Unter Eukalyptus und Mandelbäumen

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Fortsetzung der Briefe von Oswald L., die wir aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Kibbutzbewegung dokumentieren…

Daganiah, Oktober 1920.

So bin ich doch nach Daganiah gekommen, wie es immer mein Wunsch war. Seit Samstag vor Roschhaschanah bin ich da, ich muß es so sagen, da die europäische Zeitrechnung mir nicht zur Verfügung steht. Gegen Mittag, gerade in der größten Glut, fuhr mein Wagen in den Hof ein, auf dem außer mir noch Lina E., dann die Familie aus Daganiah saß, die mich so warm eingeladen hatte, und Kameraden und Kameradinnen, die uns von der Bahn abholten. Nachmittags war bereits eine Sitzung der Kwuzah, in der meine Aufnahme auf der Tagesordnung stand. Wie ich nachher hörte, war um mich ein scharfer Streit deswegen, weil ich nicht rücksichtslos auf dem Prinzip der Kwuzah stehe, wie sie hier organisiert ist, sondern geneigt bin, event. auch einem Moschaw owdim beizutreten, wie sie Elieser Joffe und seine Genossen planen. Wie der Streit ausgefallen ist, konnte ich nur daraus erraten, daß mich der Leiter abends fragte, ob ich morgen Sonntag arbeiten wolle.

Freudig stimmte ich ein und war morgens schon lange vor Sonnenaufgang auf den Beinen, um zur Arbeit bereit zu sein.

Bevor ich Dir von dem Inhalt meiner Tage seit meinem Eintreffen erzähle, möchte ich Dir ein Bild von Daganiah geben, soweit ich es vermag. Denn es ist zu schön, als daß ich es anschaulich machen könnte.

Der Hof liegt hart am Ufer des Kinerethsees und des Jordan, der hier den See verläßt, um nach Süden in vielen Windungen weiter zu fließen. Bei Tag liegt der See in tiefstem Blau da, ein Bild himmlischer Ruhe, die durch die weißen Segelboote nur mehr ins Bewußtsein tritt, wenn sie zeitweise von Tiberias herkommen oder hinfahren. Auf der einen Seite nach Osten steigt ganz sanft eine Bergkette hinan oder fällt zu ihm herab, als könnte sie es nicht sanft genug tun. So scheint es wenigstens bei Tag in der Sonnenglut.

Erst wenn die Sonne hinter den westlichen Bergen untergehen will, der Har Poriah schon ganz im Schatten liegt und über die jenseitige Höhe rosige Glut sich breitet, tauchen die Schatten auf und an ihnen erkennt man, daß es dort auch Klüfte und Riffe gibt und einzelne Kuppen, die jetzt das Antlitz des Hanges reizvoll beleben. Der Jordan selbst aber bleibt Deinen Augen verborgen, bis Du zu seinen Ufern heruntersteigst, über die sich dichte Eukalyptuswipfel neigen. Zwischen dem Wohngebäude und diesem Bild breitet sich ein umfangreicher Garten, der durch eine schöne Zypressenallee in zwei Teile geteilt ist. Auf der einen Seite Orangen- und Oelbäume, auf der andern eine noch junge Pflanzung von Mandel- und Eukalyptusbäumen, die weiterhin gegen den Jordan zu bereits wie ein kleines Wäldchen aussehen. Der Hof selbst umfaßt das Wohngebäude, zu dem von außen eine Treppe hinauf führt, um in einer Terrasse zu endigen, die ihr schöneres Gegenstück auf der andern Seite, dem See zu, hat, dann das Küchengebäude mit drei Küchenräumen, ‚dem‘ Speisesaal und Duschbad, und schließlich der Stall und andere Wirtschaftsgebäude.

Gegen Norden und Westen die Felder. Im Stall stehen 12 Maultiere und an 40 Stück Rindvieh. Im Hof ein Hühnerstall mit einer für mich noch unübersichtlichen Anzahl von Hühnern.

