Einwanderern fordern und gleichzeitig bestimmte Herkunftsstaaten pauschal ausschließen. Weder ist jeder Araber ungebildet noch ist jeder Türke Moslem. Bei einer Umfrage gab fast jeder zweite Berliner mit islamischem Hintergrund an, nicht religiös zu sein. Während wir seit zehn Jahren über das „Einwanderungsland“ Bundesrepublik zanken, sind wir ein Auswanderungsland geworden.

Die Frage drängt, was die versammelte Politik eigentlich unternommen hat, um endlich ein modernes Zuwanderungsrecht zu schaffen. Wo bleibt das Punktesystem, das es qualifizierten Ausländern erlaubt, sich hier niederzulassen? Wer streitet darüber, ob es Software-Ingenieure sein sollen oder Handwerker oder Krankenschwestern, die hierzulande den Fachkräftemangel bekämpfen dürfen? Wer arbeitet daran, die Berufsabschlüsse und Hochschuldiplome systematisch zu überprüfen und zu ermitteln, welche direkt anerkannt werden können und wo weitere Qualifikationen notwendig sind? So lange in Berlin gesuchte Krankenpfleger zum Beispiel aus Südafrika jeden Monat nach London fliegen müssen, um dort Kranke zu versorgen, weil sie in Deutschland nicht arbeiten dürfen, gibt es genug zu verbessern. Und wer glaubt, dass der Familiennachzug so leicht sei, möge bei der türkischen Friseurin nachfragen, die seit Jahren ihren Mann nicht nachholen darf, weil ihr Verdienst nicht ausreicht, um für zwei das Hartz-IV-Niveau zu erreichen.
Wir diskutieren nicht konkret, wer ins Land kommen darf oder soll, wie wir den Begriff des „Integrationsverweigerers“ definieren und was gegen solche Leute unternommen werden soll. Stattdessen beschränken wir uns auf abstrakte Bekenntnisse. Das ist das Drama der deutschen Zuwanderungs- und Integrationspolitik.

Befremdliche Performance

Neue Westfälische (Bielefeld) – Kommentar Nicole Hille-Priebe – Wenn jeder Deutsche eine Stunde in der Woche länger arbeite, brauche man die ausländischen Arbeitskräfte nicht – diese Worte stammen nicht etwa von Thilo Sarrazin oder Horst Seehofer, sondern von Ludwig Erhard. Als Bundeskanzler sorgte er so während der Wirtschaftskrise 1966/67 für Schlagzeilen. Damals zog die NPD gleich in sieben Landtage ein, 1968 holte die rechtsradikale Partei in Baden-Württemberg sogar fast zehn Prozent der Stimmen. Am 23. November 1973 verhängte die sozial-liberale Regierung einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Die Inflationsrate war auf sieben Prozent gestiegen, die Ölkrise hatte auch die Arbeitslosenzahlen in die Höhe getrieben.
Glaubt man den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, steht Deutschland wieder kurz vor der Vollbeschäftigung. Glaubt man den Prognosen eines Hans-Werner Sinn, befindet sich die deutsche Wirtschaft auf einem historischem Höhenflug. Glaubt man den Zahlen des statistischen Bundesamtes, ist die Zuwanderung nach Deutschland seit zwei Jahren konstant, nachdem sie von 2001 bis 2006 kontinuierlich zurückgegangen war. Eigentlich ist das keine Zeit für Sündenböcke – es sei denn, man ist Politiker und will die Zuwanderungsdebatte für die politische Performance nutzen.

Erst waren es zu viele Gastarbeiter, dann Asylberwerber, schließlich Aussiedler und jetzt wieder Muslime. Haben wir denn in den vergangenen 60 Jahren nichts gelernt?
Deutschland leidet weniger unter seinen Ausländern als an seinem eigenen mangelhaften Integrationsverständnis.
Unser Nachholbedarf als Einwanderungsland hätte seit Jahren mit erheblichen Anstrengungen in den Bereichen Bildung und Stadtteilpolitik verbunden sein müssen, doch die sind unter jeder Regierung ausgeblieben. Und in einem Land, in dem er nicht erwünscht ist, bleibt der Fremde sein Leben lang fremd.