Bei den Kameraden muß man scheiden zwischen den Genossen und Arbeitern. Die ersteren sind durchwegs sympathische Menschen, zumeist vom harten Leben sehr ernst, wenn ihre Augen auch nichts von den Sorgen eines europäischen Bauern oder Geschäftsmannes verraten. Dann sind da noch Arbeiter, bis auf einen, A. D. Gordon, jung, kaum 20 Jahre alt, auch liebe Burschen und hierzu noch fröhlich und voll Lebenslust. Hier will ich gleich sagen, wie schwer es für diese Jungens ist, so fern von Mädchen ihres Alters zu leben. Einer bat mich heute so herzlich, ich möchte, wenn ich von jungen arbeitsfreudigen Mädchen wüßte, ihnen schreiben und sie herbescheiden zu den Jungens. Von den Frauen am Hof weiß ich noch nichts zu berichten. Unter ihnen ist eine, mit der ich hierherfuhr, und S.R., die einmal für die „Awodah“ in Aussicht genommen war, aber hier verheiratet ist. Bald wird auch Irma als Kindergärtnerin herkommen. — Die Frauen sind derzeit in der Küche, im Kuhstall und im Haushalt tätig, überdies ist am Hofe von der „Hadassah“ eine Art von Feldscherin zugeteilt, die einzige, die raucht. In der Küche und beim Melken ist außerdem noch je ein Mann, Gehilfe; die Wohnung ist derart geregelt, daß Ehepaare ein Zimmer haben, sonst aber Jungens und Mädchen zu dritt und viert je in einem Zimmer untergebracht sind. Ich habe vorläufig noch kein Zimmer, strebe auch nicht danach, da ich draußen auf der Terrasse in viel frischerer Luft schlafe. Für ein weiteres Ehepaar habe ich bisher noch kein Zimmer entdecken können. Aber selbst wenn wir bleiben, brauchten wir nur den geringsten Teil unserer Möbel, da ja gemeinsame Küche besteht.

Die Arbeit beginnt mit Tagesanbruch, dauert bis um 1/4 9 Uhr, unterbrochen durch eine ausgiebige Pause, beginnt schon um 3 Uhr und geht weiter bis Sonnenuntergang. Gewürzt ist sie durch eine glühende Hitze, so daß man von 10 Uhr ab alle Weile um einen Schluck Wasser geht, das in einem Faß aufbewahrt ist und in Europa verächtlich ausgespuckt würde, hier aber vortrefflich mundet. Die Arbeit, die ich bisher hatte, war sehr verschieden. Am ersten Tag: Stroh und Mist aufladen, abladen, Stall reinigen, nachmittags Olivenbäume d. h. die Erde ringsumher behacken. Am zweiten: Orangenbäume behacken, die schwerste landwirtschaftliche Arbeit hier, wie mir die Kameraden zugaben, und da passierte es mir auch, daß ich bereits eine Stunde vor Arbeitsschluß aufhören mußte, – weil mein Kreuz durchaus nicht mehr mittun wollte. Nachmittag erholte ich mich beim Pflügen und heute erst recht, als ich den ganzen Tag, nachdem ich 12 Fuhren Stroh hereingeschafft hatte, mit Gordon zusammen Oliven pflückte. Denke dabei aber nicht, daß wir viel sprachen, einiges zur Arbeit Gehörige und dann von „Jaakobs Traum“, den er von mir ausborgen wollte, und in dem er jetzt mir gegenübersitzend liest. Er spricht überhaupt nicht viel, geht ziemlich einsam umher, die Hände am Rücken verschränkt. Er wird von den Genossen ganz als Chawer behandelt, man neckt ihn auch gern, bringt ihn mit Debatten über Achduth-Haawodah und Hapoel-Hazair in Rage. Im übrigen war er es heute beim Olivenpflücken, der als erster auf den Baum geklettert ist.

Zu Roschhaschanah hörte ich ihn brummen, daß unter 25 Jungens kein einziges Gebetbuch zu finden sei. Als dann nach dem Nachtmahl ausgelassener Gesang und schließlich Tanz anhob, war er nicht mehr zu sehen. Wie ich diesen Abend und die zwei Feiertage verlebt habe, muß ich ein andermal erzählen, jetzt heißt’s schlafen gehen und den Brief schließen.

Ach, es gibt ja soviel zu erzählen, daß ich nicht aus noch ein weiß.

Daganiah, 9. Oktober 1920.

So komme ich endlich auch zu Euch, am sechsten Sabbath meiner Landung in Erez Israel, am 4. Sabbath meiner Dienstzeit in Daganiah. — Warst Du damals hier, am Südufer des Kinerethsees, dort wo der Jordan in einem wunderlichen schwungvollen Bogen aus dem Blau des Sees herausschnellt, um dann gleich in vielen Windungen zwischen Schilf und unter dem Schatten unserer Eukalyptusbäume südwärts weiter zu eilen? Schon manchmal, wenn ich in ihm badete und mühsam gegen die Strömung ankämpfte oder wenn ich nur beschaulich an seinem Ufer saß, frug ich: warum eilt er nur so, warum hast du’s so eilig? Ich erinnerte mich, von einem Gefälle gehört zu haben, das einmal von großer wirtschaftlicher Bedeutung für unser Land werden soll, ich hab’s nie recht geglaubt, hab es für eine jener Uebertreibungen gehalten, zu denen angeblich Erez Israel verleitet. Und da es meine eigenen Augen sehen, mag ich’s wieder nicht glauben und hab immer das Gefühl noch anderer Gründe und Zusammenhänge. Gestern war ich ihm auch dankbar für seine Klarheit, daß man ihm trotz des Strömens auf den Grund schauen kann. Da ist mir ein Ring vom Finger geglitten, und denkt Euch: ein Kamerad hat ihn gefunden. — Und vom See und von den Bergen wollt Ihr auch hören? Wie oft hab ich schon versucht, in Worten festzuhalten das Bild, in dem immer wieder meine Augen versinken, ihn zu zeichnen, wenn er ganz still in seinem tiefen Blau daliegt und sich von den Bergen kosen läßt, die, mögen sie noch so steil und schroff aufragen, dort, wo ihre Hänge dem Blau nahen, sanft werden, wie hingestreckte, hingegebene Hände; und ihn zu zeichnen, wenn weiße Segelboote über ihn gleiten, wie er am Morgen ist und wenn die Sonne im Zenith steht und wenn sie im Untergehen die Berge in hundert blumenduftende Farben kleidet. Ich muß mit Bleistift weiterschreiben, da ich die einzige Feder Irma S. (die vorgestern in Daganiah ankam) abgetreten habe.

Wie oft hab ich schon an E. denken müssen und die Geschichte: Die Segelboote heimkehren sehen, und an ihren Traum, den die Geschichte in ihr genährt hat. Ich kann es kaum glauben, wenn die Kameraden sagen, daß es hier bald noch schöner wird, wenn der Regen kommt, wenn alle Berghänge im frischen Grün aufblühen und tausende Blumen überall aufsprießen werden. Ich kann es mir kaum reizvoller vorstellen als jetzt, wo nur Licht und Linien Schönheit verbreiten. Könnt ihr mir’s glauben, daß mir noch keinen Augenblick bang nach den heimischen Wäldern und Wiesen war, ja daß ich sie fast ganz vergessen habe? Freilich ist ein Grund der, daß es mir hier an Bäumen nicht fehlt, daß ich unter Zypressen und Palmen, unter Eukalyptus und Mandelbäumen, entlang Oliven und Orangenbüschen wandeln kann. — In den Sandhügeln von Jaffa-Telawiw wäre es vielleicht anders geworden, obzwar es auch dort schön war. Aber es war ja doch nur Stadtkälte. Ich weiß nicht, was sich in Telawiw seit Deinem Dortsein geändert hat. Wahrscheinlich gab es damals nicht so viele Häuser, da ja vor meinen Augen Haus um Haus gegen das Meer und gegen Sarona zu im Entstehen oder Fertigwerden begriffen war, gab es noch kein Postgebäude, in dessen Garten abends feines Eis und Kefir und Limonaden verabreicht werden, gab es noch nicht den sogenannten Boulevard und gab es wohl keine Autoverbindung zwischen Telawiw und Jaffa usw. — Ich erwähne es, weil es Dich interessieren wird, aber offen gestanden, so gerne ich auch von verschiedenen Wohltaten Gebrauch gemacht habe, die ein Abglanz Europas sind, Eindruck hat es mir keinen hinterlassen und ich fühle mich hier bei meinem warmen Wasser wohler, als beim Eiskaffee in Telawiw. Dort hat mich auch die Politik, das Erzählen von den verschiedensten Verwaltungsmißständen zu sehr verwirrt. Nur das Eine, erinnere ich mich, hat mich stark bewegt: daß ich dort wirklich überzeugt wurde, daß das Hebräische unter der Judenschaft von Palästina eine herrschende Sprache ist, daß man ohne sie jetzt ein losgelöstes Blatt vom Stamme und auf die Dauer ohne Existenzmöglichkeit wäre. Ein Beamter ohne Hebräischkenntnis in Wort und Schrift ist heute undenkbar. Hat man z. B. zu Deiner Zeit bei der Anglo-Palestine Bank die Bücher hebräisch geführt? Hat man hebräische Rechnungen und Bestätigungen über Rechtsgeschäfte bekommen? Heute ist das jedenfalls eine Selbstverständlichkeit. Wie gesagt, es genügt nicht einmal, nur sprechen zu können, sondern man muß auch in der Schrift (natürlich auch im Lesen von Geschriebenem) gut bewandert sein. Für Regierungsbeamte ist natürlich auch Englisch erforderlich.

Ich fand die Widmung in der Bibel, die Du mir geschenkt hast. Schon ein paarmal hab ich sie wieder gelesen und immer wieder haben mich die wenigen Worte bewegt, in denen Du Deine Sehnsucht und Deinen Wunsch zusammengeballt hast. Schilt mich nicht hart, wenn ich Dir heute darauf erwidre: bei dem langen Spielraum, den Du Deinem Kommen gesetzt hast und der eigentlich jetzt ganz im Verhältnis zur herrschenden Lage steht, liegt es nur an Dir, Dir den Weg zu bereiten, Dich und die Deinen reif zu machen für den einstigen Aufbruch. Solange ich nicht weiß, wann Du kommen kannst, solange Du Dir nicht nüchtern klar geworden bist über eine bestimmte Arbeit, die Du hier verrichten willst, und die Vorbedingungen hierzu erfüllt sind, glaube ich, kann ich keine Schritte für Dich unternehmen. Angenommen, Du wolltest in 5 Jahren kommen, kann ich Dir für diese Zeit sagen, wie sich die Verhältnisse entwickeln werden, kann Dir irgend jemand für diese Zeit einen Platz sichern? Auch fand ich noch keine Gelegenheit, mit entsprechenden Personen über Deine Sache zu sprechen, da diese Leute ja in Jerusalem sitzen, wo ich noch nicht war. . .

–> Fortsetzung

Die Briefe wurden erstmals in der von Martin Buber herausgegeben Zeitschrift “Der Jude”, Heft 7, 1921/1922, veröffentlicht. Einleitend heißt es dazu: “Die nachstehenden Briefe an Verwandte und Freunde stammen von Dr. Oswald L., einem geborenen Karlsbader, der, als Konzipient in Wien tätig, den Entschluß faßte, als landwirtschaftlicher Arbeiter nach Palästina zu gehen, sich der sozialistischen Genossenschaft “Awodah” anschloß, sich (…) praktisch ausbildete und im Sommer 1920 zu Schiff ging. Seine Frau Ella folgte ihm im Dezember. Er arbeitete in der ersten Zeit in Daganiah A, in der Kwuzah A. D. Gordons, von dessen wirkender Gegenwart man in den Briefen etwas verspüren wird.”

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